Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

Msgr. Wilhelm Müller, Mödling

 

Sonntag, 22.September 2002

Die Bilder, die wir uns von Gott gemacht haben, zerbrechen.

Manche haben davor Angst. Sie sollten die Bibel aufschlagen. Sie ist voll von Schicksalen, die Gottesbilder zerbrechen ließen und Gott in einer ganz neuen Weise sichtbar machten.

Wie ging es den Menschen, die während der Wüstenwanderung geboren wurden und aufgewachsen sind? Sie  hörten ständig von der Befreiung aus Ägypten, erlebten Gott aber als einen, der sie sinnlos und scheinbar planlos durch die Wüste herumführte.

Wie ging es Saul mit Gott, der ihn zuerst auserwählt und dann verworfen hat? Wie ging es den Umgesiedelten und Zwangsexilierten, die an den Strömen Babels saßen und weinten, wenn sie an Sion dachten? An den zerstörten Tempel, die niedergebrannte Stadt, die ermordeten Menschen? Wir haben sie ihren Glauben über die Zerstörung und die Jahre des Exils gerettet?

Die Bibel sagt: „Du sollst dir kein Gottesbild machen“ – kein schreckliches, kein liebliches,  kein absonderliches. Gott ist immer größer als unsere Vorstellung. Er ist immer anders als wir meinen, dass er ist. Die Muslime haben 99 Namen für Gott, um auszudrücken, dass er unvorstellbar und undarstellbar ist.  Um das zu verstehen, müssen unsere Gottesbilder immer wieder zerbrechen.

Dienstag, 23. September 2002

Als wir Kinder waren, war Gott der Himmelvater, zu dem man mit seinen Schmerzen, Hoffnungen und Bitten kommen konnte. Als wir heranwuchsen, war er ein Wesen, das uns auf die Nerven ging, manchmal ängstigte, immer aber auch faszinierte. Heute ist er , je nach der Entwicklung, die wir genommen haben, Verschiedenes.

Wenn die Nebel um ihn hängen, sieht ein Berg anders aus, als wenn der Schnee auf ihm in der Sonne leuchtet. Er sieht anders aus, wenn die Sonne ungehindert auf ihn fällt, und anders wenn die Schatten in den Rinnen dunkeln. Wenn Gewitter auf ihm toben, erlebt man ihn anders, als wenn Ruhe und Stille über ihm liegen.

Mit Gott ist es, wie mit einem Berg. Er verändert sich, weil wir uns verändern. Er verändert sich, weil sich unsere Lebensbedingungen verändern. Er verändert sich, weil die Wissenschaft unser Weltbild verändert. Gott wird umso größer, je mehr die Wissenschaften Mikro- und Makrokosmos erforschen. Viele halten diese Größe nicht aus. Die Bibel erinnert uns, dass der, der die Sterne gemacht hat, auch jedes Haar auf unserem Haupt gezählt hat.

Dienstag, 24. September 2002

Wir haben das Alphabet der Gotteserfahrung verlernt. Manche versuchen, es in Asien wieder zu erlernen. Uns ist die Fähigkeit abhanden gekommen, Gottes Gegenwart in den Ereignissen des Lebens zu entdecken. Zu undurchsichtig ist für viele das Gewirr, das Politik und Wirtschaft, Alltag und Geschichte über das Leben legen.

Wer lehrt uns, die Spuren Gottes zu lesen? Wer macht in der Vielfalt der biblischen Schicksale und Ereignisse die Stimme Gottes hörbar?  Wer holt mit ihren kräftigen Strichen wie beim Linienwirrwarr einer geometrischen Zeichnung Gott aus den Ereignissen heraus?

Gott spricht in der Natur zu uns. Diese Stimme ist oft mehrdeutig. Manche Erkenntnisse werden zu Fragen. Die Fragen heißen nicht mehr: Was ist? Sie lauten immer öfter: Was ist richtig?  Hier bleiben die Naturgesetze meist stumm. Sie lassen den Menschen ratlos, was er tun soll, tun darf.

Das Gewissen kann oft keine Antwort geben, was man und soll. Aber dem Einzelnen sagt sein Gewissen: Du sollst. Es sagt: Du darfst nicht, obwohl alle anderen sagen: Du sollst!

Gott spricht mit leiser Stimme. Er lässt es zu, dass andere Stimmen lauter sind als seine. Gott lässt sich mit der Antwort meistens Zeit, Er will uns die Möglichkeit geben, nachzudenken, ob unsere Fragen die richtigen, die wichtigen, die wirklichen Fragen sind. Seine Antworten vermehren nicht unser Wissen. Sie stärken unser Gewissen.

Mittwoch, 25. September 2002

Gott ist erfolglos. Die Bilanz, die Gott ziehen muss, wenn er seine Schöpfung anschaut, ist nicht erfreulich.  Nicht wenige kündigen ihm deshalb die Gefolgschaft auf.  Seine Methode, auf vieles nicht zu reagieren, seine Art, sich alles gefallen zu lassen, lässt bei vielen den Verdacht aufkommen, dass es ihn vielleicht gar nicht gibt, so nicht gibt, wie wir ihn uns vorstellen.

Gott ist nicht absichtlich erfolglos. Das ist seine Art und Methode. Wie ein konstitutioneller Monarch sich an die Verfassung bindet, so bindet sich Gott an seine Schöpfung und an die Gesetze, die sie tragen und bewegen. Er bindet sich an die Schwerkraft auch dann, wenn nicht Äpfel vom Baum, sondern Ziegel vom Dach fallen.

Gott hilft indirekt, nicht direkt. Für eine gerechte Verteilung der Ressourcen der Erde braucht es Phantasie und guten Willen und keine Wunder. Für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Menschen braucht es nur guten Willen und kein Wunder.

Wir nehmen nicht gern zur Kenntnis, dass Gott durch Zweitursachen, also auch durch uns wirkt. Wir verlassen uns lieber auf Wunder, statt uns rechtzeitig auf Entscheidungen und Ereignisse vorzubereiten.

Gott ist nicht erfolglos. Er traut nur dem Menschen eine Menge zu.

Donnerstag, 26. September 2002

Gott hätte in himmlischer Ruh und ungestörter Glückseligkeit leben können. Was macht er? Er erschafft die Welt. Statt es dabei bewenden zu lassen, schafft er auch noch den Menschen. Er setzt sich mit ihm eine Laus in den Pelz, der nichts passt, was Gott tut.

Gott lässt es zu, dass dieser Mensch alles durcheinanderbringt. Er durchlöchert die Berge. Er verseucht die Flüsse. Er verschmutzt die Atmosphäre. Er verdirbt die Beziehungen zwischen jung und alt, Mann und Frau. Obwohl er auf Schritt und Tritt merken muss, was er  anrichtet, tut er, als gäbe es für ihn keine Grenzen.

Gott geht in seiner Verrücktheit noch einen Schritt weiter. Er wird selber Mensch. Er macht nicht nur einen kurzen Ausflug zu den Menschen. In seiner Verrücktheit will er bei ihnen bleiben. Er sammelt eine Gemeinschaft, in der er wie die Seele im Leib gegenwärtig ist. Er geht mit diesen Menschen eine leibseelische Einheit ein, auch auf die Gefahr hin, dass in manchen Epochen der Geschichte der Leib stärker vom Milieu als von seiner Seele geprägt zu sein scheint.

Gott handelt verrückt. Er tut es, weil er verliebt ist. Er ist in den Menschen verliebt. Ein Heiliger sagte staunend: „Gott liebt den Menschen, als wäre der Mensch Gottes eigener Gott“.

Freitag, 27. September 2002

 

Gott hätte ohne Probleme eine andere Welt schaffen können – eine fertige, perfekte, eine Welt, „jenseits von gut und böse“, ohne Herausforderung und ohne Bewährung, ohne Tränen und Leid. Aber „eine Welt ohne Kranke würde ärmer sein. Denn sie wäre ärmer an Mitmenschlichkeit, ärmer an selbstloser, ja mitunter heroischer Liebe“ meinte der Papst bei seinem Besuch im Haus der Barmherzigkeit.

Es wäre ein Leichtes für Gott gewesen, einen anderen Menschen zu schaffen, einen Menschen, der nie irrt, der alles versteht und immer weiß, was er will. Er hätte statt des Menschen eine Marionette schaffen können.

Natürlich hätte Gott für die Menschen einen anderen Weg zum Heil schaffen können als die Kirche. Aber er hat sich für den Weg Jesu entschieden, für den Glauben und die Liebe des Menschen.

Gott hat sich für die Kirche entschieden. „Sie ist der Leib Christi und wird von ihm, der das All ganz und gar beherrscht, erfüllt“, schreibt der heilige Paulus an die Gemeinde von Ephesus.

Die Kirche ist nicht das Heil. Sie ist das Sakrament des Heiles. Die Herrlichkeit, das Glück, das Leben sind nur als Same und nicht als Frucht in ihr anwesend. Wer den Samen mit der Frucht verwechselt, ist vom Angebot enttäuscht.

Samstag, 28. September 2002

Die Welt ist sinnvoll, aber nicht notwendig. Sie ist Spiel der unergründlichen Phantasie Gottes. Er hat mit ihr einige der Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen,  realisiert.

Gott hat die Welt und den Menschen nicht geschaffen, weil er sie braucht, sondern weil er sie liebt. Darum besteht der Sinn unseres Lebens nicht im Nutzen, den man von uns hat, auch nicht in den Leistungen, die wir erbringen, nicht in der moralischen Höhe, die wir erreichen.. Sich an seinem Dasein und an dem zu freuen, der uns das Dasein geschenkt hat, ist sinnvoll in sich selbst.

Auf der Berliner Mauer stand lange zu lesen: „Für die Welt bist du nur irgendwer. Für irgendwen bist du die ganze Welt“. Jeder Liebende weiß, dass er nicht um seiner Leistungen und seines Nutzen willen geliebt wird, sondern um seiner selbst willen. Er wird geliebt, weil er dieser Mensch ist. Er ist nicht alles. Er ist etwas Besonderes. Und dieses Besondere ist dem Liebenden wichtiger und bedeutsamer als alles.

„Für die Welt bist du nur irgendwer. Für den, der dich liebt, bist du die ganze Welt“.