Morgengedanken

Sonntag, 18. 08. 2002. 6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
ORF Regionalradios
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios

 

 

 

von Dr. Klaus Egger, Ordensreferent der Diözese Innsbruck

 

 

Sonntag, 18.August 2002

 

Seit Jahrhunderten beginnen Priester und Ordensleute ihren Tag mit der Bitte:

„Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde.“

Diese Bitte ist dem Buch der Psalmen, dem großen Gebetsbuch von Juden und Christen, entnommen.

Heute und in der kommenden Woche sollen auch uns solche Psalmworte begleiten.

 

Wenn wir dieses älteste Gebetbuch der Kirche aufschlagen, dann begegnen wir gleich auf der ersten Seite einem Text, der aufhorchen lässt:

„Selig der Mensch, der Freude hat an der Weisung des Herrn.“

 

Bevor wir Menschen mit dem Beten beginnen, werden wir darauf aufmerksam gemacht, dass Gott all denen, die sich nicht einfach dem Zeitgeist ausliefern, sondern tief in ihr Herz hineinhören, die so etwas wie eine liebende Aufmerksamkeit für die Stimme ihres Herzens entwickeln, eine wunderbare Zusage macht:

 

„Du bist wie ein Baum,

an Wasserbächen gepflanzt,

der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken.“

 

Diese wunderbare Verheißung hat Menschen aller Jahrhunderte dazu ermutigt, sich Gott am Abend und am Morgen, in guten und schlechten Tagen anzuvertrauen.

Und so begegnet einem in den Psalmen das ganze Panorama menschlicher Stimmungen:

Bekenntnisse und Fragen, Klagelieder und Lobgesänge, Fluch und Segen, Hoffnung und Verzweiflung.

Wer sich diesen Texten anvertraut, kann die Erfahrung machen, dass Beten eine befreiende Wirkung hat.

 

 

Montag, 19. August 2002

 

Heute ist Montag. Für die meisten Menschen beginnt wieder eine Arbeitswoche mit all ihren Anforderungen, mit all ihrer Plage, mit all ihrem Auf und Ab.

 

Der Morgen ist auch die Zeit für ein kurzes Gebet, um diesen Tag mit allem, was er bringen mag, vertrauensvoll in Gottes Hände zu legen.

Und wie könnte ein solches Gebet aussehen?

Mir persönlich ist im Lauf der Jahre der Psalmvers

 

„O Gott, komm mir zu Hilfe.

Herr, eile mir zu helfen“

(Ps 70,2)

 

besonders ans Herz gewachsen. Zum einen erinnert mich dieses kurze Gebet daran, dass ich Gott um Hilfe bitten darf, wenn ich in Not und Bedrängnis bin und zum anderen spüre ich geradezu die Aufforderung, Gott zu bestürmen, dass er mir beisteht. Er soll sich beeilen, denn die Zeit drängt. Ähnlich hat auch Jesus mehrfach darauf hingewiesen, dass wir Gott mit unseren Bitten bedrängen sollen. Denn gerade darin zeigt sich wirkliches Vertrauen.

 

Wenn ich diesen Psalmvers am Morgen bete und auch tagsüber wiederhole, dann wächst mir immer wieder einmal die Erfahrung zu, dass Beten meine Tage aufwertet und mit einer geheimnisvollen Kraft anreichert.

 

 

Dienstag, 20. August 2002

 

Im Lauf der Jahre ist mir – vor allem von jüngeren Menschen – oftmals die Frage gestellt worden:

„Wozu eigentlich feste Gebetsformeln, wenn ich doch mit eigenen Worten, die aus meinem Herzen kommen, viel besser beten kann?“

 

Dazu eine kleine Geschichte aus dem Ostjudentum:

Es war einmal ein junger Hirt, der die hebräischen Gebete nicht sprechen konnte. Sein einziges Gebet lautete:

„Herr der Welt! Du weißt sehr wohl, dass ich zwar für alle anderen um Lohn hüte, aber hättest du Vieh und gäbst es mir zum Hüten, dann würde ich es für dich umsonst tun, denn ich liebe dich.“

Da kam ein Gelehrter des Weges, entsetzte sich über den ungebildeten Hirten und brachte ihm die wichtigsten Gebete in hebräischer Sprache bei.

Nachdem dieser gegangen war, vergaß der Hirte alles, was ihm beigebracht worden war. Und da der Gelehrte ihm sein früheres Beten vermiest hatte, betete er überhaupt nicht mehr. Eines Nachts nun träumte der Gelehrte und hörte im Traum eine Stimme sagen: „Wenn du dem Hirten nicht sagst, dass er beten solle wie bisher, dann wird dich Böses treffen. Denn du hast mir einen geraubt, der zur Kommenden Welt gehört. Er kennt zwar keine festen Gebete, aber er hatte im Herzen die Absicht, Gutes zu tun. Und das sieht man im Himmel als etwas Großes an.“

 

Und wir finden dafür auch eine Bestätigung im Buch der Psalmen, wenn wir darin lesen: „Leihe dein Ohr meinen Worten, o Herr. Merke auf mein Inneres“ (Ps 5,2).

Das persönliche Gebet ist auf jeden Fall eine Kostbarkeit.

 

 

Mittwoch, 21.August 2002

 

Gestern haben wir unseren Blick auf das persönliche Beten gerichtet.

Heute soll es um jenes Beten gehen, das einfach in die uns überlieferten Gebete einstimmt.

 

Auch dazu eine bedenkenswerte Geschichte:

In einer kleinen jüdischen Stadt, weitab von den Hauptstraßen des Landes, gab es zwar alle wichtigen Einrichtungen: ein Badhaus, ein Krankenhaus, ein Gerichtsgebäude und ebenso alle Arten von Handwerkern: Schneider, Schuhmacher, Schreiner und Maurer. Ein Handwerk jedoch fehlte. Es gab keinen Uhrmacher. Im Laufe der Jahre fingen die Uhren an, so ungenau zu gehen, dass ich ihre Besitzer nicht mehr um sie kümmerten. Einige behaupteten jedoch, man dürfe die Uhren, so lange sie überhaupt noch gingen, nicht aufgeben und zogen sie Tag für Tag auf. Eines Tages kam ein Uhrmacher in die Stadt und alle liefen mit ihren Uhren zu ihm. Er konnte jedoch nur jene reparieren, die in Betrieb gehalten waren, die anderen waren verrostet.

 

Auch wir sollten die wichtigsten Gebete unseres Glaubens nicht verkommen lassen. Denn solche Gebete können einen ganz neuen Klang bekommen, wenn wir einmal nicht wissen, wie wir persönlich beten sollen. Und noch etwas: Nur mit geformten Gebeten kann man gemeinsam beten.

Ja, auch unsere formelhaften Gebete sind eine Kostbarkeit!

 

 

Donnerstag, 22. August 2002

 

Immer häufiger hört man davon, dass viele Menschen unter Schlafstörungen leiden.

Wer damit schon Erfahrungen gemacht hat, weiß, wie sehr man in solchen Situationen auf den Morgen und das Anbrechen des Tages wartet. Man möchte wenigstens mit jemandem darüber reden können.

 

Auch die Psalmen kennen solches Warten und Hoffen auf das Anbrechen eines neuen Tages. Sie sprechen aber auch davon, das sich in diesem Warten des täglichen Lebens ein tieferes Warten verbirgt.

So lesen wir im Psalm 130:

 

„Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele,

ich warte voll Vertrauen auf sein Wort.

Meine Seele wartet auf den Herrn

mehr als die Wächter auf den Morgen.“

 

Die oft leidvollen Erfahrungen des Wartens auf den Morgen, auf Hilfe in einer Notsituation, das Warten auf einen Anruf, das Warten auf einen Termin, all diese Erfahrungen mit dem Warten haben zu einer wichtigen Entdeckung geführt:

Hinter und unter all dem gibt es ein Warten und Hoffen auf Etwas, das man nicht so ohne weiteres benennen kann. Der Psalmist deutet dieses wie von Nebeln verhüllte Warten:

Es geht dabei um ein Warten auf die Begegnung mit Gott, um ein Warten auf die leise Stimme des Geistes, die unserem Leben die Richtung weist.

 

 

Freitag, 23. August 2002

 

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat sich – wie wir alle wissen – unser Familienleben gewaltig verändert. Davon wurde natürlich auch unsere Tischkultur betroffen. Ich erinnere mich noch gut an meine Kinder- und Jugendzeit, in der es zum einen selbstverständlich war, dass mit dem Essen erst begonnen wurde, wenn alle da waren und zum anderen, dass erst begonnen wurde, wenn das gemeinsame Tischgebet gesprochen war.

Es gab ein kleines Repertoire an Tischgebeten, darunter auch das bekannte

 

„Aller Augen warten auf dich, o Herr.

Du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit

und erfüllest alles, was da lebt, mit Segen.“

 

Erst während meines Theologiestudiums habe ich entdeckt, dass es sich dabei um einen Psalmvers handelt. Der Psalm 104 ist ein großer Lobgesang auf den Schöpfer aller Dinge. Auf vielfältige Weise wird darin besungen, dass alles Leben geschenktes Leben ist.

Daher war es wirklich passend, diesen Psalmvers als Tischgebet zu sprechen.

Im Lauf der Jahre ist mir aber noch etwas aufgegangen:

Es gibt nicht bloß ein Warten auf das immer neue Geschenk des Lebens, das wir aus Gottes Hand empfangen, es gibt auch ein ganz großes Warten auf das Geschenk des Lebens, das wir uns gegenseitig machen können:

Dass wir einander annehmen und akzeptieren, wie wir nun einmal sind. So können wir auch füreinander zum Segen werden.

 

 

Samstag, 24.August 2002

 

In den vergangenen Tagen habe ich versucht, die große Schatztruhe der Psalmen ein wenig zu öffnen und einzelne Verse als ein gutes Wort für den Tag vorzustellen.

Heute möchte ich die letzte Seite dieses Buches aufschlagen und damit einen Blick auf das eigentliche Geheimnis unseres Lebens zu werfen.

 

Jede Zeile dieses Psalms beginnt mit einem Aufruf zum Lob Gottes. Alle Musikinstrumente, Hörner, Harfen und Zither, Flöten und Zimbeln – verbunden mit Tanz – sollen aufgeboten werden, um dieses Lob gebührend aufklingen zu lassen. Schließlich heißt es geradezu überwältigend:

 

„Alles, was atmet, lobe den Herrn!“

 

Die Botschaft ist eindeutig: Das eigentliche Ziel des ganzen Kosmos und auch unseres menschlichen Lebens ist das Lob des Schöpfers.

Und das hat seinen tiefen Grund.

Wenn wir Menschen einander ein ehrliches und echtes Lob spenden, dann übersteigen wir unsere eigenen Grenzen und begegnen in geheimnisvoller Weise dem anderen. Wir sprengen gleichsam die engen Grenzen unseres Ich und erfahren in der Begegnung erfüllendes Leben.

Wenn wir nun Gott loben, dann übersteigen wir ebenfalls unser endliches und begrenztes Leben und kommen mit ihm in Berührung.

Kann es für uns Menschen überhaupt Größeres geben, als mit der Quelle unseres Lebens in Berührung zu kommen?