Morgengedanken

Sonntag, 09. 06. 2002. 6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
ORF Regionalradios
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios

 

 

 

von Pfarrer Engelbert Hofer,

Feldkirchen, Kärnten

 

Sonntag, 9. Juni 2002

Ich wünsche ihnen einen angenehmen Sonntagmorgen. Ich freue mich, dass ich ihnen heute und in der kommenden Woche meine Gedanken vorlegen darf.

Von Archimedes, dem genialen Mathematiker der Antike, wird der Ausspruch überliefert: "Gebt mir einen festen Punkt und ich hebe die Welt aus den Angeln!" Feste Punkte oder Leitlinien fürs Leben werden in der christlichen Tradition Tugenden genannt. Dieser Begriff hängt mit dem Wort tüchtig oder tauglich zusammen. Tugend ist das, was mich lebenstauglich, was mich tüchtig macht. Tugend hat also nichts mit schüchternem oder weltfremden Verhalten zu tun. Einige davon werde ich in der kommenden Woche etwas näher beleuchten. Besonders die vier sogenannten Kardinaltugenden möchte ich ihnen vorstellen. Wobei das Wort Kardinal hier nicht die hohen kirchlichen Würdenträger meint, obwohl es ganz gleich lautet. Beides kommt vom lateinischen Wort cardo und heißt die Türangel. Und hier finde ich auch wieder zurück zu den Angeln des Archimedes. Tugenden und noch mehr die Kardinaltugenden sind demnach Angelpunkte für unser Leben oder Haltungen, um die sich alles dreht. Genauso, wie sich eine Tür in ihren Angeln oder- heute in ihren Scharnieren bewegt. Man kann auch sagen: Tugenden sind wie Türen, die zu den Schatzkammern des Lebens führen.

 

 

Montag, 10. Juni 2002

Hoffentlich sind sie leicht aufgestanden und können den Tag froh beginnen. Es ist sicher angenehm, wenn man länger schlafen kann. Klüger aber ist es oft, eher aufzustehen, damit man den Tag ruhig beginnen kann und nicht in Stress gerät.

Genauso mag es ehrlich sein, Fehler im Betrieb oder bei Mitarbeitern gleich aufzuzeigen. Klüger wird es sein, den geeigneten Zeitpunkt für ein Gespräch abzuwarten. Die Probleme des Lebens mit Geschick, Humor und in Frieden zu lösen, ist eine Sache der Klugheit. Damit nenne ich die erste der vier Kardinaltugenden, nämlich die Klugheit. Von den Lateinern "prudentia" genannt. Glücklich, wer sie besitzt- oder wer sie durch Überlegung, Ausdauer und eifriges Training immer mehr erlernt. Klugheit macht lebenstüchtig und kann zu einem Angelpunkt für ein geglücktes Leben werden. Ein Sprichwort aus Israel besagt: „Ein Kluger hat soviel zu denken, dass er keine Zeit hat zu reden. Und ein Dummkopf hat soviel zu reden, dass er keine Zeit hat zu denken." In verständiger Weise zuhören und anhören, das kann manchmal geradezu befreiend wirken. Wenn dann noch die Gabe dazukommt, richtig zu raten und klug zu entscheiden, können die schwierigsten Knoten des Lebens gelöst werden.

Die Römer haben übrigens die Klugheit, die prudentia als Frauengestalt dargestellt, die einen Spiegel in der Hand hält. Ich wünsche ihnen die Klugheit, sich ab und zu den Spiegel vors Gesicht zu halten und die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.

 

 

Dienstag, 11. Juni 2002

Jedes Mal, wenn ich die Zeitung von Amnesty international aufschlage, sehe ich sofort, wie viel Ungerechtigkeit es in der Welt gibt. Es ist auch heute noch leider so, dass nicht jeder Mensch in Freiheit und in Würde leben kann. Ich verlange Gerechtigkeit für alle, so möchte ich rufen. Die Gerechtigkeit ist eine der vier Kardinaltugenden, der Lateiner nennt sie "iustitia". In der Erklärung der Menschenrechte wird ja jedem Erdenbürger ein volles Maß an Gerechtigkeit zugesprochen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Bei der iustitia handelt es sich eben um eine Tugend, die wir uns selbst anerziehen und einprägen müssen. Dargestellt wird die Gerechtigkeit meist als Frauengestalt mit einer Waage in der Hand. Sie will dem Mitmenschen das zumessen, was man für sich erwartet oder fordert. "Was ihr von anderen erwartet, das tut auch für sie" so formuliert es Jesus als goldene Regel des Evangeliums. Und er tritt für eine neue Gerechtigkeit unter den Menschen ein. In seiner Nachfolge hat zum Beispiel M.L. King sein Leben der Gerechtigkeit für alle Farbigen in den USA verschrieben. "Wir brauchen einen scharfen Verstand und ein weiches Herz", sagt er, "wenn wir das Ziel der Freiheit und Gerechtigkeit für alle erreichen wollen." Mit der ganzen Kraft seiner Person trat er ein gerechtes Miteinander aller Menschen ein. „Wir können nur mit Gott reden, wenn wir unsere Arme so gut wir können, um die Welt legen, das heißt wenn wir Gottes Gerechtigkeit in sie hineintragen.“ Das gilt auch für unsere Aufgabe heute. Ich kann der Gerechtigkeit Gottes einen Weg bahnen, auch durch mein Verhalten heute.

 

 

Mittwoch, 12. Juni 2002

Es gibt in der öffentlichen Meinung sicher auch eine Karikatur von Tugend. Niemand möchte ein Tugendpolt sein mit einem schüchtern unnatürlichen, andressierten Benehmen. Aber das ist auch gar nicht gemeint, wenn wir im christlichen Sinn von Tugenden sprechen. Im Gegenteil, Tugenden sind Wesenszüge des Menschen, die ihn tüchtig und lebenstauglich machen. Vier von ihnen werden Kardinaltugenden genannt, abgeleitet vom lateinischen Wort cardo, die Türangel. Tugenden sollten also Angelpunkte unseres Lebens sein. Heute nenne ich die Tugend der Tapferkeit, die fortitudo. Es ist doch so im Leben: Dem Tapferen, dem Mutigen werden Türen geöffnet, die dem Ängstlichen oder Feigen verschlossen bleiben. Schon in der Antike hat man diese Tugend geschätzt und die fortitudo dargestellt als Frauengestalt, die einem Löwen das Maul zuhält. Manche mögen bei dieser Tugend zuerst an kämpfende Helden oder an gewagte Mutproben denken. Die christliche Grundhaltung der Tapferkeit meint eher ein gewisses Maß an Zivilcourage, um für wichtige ethische Werte in der Öffentlichkeit einzutreten. Tapferkeit beginnt im Alltag: Einem frechen Kritiker, entgegenhalten, erfordert Mut, in eine Gemeinschaft, eine Partei oder einen Verein etwaschristlichen Geist hineinzutragen, sich zum Glauben zu bekennen als Pfarrgemeinderat, als Krankenschwester oder als Lehrer - das alles braucht Tapferkeit und Mut. Manchmal braucht es schon eine Portion fortitudo, in der Öffentlichkeit ein Kreuzzeichen zu machen.

"Mut kann man nicht kaufen" heißt es oft in der Umgangssprache. Aber ihn ganz natürlich leben, wie es Jesus getan hat, überzeugend und völlig gewaltlos, das ist sicher ein Auftrag für jeden Tag, auch für heute.  

 

 

Donnerstag, 13. Juni 2002

"Es ist ein Maß in den Dingen, es sind dem Menschen einfach gewisse Grenzen gesetzt." Diesen Satz eines römischen Dichters aus dem Lateinbuch meiner Schulzeit habe ich mir bis heute gemerkt. Gemeint ist damit die vierte der Kardinaltugenden, die "temperantia", zu deutsch die Mäßigkeit. Eine Lebensweisheit, die besonders heute in der Zeit des Überkonsum an Bedeutung gewinnt. Wo Übermaß oder Unmäßigkeit den Menschen aus dem Gleichgewicht bringt, dort braucht es wieder neu das rechte Augenmaß, das richtige Genießen und auch die Kunst des Verzichtens. Im direkten und ungebremsten Zugriff entzieht sich oft die Lebensfreude, die man wollte. Statt dessen macht dies den Menschen süchtig, labil, abhängig. Im Verzicht dagegen, in der Vorfreude und im ausgewogenen Genuss stellt sich die Befriedigung ein. So tritt heute die Tugend der Mäßigkeit, die temperantia unter einem neuen Etikett wieder kräftig auf. Das "Fasten" ist in geworden. Zugunsten der Gesundheit oder der schlanken Linie fasten viele. Zur christlichen Tugend wird das Fasten aber erst dann, wenn es aus Solidarität oder aus MitIeid mit anderen geschieht. Wenn ich auf Dinge verzichte, die anderen vorenthalten werde, wenn ich faste, um auf bestehendes Unrecht hinzuweisen, wenn ich mich mäßige, um Missbräuche aufzuzeigen. Dargestellt wird die Mäßigkeit als Frauengestalt mit einem vollen Krug vor sich. Ich frage mich, wer zeigt heute besonders der Jugend die Tugend des Maßhaltens? Den vollen Krug nicht selbst zu lehren, immer mehr und mehr zu fordern, sondern aus Selbstbeherrschung und aus Nächstenliebe zu teilen? Ich glaube, da sind wir wohl alle mitbetroffen!

 

 

Freitag, 14. Juni 2002

Zu den bekannten und genannten Tugenden der Klugheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und des Maßes füge ich heute noch eine hinzu, die mir für unsere Zeit sehr wichtig scheint: Es ist die Tugend der Toleranz, der Duldsamkeit und Aufgeschlossenheit für das Leben und Denken des Anderen. Hier kann ich aus meiner eigenen Lebensgeschichte bezeugen, wie sehr diese Tugend wichtig ist, wie oft wir aber als Kinder zu Intoleranz erzogen worden sind. Gegenüber anderen Menschen, Nationalitäten, vor allem gegenüber anderen Religionen oder Konfessionen wurden uns Grundmuster der Ablehnung und Schuldzuweisung beigebracht. In einem langen Prozess der Reifung habe ich persönlich gelernt, die Dinge anders zu sehen. Vor allem die religiösen Einstellungen anderer Menschen versuche ich nun zu achten. Ohne meinen Standpunkt aufzugeben, kann ich mich vom Reichtum und von der Vielfalt anderer Religionen und Kulturen beschenken lassen. Das verstehe ich unter der Tugend der Toleranz. Ich möchte offen sein, frei von Vorurteilen und Vorbehalten. Erst mit dieser Haltung wird es möglich in einen Dialog mit Andersdenkenden einzutreten. Wenn ich mit jemandem sprechen möchte in der fixen Meinung: Ich bin im Besitz der Wahrheit, der andere lebt im Verhängnis des Irrtums und muss bekehrt werden, dann wird ja jedes Gespräch von vornherein sinnlos. Wenn wir aber miteinander nach einer gemeinsamen Wahrheit suchen, die vor uns liegt, können wir unsere je eigenen Teilaspekte dieser Wahrheit zusammentragen und fruchtbar miteinander reden. Bei vielen Konflikten im Familienbereich, aber auch in Nordirland, in Palästina oder im Baskenland, führt wohl nur die Tugend der Toleranz zum Frieden. Ich will versuchen, sie heute in meinem Umfeld zu leben.

 

 

Samstag, 15. Juni 2002

Meine Gedanken über die Tugenden schließe ich heute mit folgender Grundhaltung ab: Mit der Tugend der Sanftmut. Ich umschreibe sie mit edler Zurückhaltung, Heiterkeit, Gewaltfreiheit und positiver Lebenseinstellung. Ich finde, Sanftmut ist heute wichtig als Gegengewicht gegenüber jeder Neigung zu Gewalt, Brutalität und exzessivem Verhalten, das über die Medien an junge Menschen herangetragen wird. Damit wird oft schnell das feine Gewebe der Gefühle und der Stimmungen in einem Herzen zerschlagen. Sanftmut dagegen geht von der Überzeugung aus, dass sich durch Bescheidenheit, durch fröhliches, gefühlvolles Auftreten leichter ein Weg in ein erfülltes Leben finden lässt. In Sanftmut gebe ich den Mitmenschen einen Raum der Freiheit, ich respektiere sie und schenke ihnen Lebensmut. Ich beschreibe die Tugend der Sanftmut mit einer Erfahrung aus meinen Reisen. In Rom wird den Pilgern neben der Lateranbasilika etwas Besonderes gezeigt: Die singenden Türen des Paptisteriums. Zwei Bronzetüren aus römischer Zeit, aus Bronze, Silber und Gold gegossen, bringen beim langsamen Drehen in den alten Angeln einen singenden Ton hervor. Vielleicht kann ich damit die Tugend der Sanftmut, aber auch alle anderen christlichen Tugenden am besten umschreiben. Sie bewirken, dass mein Herz in der Liebe Gottes fest verankert ist, dass ich heiter, fröhlich, gerecht und ehrlich leben kann, dass mein Dasein zur einladenden Melodie für andere wird.