Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
08.
- 14.September 2002
von
Mag.
Heidrun Irene Mittermair
aus Korneuburg/NÖ
Sonntag, 8. September 2002
Talente
Ich glaube, es gibt nicht selten Augenblicke, in denen man sich wünscht,
mehr Talent zu besitzen. Mehr auf Leute zugehen zu können. Besser
lernen zu können. Musikalischer zu sein - die Liste darf jeder nach
persönlichen Maßstäben verlängern. Wir haben die Sehnsucht,
etwas Besonderes zu können, um jemand Besonderer zu sein. Um im
Mittelpunkt zu stehen, um zu begeistern, ja vielleicht sogar, um
beneidet zu werden.
Die Kehrseite der Medaille sieht man oft nicht, nämlich die Forderung,
die Verantwortung, die damit verbunden ist. Oft leugnet man in
falscher Bescheidenheit oder aus Bequemlichkeit, etwas zu können.
Dabei sind wir begabt, haben also etwas geschenkt, eine GABE
geschenkt bekommen. Es gehören natürlich auch die Disziplin, die
Übung und der Mut dazu, seine Fähigkeiten auszuschöpfen.
Verantwortungsvoll umgehen – mit der Umwelt, mit dem Nächsten, mit dem
Materiellen, das alles wird oft genug betont. Aber wo steht und wer
sagt: Kümmere dich um Deine Fähigkeiten? Pflege Musik, freu dich
am Malen, lerne gern, weil du dazu fähig bist. Manche Begabungen
werden uns erst dann bewusst, wenn es vielleicht zu spät ist, sie
zu nützen. Oder gibt es kein „Zu spät?“ In manchem lässt sich
sicher noch mehr tun, als man vielleicht glaubt. Es geht darum, sein
eigenes Leben in die Hand zu nehmen, es zu gestalten in seinen Möglichkeiten.
Montag, 9.September 2002
Liebe
Man kann in einer Beziehung viele Wege der Problemlösung gehen: man kann
sich betäuben, man kann sich – fair oder unfair - streiten, man
kann flüchten, man kann hartnäckig, ja stur sein, aber auch
entgegenkommend, man kann sich sagen „Is eh schon wurscht!“,
oder aber „Is eh nicht so wichtig!“. Man kann über alles ein
Deckerl aus Schmusewolle breiten – oder auch mit dem Reibfetzen
ordentlich aufwischen. Ein Zauberwort ist Ehrlichkeit – ehrliche
Liebe oder liebende Ehrlichkeit. Niemand profitiert von Schonung –
schonungslos, aber liebevoll statt schonend, aber lieblos.
Dass es überall dort, wo Menschen zusammenleben, früher oder später zu
gröberen Problemen kommt, ist fast jedem klar. Aber wie man damit
umgeht, daran bastelt man ein Leben lang. Der Bibelspruch „besser
ein Gericht Kraut mit Liebe als ein gemästeter Ochse mit Hass“
Spr.15/17 drückt für mich genau das aus, was eine geglückte
Beziehung ausmacht: kleine Schritte mit Liebe zu tun anstatt Übermenschliches
zu wollen und daran zu scheitern. Liebe ist immer ein Wagnis, immer
ein Sprung ins Tiefe, im Vertrauen drauf, dass der Partner einen
auffängt. Beides muss da sein: der Mut zum Springen und das
Vertrauen des Partners. Und als Sprungtuch die Ehrlichkeit... Aber
auch ein Scheitern zugeben zu können, zu verzeihen, wenn man
auseinandergeht, zeigt menschliche Größe.
Dienstag, 10. September 2002
Selbstwertgefühl
Wenn Du ein Rad hast, willst Du ein Auto, wenn Du ein Auto hast, willst
Du einen Jet. Wenn Du einen Jet hast, willst Du jung sein. – So
lautet ein Zitat aus einem indischen Film, der sich mit dem Leben
und dem Sein auseinandersetzt. Uns so geht´s uns im Leben – fast
immer strebt man nach Neuem, nach Besserem, nach Teurerem, jagt
vielleicht Idealen hinterher, die unerreichbar sind. Nicht, dass es
schlecht wäre, Ziele zu haben, aber irgendwann relativiert sich
alles: wenn man nämlich auf die grundlegende Frage „Haben oder
Sein“ stößt. Der Jetbesitzer, der materiell alles hat, will plötzlich
jung SEIN – er kann’s nicht haben. Mit anderen Worten: die ewige
Jagd nach Gütern endet im Sein oder in der Erkenntnis, dass man ein
Leben lang nur haben wollte und darüber vergaß zu sein.
Um nicht allzu philosophisch zu werden noch ein geerdetes Beispiel für
einen Menschen, dessen Herz mehr am Sein als am Haben hing:
Mein Mann übersah beim Ausparken, dass sich ein Auto hinter ihn gestellt
hatte. Mit vollem Schwung krachte er in den Hintermann – beide
stiegen aus, mein Mann zerknirscht, der Hintermann erstaunt. Der
Schaden bei uns war unübersehbar, der beim anderen minimal. Er hätte
dennoch auf Auswechseln der Stoßstange bestehen können – aber er
sagte nur:“ I bin eh net so haglich auf´s Auto, an schen Feiertag
nu!“. Das zeugt meiner Meinung nach von wirklicher
Ausgeglichenheit...
Mittwoch, 11. September 2002
Aggression und Sprache
Wer kennt das? Man redet schlecht über jemanden, und diesen unverhofft
trifft, benimmt man sich ganz komisch – mit einer Mischung aus
schlechtem Gewissen und Aggression, sodass sich derjenige gar nicht
auskennt. Daran sieht man, wie eng Sprache und Seele verknüpft
sind.
Mich erschreckt daran, dass man sehr leicht in ein aggressives Fahrwasser
kommt, wenn man sich einer gewissen Sprache bedient. Nicht nur in
der Politik lässt sich das beobachten, auch im ganz normalen Alltag
wird unsre Ausdrucksweise einfach unglaublich unfair, und durch
ungefiltertes Herauslassen werden Aggressionen salonfähig gemacht.
Besonders gut funktioniert das natürlich, wenn der Angeschimpfte
nicht anwesend ist, denn da kann man sicher sein, keine
Retourkutsche zu bekommen und sich besonders überlegen zu fühlen!
Hab ich keine Argumente mehr, fang ich an zu schimpfen – ein
Patentrezept? In Wirklichkeit ein Armutszeugnis, denn da, wo ich
andere nur noch niedermache, will ich mich selbst groß machen, also
muss ich ein sehr schlechtes Selbstwertgefühl haben...
Das „Ausstallieren“ ist eine bequeme Art, die eigenen Probleme
beiseite zu lassen, unter den Teppich zu kehren. Der Balken im
eigenen Auge verhindert aber die wahre Sicht der Dinge, und
Aggression ist ein gewaltiger Hemmschuh. Worte schneiden oft genug
tiefer als das schärfste Messer – vielleicht wär´s gut, sich
das vor Augen zu halten, wenn man wieder mal drauf und dran ist,
sich mit Worten stark zu machen...
Donnerstag, 12. September 2002
Toleranz
Toleranz ist ein Wort, das allein schon lexikalisch in der evangelischen
Welt eine ungeheuer große Bedeutung hat: Toleranzpatent,
Toleranzgemeinden, gerade bei kichengeschichtlich wichtigen
Schritten findet man dieses Wort oft – aber leider nicht oft
genug.
Immer noch gibt es Haltungen in uns, die jede Form von „Zulassen“ (so
die Übersetzung vom Lateinischen) verbieten, ja nicht mal an sich
heranlassen. Wenn man etwas toleriert, heißt das zwar nicht, dass
man selbst der gleichen Meinung ist, aber dass man die des anderen
respektiert.
Meine Taufpatin war jahrzehntelang Missionarin in Kamerun und im Sudan.
Jedes Mal, wenn sie auf Heimurlaub war, griff sie sich an den Kopf,
welch lächerliche Streitigkeiten es bei uns im ach so zivilisierten
Europa unter den Konfessionen gibt. Wenn man als Gläubige so bedrängt
wird, dass man froh ist, überleben zu können, fragt man nicht nach
Konfessionen, nach Trennendem. Man sucht das Gemeinsame.
Geht es uns zu gut, dass wir so oft intolerant sind? Fehlt uns der
Respekt vor Andersdenkenden? Mein Kirchengeschichteprofessor hatte
ein T-Shirt, dessen Aufdruck nicht nur schmunzeln ließ, sondern
auch zum Nachdenken anregte: Keine Toleranz gegenüber der
Intoleranz...
Wenn wir das nur ein bisschen in unsre Herzen lassen, wird der Respekt im
Umgang miteinander wachsen und Friede ein Stück näher rücken
Freitag, 13. September 2002
Freiheit
„Ma. i brauch jetzt dringend Luft!“ – wie oft hat man das schon
gesagt, wenn man das Gefühl hatte, eingesperrt zu sein. Wir leben
ja glücklicherweise in einem freien Land, können im Grunde
hingehen, wohin wir wollen. Aber diese Freiheit ist nicht die, die
man meint, wenn man „dringend Luft“ braucht.
Eine Freundin hat mir etwas mitgegeben, das mir in solchen Situationen
immer wieder einfällt. Sie lebt in einem kleinen Dorf am Land, hat
zwei Kinder, kein Auto und daher ziemlichen Stress. Sie fühlte sich
überlastet, aber unausgelastet, was ihre persönlichen Bedürfnisse
betraf. Was bei uns in Oberösterreich soviel heißt wie, „sie hat
sich ang´stierlt gefühlt“, eingesperrt, festgenagelt. Irgendwann
aber hat diese Freundin den Entschluss gefasst, ihr jahrelang
vernachlässigtes Maltalent wiederzubeleben, und seither hat sie plötzlich
innere Ruhe, innere Freiheit gefunden. „Weißt Du“, sagte sie
mir, „es ist egal, ob Du in der Stadt wohnst oder dort, wo sich
Fuchs und Hase Gutnacht sagen, ob Deine Wohnung groß oder klein
ist. Was zählt, ist Deine innere Ruhe, Deine innere Freiheit. Dort
hat so unglaublich viel Platz, Träume Wünsche, die ganze Welt!“
Und es stimmt, wenn man innerlich frei ist, befreit von eigenen Zwängen,
eigener Unruhe, sei es durch den Glauben, sei es durch gute Freunde,
durch die Familie, durch das Annehmen der eigenen Persönlichkeit,
dann kann man selbst in einer äußerlich bedrängenden Situation glücklich
sein und beherzt Entscheidungen treffen und offen auf andere und
ihre Probleme zugehen...
Samstag, 14. September 2002
Jammern
Immer wieder findet sich in Literatur, Film und Gespräch der Ausspruch:
Die Österreicher sind Weltmeister im Jammern!
Wenn man das an sich selbst überprüft, kommt man nicht selten drauf,
dass das stimmt. Bei mir gab’s den Wendepunkt, die
Selbsterkenntnis vor ein paar Jahren, als ein lieber Freund, übrigens
ein Deutscher, zu mir und meiner Freundin, die wir beide über unsre
Zahnfehlstellungen jammerten, sagte: „Nicht jammern, sondern was
tun dagegen. Jammern hilft nichts!“. Daraufhin gaben wir uns einen
Ruck und trugen beide in unsren Mittzwanzigern noch eine
Regulierung. Hätten wir noch ein paar Jahre zugewartet und nur
gejammert, wäre es vielleicht schon zu spät gewesen.
Sir Karl Popper, Philosoph, der heuer 100 Jahre alt geworden wäre und
deswegen häufiger als sonst zitiert wird - auch von mir-
formulierte es ähnlich: „Wer jammert, will nichts an den Zuständen
ändern.“ Stimmt nicht, will man gleich widersprechen, aber
dennoch – ist es nicht ungeheuer bequem, sich zurückzulehnen, über
die schlechter und schlechter werdende Jugend, die unausstehlichen
Politiker, die grausigen Betrüger – die großen, nicht wir! - zu
jammern? Ist es nicht unglaublicher Balsam, zu eiern und zu jammern
über zu wenig Geld, zu wenig Liebe, zu wenig Zeit? Über zuviel
Arbeit, zu große Sorgen, zu schlechte Noten?
Dort, wo man aufhört zu jammern und stattdessen zupackt, dort passiert
was. Dort will man wirklich was verändern. Und man kann nur hoffen,
dass es nicht zu spät ist, wenn’s endlich ruhig wird...
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