Morgengedanken

Sonntag, 02. 06. 2002. 6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
ORF Regionalradios
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios

 

 

 

von Pfarrer Alois Luisser, Jennersdorf

 

Sonntag, 02. Juni 2002

Für mich als Pfarrer in einer lebendigen Gemeinde wird es heute mit Sicherheit zu schönen Begegnungen kommen. Ich begegne auch während der Woche vielen Menschen auf meinen Erledigungswegen zur Post, zur Bank, ins Lebensmittelgeschäft, ins Altenheim und auch bei meinem täglichen einstündigen Marsch in Gottes freier Natur. Unser Pastoralassistent und ich haben uns vorgenommen, bei unseren Wegen “Streetwork” zu tun, das heißt, wir wollen stehen bleiben, die Leute anreden, sie fragen wie es ihnen geht, was sie Schönes erlebt haben, was sie traurig und betrübt macht und dann wollen wir uns ihrer auch annehmen. Nicht fragen, wie geht es dir, dann aber gar nicht aufmerksam zuhören, geschweige denn, ihnen auch zu helfen. Man kann es sich dann nicht aussuchen, wem man begegnet und das ist das Wertvolle. Man trifft auf Menschen, die nie ins Pfarrhaus kommen würden. Wir reden Menschen an, an denen man vielleicht schon oft vorbeigegangen ist, man hört, dass diese Frau schwer krank ist, jener Mann einen Unfall hatte.

Begegnungen haben einen tiefen Sinn, dass wir uns in die Augen schauen und dass wir den seelischen Pulsschlag des Gesprächpartners deuten können.

 

Montag, 03. Juni 2002

Vor drei Wochen habe ich Besuch gehabt von zwei ehemaligen Straßenkindern aus Bukarest. Sie hatten sich vorher angekündigt, auch höflich nachgefragt, ob sie kommen dürften und auch geduldig meine Einladung abgewartet. Vor sieben Jahren war ich namens der österreichischen Caritas in Bukarest bei den Straßenkindern tätig. Zusammen mit anderen Österreichern versuchten wir die Kinder und Jugendlichen aus den Kanälen am Nordbahnhof und von den Straßen in geschützte Wohngemeinschaften zu bringen. Es war eine mühevolle Arbeit. Aber jetzt, durch den Besuch der beiden, habe ich auch feststellen können, welch wertvolle Arbeit wir an den ehemaligen Straßenkindern geleistet haben. Haben die ein Benehmen – höflich, zuvorkommend, hilfsbereit – alles noch so, wie sie es in ihren Gemeinschaften damals gelernt haben. Ich bin über diese Begegnung sehr glücklich. Diese zwei Burschen, die jetzt beide berufstätig sind, auf eigenen Beinen stehen, selbst für Lebensunterhalt und Wohnung sorgen, haben bewiesen, dass es sich lohnt, Kindern viel Liebe zu schenken, ihnen ihre verlorene Menschenwürde zurückzugeben. Sie leben auf, sie wissen es zu schätzen, dass sie Glück gehabt haben, indem ihnen Menschen begegneten, für die sie kein Abfall, sondern Ebenbilder waren.

 

Dienstag, 04. Juni 2002

Waren Sie schon einmal im Gefängnis? Meine Frage ist zweifach zu verstehen. Im Gefängnis als Häftling, dann werden Sie mich jetzt besonders gut verstehen, oder im Gefängnis als Besucher, als Betreuer, oder auch als Angehöriger eines Inhaftierten.

Ich betreue, besuche und korrespondiere zur Zeit mit einem Häftling. Er ist jung, er war sehr dumm, so sagt er selbst, dass er diese Tat begangen hat. Diese Einsicht macht meine Besuchs- und Briefkontakte zu ihm so schön. Ich muss ihn nicht mehr vom Unsinn seiner Tat überzeugen. Dieses Ziel der Erkenntnis und der echten Reue hat er bereits in der U-Haft erreicht. Er hat längst erkannt, dass er die schönsten Jahre seines Lebens, nämlich seine Jugend, wie schmutziges Wasser auf die Straße gegossen hat. Er hat längst erkannt, dass er diese Jahrzehnte im Gefängnis nur übersteht, indem er sich total bessert, seinem Leben einen wirklichen Sinn gibt, indem er einen Beruf erlernt und so für sich selbst auch ein wenig finanziell sorgt. Es sind schöne Begegnungen mit einem Menschen, der sein Leben durch das Ermorden eines anderen zerschlagen hat, jetzt aber reumütig dieses, sein Leben neu ordnet, aufbaut und ich kann ihm dabei helfen.

 

Mittwoch, 05. Juni 2002

Seit 20 Jahren begegnen wir uns jeden Mittwoch, genau um die Zeit, in der Sie mich jetzt hören, in unserer Stadtpfarrkirche. Die Begegnungen zum Morgenlob entstanden als Vorbereitung auf die große Begegnung mit Mutter Teresa in Jennersdorf am 20. Oktober 1982. Mutter Teresa war hier und geblieben ist, dass wir uns noch immer jeden Mittwoch hier zum Gebet treffen. 20 Jahre Nachhalt – Nachwirkung einer Begegnung, eines Besuches, das ist selten, das muss tief gegangen sein. In der Tat, es war keine flüchtige, keine sensationelle Begegnung, sondern für mich war es eine Heimsuchung. Mutter Teresa hat eine Pfarre heimgesucht, die ihr schon vor der Begegnung zu Füßen lag. Wir haben Jahre vor der Begegnung in unserer Pfarre mit ihr gebetet, an viele Orte dieser Welt unsere Hilfssendungen geschickt. Wir waren so bevorzugt, indem sie uns um vieles ersucht hatte und wir tun konnten, was sie anderen nicht zutraute. So hat sie mich einmal angeschrieben um Autoreifen für ein Auto, das ihre Schwestern im Libanon benützten, dort waren keine Reifen zu bekommen. Unsere Pfarre hat Hunderte Kreuze gespendet, Kreuze, die von jeder Schwester immer bei sich getragen werden. Mutter Teresa versprach, dass durch diese Kreuze zwischen ihnen und unserer Pfarre eine ständige Gebetsverbindung erhalten bleiben wird! Wir spüren es bis heute, 20 Jahre nach der Begegnung.

 

Donnerstag, 06. Juni 2002

Schwerpunktarbeit in unserer Pfarre war in diesem Arbeitsjahr der Drogen- und Alkoholmissbrauch der Kinder und Schüler. Wir können ihnen heute, wenn wir den Mut haben, dem Problem ins Auge zu schauen, überall begegnen. Sind Sie sich sicher, dass Ihr Kind, Ihr Enkelkind sich nicht auch schon am Wochenende volllaufen lässt, harte Drogen nimmt?

Wir haben auch unsere Firmlinge auf dieses Thema aufmerksam gemacht – und zwar sehr eindrucksvoll und nachhaltig. Es gibt da im burgenländischen Kleinfrauenhaid eine Gemeinschaft, die sich CENACOLO nennt. Dort leben 30 Jugendliche zusammen, die Alkoholiker oder drogensüchtig waren. Wir haben zwei von ihnen zu uns eingeladen! Sie sind gerne gekommen. Vor 50 Fimanden und deren Eltern haben sie erzählt, welch durch Alkohol und Drogen verseuchtes Leben sie geführt haben. Wie toll es war, gottlos zu leben, wie stark sie ihren Eltern gegenüber waren und deren Bemühungen ihnen zu helfen, sie in den Wind schlugen. Bis der Tag kam, an dem ihnen diese Gemeinschaft Hilfe anbot, sie aufzunehmen, sie zu begleiten, ihnen zu helfen, ihre Würde wiederzufinden. Durch diese Gemeinschaft und durch das tägliche stundenlang dauernde Gebet, sind sie, so haben wir gesehen, geheilt. Eine Begegnung, die mich sehr nachdenklich machte.

 

Freitag 07. Juni 2002

Männer, so hört man immer wieder, können oder getrauen sich oft nicht, ihre Gefühle herzuzeigen. Es läuft ihnen keine Träne runter, obwohl es ihnen zum Weinen ist, sie geben keinen spontanen Kuss, obwohl es in dem Moment ganz wichtig und das einzig Richtige wäre. So seien Männer, sagt man. Jedoch begegnet man heute auch ganz anderen Männern. Solchen die sich ihrer Tränen nicht schämen, solchen die auch Männern einen Kuss geben, ohne homophil zu sein und die ganz allgemein ihre Gefühle herzeigen und sie auch leben. Am Land war die Erziehung, seine Gefühlswelt zu entdecken und zu leben, immer zurückhaltend. Man ist als Kind kaum von den Eltern “abgebusselt” worden. Um so auffälliger, wenn so erzogene Kinder als reife Menschen ganz anders handeln.

Ich habe so einen jungen Mann zu einem Besuch ins Krankenhaus begleitet. Schwer krank, fast regungslos lag dort seine Mutter. Ich traute meinen Augen nicht, mit wie vielen Liebkosungen, Streicheleinheiten und allerliebsten Worten dieser junge Mann seine Mutter am Krankenbett überhäufte. Der Damm der Zurückhaltung war gebrochen, er setzte seine ganze Liebesfähigkeit ein, denn seine Mutter sollte wieder gesund werden.

 

Samstag, 08. Juni 2002

Jetzt sind auch wir uns eine Woche lang begegnet. Wahrscheinlich ist Ihnen mein Guten Morgenwunsch und meine Stimme inzwischen schon vertraut geworden. Ich finde diese Begegnung, auch wenn sie nur über das Radiogerät stattfinden und möglich sind, ganz spannend und hochinteressant. Ich stell mir dabei vor, wer wird mir so früh zuhören? Da komme ich dann auf die Bauern, die um diese Zeit schon im Stall arbeiten. Ich denke an die Bäcker, die für diesen Tag schon bald mit ihrer Arbeit fertig sein werden. Mir fallen all jene ein, die schon unterwegs sind zu ihrem Arbeitsplatz, alle Zusteller, die dafür sorgen, dass unser Frühstückstisch mit duftendem Gebäck versorgt ist. Und nicht vergesse ich alle, die soziale Dienste leisten in Heimen, Spitälern, in der Hauskrankenpflege und in mobilen Sozialdiensten. Unlängst sagte mir ein Bischof, dass auch er zu meinen Zuhörern gehört! Ist das nicht eine großartige Hörerfamilie? Aus vielen Berufen, Dörfern und Städten hören viele Ohren eine Stimme, damit dann möglichst viele Herzen dasselbe empfinden, aufnehmen und tun. Ich wünsche Ihnen schöne Begegnungen.