Morgengedanken
Sonntag, 19. 05. 2002. 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
ORF Regionalradios
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios
von
Superintendent Werner Horn, Wien
Sonntag, 19. Mai 2002
Du steigst in ein rollendes Gefährt
und verschwindest in einem dunklen Loch. Erschreckende Gestalten
tauchen unerwartet in der Finsternis vor dir auf, grinsen dich an,
greifen nach dir. Kaum bist du der einen entronnen, fletscht die nächste
die Zähne, um dich zu erschrecken und unter markerschütterndem Gelächter
und Gekreische hinter dir wieder in der Dunkelheit zu versinken.
Das Erschrecken in der Geisterbahn ist
gewollt. Die Gänsehaut, sofern sie überhaupt auftritt, ist mit der
Eintrittskarte bezahlt. Das Gruseln ist gesucht. Der wohldosierte
Schauer, der über den Rücken läuft, ist erwünscht.
Ängste und Erschrecken, die das tatsächliche
Leben bereithält, sind dagegen aus einem anderen Stoff. Und wer
ihnen begegnet, hat sie selten freiwillig gesucht. Das ganze Leben
eine Geisterbahn, wo hinter der nächsten Kurve neues Entsetzen
lauert, kaum dass man die letzten Alpträume überwunden hat?
Für manche Menschen ist das in der Tat
so. Sie sind getrieben und beherrscht von zahlreichen fassbaren und
nicht fassbaren Ängsten. Dunkle Mächte, böse Geister: mehr
Menschen als unsere aufgeklärte Zeit uns meinen lässt, glauben
daran.
Als Christ frage ich mich, wes Geistes
Kind ich eigentlich bin. Fühle ich mich dunklen Gewalten hilflos
ausgeliefert? Ist mein Leben gelenkt von außerirdischen Geistern, Mächten
und Kräften oder auch nur von einem blind wütenden Schicksal?
Das heutige Pfingstfest erinnert mich
daran, dass mich der gute Geist Gottes in meinem Leben begleitet,
und gerade deshalb glaube ich nicht an böse Geister. Das Leben ist
für mich keine Geisterbahn, weil ich glaube, dass hinter allem der
gute Geist Gottes steht.
Montag,
20. Mai 2002
Kennen
Sie eigentlich die Geschichte Ihres Vornamens? Wie ist es dazu
gekommen, dass Sie so und nicht anders heißen?
Fast
jeder Name hat eine Geschichte. Eltern und Angehörige machen sich
viele Gedanken, bevor sie den Namen für ein Kind gefunden haben. So
einen Namen hat man ja fürs ganze Leben. Und außerdem: Namen sind
nicht nur irgendwelche Worte.
Von manchen wissen wir, was sie
bedeuten. Aber was noch mehr zählt: Wir haben Erfahrungen gemacht
mit Menschen, die diese Namen tragen. Wenn sie gut waren, dann mögen
wir auch die Namen. Waren es schlechte Erfahrungen, haben wir auch
oft mit dem Namen Probleme. Manchmal ändert sich auch plötzlich
unser Verhältnis zu einem Namen.
„Ich
habe dich bei deinem Namen gerufen“ (Jesaja 43,1). Diese Worte lässt
Gott vor langer Zeit dem Volk Israel sagen. Mitten hinein in eine jämmerliche,
ausweglose Situation lässt Gott diesem Volk sagen: Du musst dich
nicht länger fürchten. Ich bin für dich da. Ich mache dich frei
von allem, was dich quält. Ich kenne dich und rufe dich mit Namen.
Bei mir bist du geschützt und geborgen.
Viele
haben seither dieses Wort auch auf sich selbst bezogen und gespürt.
Mein Name mag vielen gleichgültig sein, aber er klingt auf jeden
Fall gut in den Ohren Gottes. Ich wünschte, jeder Mensch würde
heute Morgen seinen Namen hören, ausgesprochen von jemandem, der
ihn liebt.
Dienstag, 21. Mai 2002
Ich habe mir einmal vorgestellt, die
Zeit wäre eine Person. Seitdem sehe ich viel deutlicher, wie ich
mit ihr umgehe. Ich sehe, wie sie mir davonrennt, und ich renne
hinterher. So viel hatte ich mir vorgenommen, aber die Zeit schüttelt
den Kopf und sagt: „Nein, das passt nicht alles auf meine
Schultern.“ Dann läuft sie los und ich hinterher. Und im Laufen
versuche ich, ihr noch etwas aufzubürden. Sie schüttelt es aber
ab. Das ärgert mich, und ich rufe ihr zu: „Warte doch! Mein Herz
rast und ich bekomme keine Luft mehr. Du machst mich noch krank.“
- Die Zeit aber antwortet: „Ich mache dich nicht krank. Das bist
du selbst. Warum kannst du nicht so leben, dass es für uns beide
gut ist?“
Wie eine ständige Begleiterin ist die
Zeit. Wenn ich schlafe, entfernt sie sich etwas, aber meistens nicht
weit. Kaum werde ich wach, ist sie schon wieder da. Oft bringt sie
am Morgen schon etwas mit, was auch noch von mir bedacht und getan
werden soll. Dabei habe ich selbst schon genug vorgesehen für
diesen Tag.
Ein
mir Bekannter lebte in einem ständigen Kampf mit der Zeit. Bis ein
schwerer Herzinfarkt sein Leben bedroht hat. Aber er ist noch einmal
davongekommen. Als ich ihn fragte, wie es ihm geht, sagte er: „Ich
tanze mit der Zeit. Früher hatten wir uns im Würgegriff, aber nun
tanzen wir zusammen.“
„Ich
tanze mit der Zeit.“ Vielleicht ist das ja die beste Art, mit ihr
umzugehen. Ich muss nicht immer selbst führen, ich kann mich auch führen
lassen.
Mittwoch,
22. Mai 2002
„Und immer wieder geht die Sonne auf,
denn Dunkelheit für immer gibt es nicht...“, heißt es in einem
alten Schlager.
Es
stimmt: wir leben auf diesem Erdball davon, dass es immer wieder
hell wird, dass immer wieder die Sonne aufgeht. Besonders in dieser
Jahreszeit genießen wir es, dass es jeden Morgen ein bisschen früher
hell wird und abends länger hell bleibt.
Und
immer wieder geht uns die Sonne auf, „denn Dunkelheit für immer
gibt es nicht...“ Gibt es nicht? O doch! Dunkelheit für immer
gibt es. An vielen Orten und in vielen Menschen dieser Erde scheint
es für immer dunkel geworden zu sein. Das sind Orte, an denen
Menschen auch den letzten Rest ihrer Menschlichkeit verloren haben,
wo nur noch blankes Entsetzen herrscht oder monotone Verzweiflung.
Jeden Tag gibt es Menschen unter uns, für die, die Sonne eben nicht
mehr aufgeht - ob sie nun sterben oder ob etwas in ihnen für immer
stirbt.
Und
doch fängt jeder Tag beharrlich wieder damit an, dass es draußen
heller wird, dass das Licht kommt. Das ist so seit Menschengedenken
bis heute. Es bleibt nicht dunkel, auch heute nicht.
Und
auch die andere Erfahrung kann ich machen, die der Prophet Jesaja
(8,23) so ausgedrückt hat: „Es wird nicht dunkel bleiben über
denen, die in Angst sind.“ Bei Gott gibt es keine endlose
Dunkelheit. Sein Licht für uns reißt nicht ab. So ist mir jedes
Morgenlicht ein Zeichen Gottes, dass er mir nahe ist auch an diesem
Tag.
Donnerstag,
23. Mai 2002
Unsere Hände - wie wichtig sind sie!
Wir arbeiten mit ihnen. Sie sind aber auch der Spiegel unserer
Seele. Hände zittern, wenn wir Angst haben, sie werden feucht oder
kalt, wenn wir aufgeregt sind. Sie sind verräterische Begleiter,
zeigen unsere Emotionen auch dann, wenn wir meinen, sie geschickt
verborgen zu haben.
Manche
Menschen setzen Hände ein, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
Wer sich beispielsweise in Italien im Straßenverkehr oder sonst wo
vermeintlich oder tatsächlich unangemessen verhalten hat, wird die
Gestik der schockierten Einheimischen kennen lernen. Man braucht die
Sprache nicht zu verstehen, die Hände sagen alles.
Wenn
etwas dem Schöpfer besonders schön gelungen ist, dann sind es die
Hände. Mit ihnen schaffen und wirken wir, drücken Gefühle und
Gedanken aus, sind zärtlich oder feindselig. Die Kunst, die Musik,
sie könnten ohne des Menschen Hände nicht sein. Wer einmal einen
Musiker beim Spielen eines Instruments beobachtet hat, spürt diesen
Zauber der Hände. Wie lebenswichtig sind die Hände des Chirurgen,
der durch sie das Leben zu retten vermag.
Auch
die Bibel weiß von der Bedeutung der Hände. Sogar von Gottes Händen
ist in ihr die Rede. „In deine Hände befehle ich meinen Geist.“
Diese Worte aus dem 31. Psalm (31,6) hat Jesus am Kreuz gesprochen
und damit zum Ausdruck gebracht, dass er sein Leben und Sterben ganz
in die Hände Gottes legt. Wohl dem, der das heute kann.
Freitag, 24. Mai 2002
„Wenn man nicht alles selber macht,
dann wird nichts draus. Verlassen kann man sich letztlich nur auf
sich selbst!“ Da hatte man alles genau vereinbart, aber geklappt
hat am Ende nichts. So blieb dann nur noch die resignierte
Feststellung: „Man kann sich auf niemanden verlassen - außer auf
sich selbst!“
Aber
kann man sich auf sich selbst überall und in jeder Situation
verlassen? Klaffen nicht auch bei jedem Wollen und Vollbringen oft
auseinander?
Irgendeinem Menschen wollte ich ein
paar Zeilen schreiben - mich bedanken oder ihn beglückwünschen zu
seinem Mut, den er in schwieriger Situation bewiesen hat. Aber immer
wieder verschiebe ich es. Eines Tages höre ich: jener mutige Mensch
ist gestorben. Die Herzattacke war tödlich. Ich habe eine Möglichkeit
versäumt. Ich war mir selbst nicht verlässlich genug.
Erfahrungen
dieser Art sind schmerzlich, aber auch heilsam. Es ist gut und
richtig, sich selber einzugestehen, dass wir uns doch nicht immer
und überall auf uns selbst verlassen können. Wir Menschen neigen
dazu, uns über uns selbst zu täuschen. Mit den anderen dagegen
gehen wir härter ins Gericht und beklagen uns schnell über ihre
Unzuverlässigkeit.
Erfahrungen,
die unsere eigene Verlässlichkeit in Frage stellen, sind bitter.
Doch sie können uns daran hindern, nur uns selbst als verlässlich
und die anderen eher als unzuverlässig anzusehen. Wer weiß -
vielleicht wäre das sogar der Anfang eines besseren Verständnisses
der anderen.
Samstag,
25. Mai 2002
„Wenn
andere klüger sind als wir, das macht uns selten ein Pläsier. Doch
die Gewissheit, dass sie dümmer, erfreuet uns fast immer.“
Wilhelm Busch bringt es auf den Punkt.
Dieser
Mechanismus funktioniert fast überall: täglich in vielen
Klassenzimmern, vor allem jetzt - so kurz vor den Zeugnissen. Aber
nicht nur da: auch in Büroetagen, in Werkstätten. Überall
herrscht reges Interesse, Leute zu finden, die wenigstens ein ganz
kleines bisschen dümmer sind als wir.
Der
Apostel Paulus findet dieses Klugheits-Getue ziemlich dumm.
„Haltet euch nicht selbst für klug!“ schreibt er (Römer
12,16). Klugheit ist sicher eine gute Gabe Gottes. Aber: Klugheit
allein reicht noch nicht. Selbst wenn wir so klug wären, um alle
Geheimnisse der Welt zu durchschauen, zu erklären, und hätten
keine Liebe, dann wäre das alles ohne Wert. Klugheit ohne Liebe
macht gerissen.
Die
menschliche Klugheit bringt sicher einiges zuwege: Wohlstand zum
Beispiel. Sie erdenkt sich immer neue Möglichkeiten, um noch mehr
zu produzieren und mich zu noch mehr Konsum zu verführen. Die
Kehrseite davon aber ist, dass wir immer schneller und mehr
arbeiten, ungesünder leben, immer weniger Zeit haben. Die Kehrseite
ist, dass Ehen zerbrechen, Kinder seelisch verwahrlosen und das
Miteinander zu einem Gegeneinander wird.
Ich
bekomme mehr und mehr Angst vor dieser Art von Klugheit, die
letztlich krank macht. Wir sollten wieder eine Klugheit erlernen,
die die Liebe wiederentdeckt, die Liebe zu den Menschen, zu den
Tieren, zur Natur - und zu Gott.
Vielleicht
passt diese Art von Klugheit nicht so reibungslos in unsere
bisherigen Lebens-Pläne - aber ich bin sicher: sie bekommt uns und
unserer Welt auf Dauer besser.
|