Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

Dr. Helga Kohler-Spiegel 

(Feldkirch, Vlbg.)

 

 

Sonntag, 29.9.2002

 

Der Sonntag, auch der heutige, ist dem Menschen als ein Tag geschenkt, an dem ich nicht entscheidungsfreudig oder engagiert oder mitfühlend oder sonst irgendwie sein muss. Der Sonntag kann der Tag sein, an dem ich nicht besser oder schneller oder schöner als die anderen sein muss. 

 

Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel erzählt in den "Kindergeschichten": 

Am Hofe gab es starke Leute und gescheite Leute, der König war ein König, die Frauen waren schön und die Männer mutig, der Pfarrer fromm und die Küchenmagd fleißig - nur Colombin, Colombin war nichts. Wenn jemand sagte: "Komm, Colombin, kämpf mit mir", sagte Colombin: "Ich bin schwächer als du." Wenn jemand sagte: "Wieviel gibt zwei mal sieben?", sagte Colombin: "Ich bin dümmer als du." Wenn jemand sagte: "Getraust du dich, über den Bach zu springen?", sagte Colombin: "Nein, ich getraue mich nicht." Und wenn der König fragt: "Colombin, was willst du werden?", antwortete Colombin: "Ich will nichts werden, ich bin schon etwas, ich bin Colombin."

 

So verstanden, lässt uns der Sonntag den Freiraum zu spüren: Ich muss nichts werden, ich darf einfach die Person sein, die ich bin. Ich brauche keine Rolle zu spielen, ich muss nichts werden, ich kann einfach sein. Hoffentlich ist heute so ein Sonntag.

 

 

Montag 30.9. 2002

Vielleicht kommt eine abwechslungsreiche und schöne Woche auf Sie zu, vielleicht aber auch eine mühsame oder eine einsame Woche, in der Sie eine Trennung, einen Abschied schmerzlich spüren. 

 

Die Woche liegt vor uns - eine Woche Zeit, die wir gestalten und nützen können. Es ist unsere Lebenszeit, es liegt auch an uns, was wir daraus machen. Mir geht ein Text von Ina Seidel durch den Sinn, "Versäumnis" nennt sie ihn: "Viel zu wenig kenne ich die Bäume, die vor meinem Fenster stehen und rauschen, viel zu selten bauen sich meine Träume Nester - um die Winde zu belauschen, und des Himmels Silberwolkenspiele gehen vorüber, ohne mich zu trösten - Ganz vergessen habe ich so viele Wunder, die mir einst das Herz erlösten."

Eine Woche liegt vor uns, vielleicht wird es eine Woche mit Silberwolkenspielen, eine Woche mit guten Begegnungen und erfreulichen Erfahrungen. Hoffentlich wird es eine Woche, an deren Ende wir nicht sagen müssen: "Viel zu wenig sehe ich die Bäume, die vor meinem Fenster stehen...."

 

 

Dienstag 1.10. 2002

 

Wenn mich ein Gesicht im Fernsehen nicht mehr loslässt, dann fällt mir der Gedanke der Theologin Dorothee Sölle ein: "Hoffnungslosigkeit ist ein Luxus der Reichen." Aus Begegnungen in Lateinamerika beschreibt sie, dass sich bei ihr ein Eindruck verdichtet habe, dass die Leute um so hoffnungsloser waren, je gebildeter und reicher sie waren. Und sie empfindet Hoffnungslosigkeit als eine Art Luxus für diejenigen, die nicht wirklich kämpfen müssen für ihr Leben, für ihr Überleben. 

 

Die Frage hat mich nicht mehr losgelassen: Ich kann es mir leisten, hoffnungslos zu sein, weil mein Alltag geregelt ist, mein Einkommen gesichert und ich nicht für mein "Leben" kämpfen muss. Ich kann es mir leisten, vieles negativ zu sehen, "durchzuhängen", über Kleinigkeiten zu jammern. Der Gedanke von Dorothee Sölle macht mich nachdenklich. 

 

Denn manchmal habe ich den Eindruck, es stimmt, dass wir für uns selbst zu wenig konkret wünschen. Wir wünschen uns zwar noch für unsere Kinder menschliche Schulen, dafür engagieren sich Eltern, aber um menschliche Arbeitszeiten für uns selbst kämpfen wir wenig. Wir halten für unsere Kinder Freunde für ganz wichtig, haben aber selbst nur mehr Kollegen anstelle wirklicher Freunde. Nicht Hoffnungslosigkeit soll mich heute bestimmen, "man kann ja doch nichts ändern", sondern der Mut, auch für mich etwas zu wünschen, auch für mich etwas zu verändern. 

 

Mittwoch 2.10.2002

 

Schutzengelfest

Der Mensch ist den Naturgewalten ausgeliefert, im Straßenverkehr liegt es nicht nur an uns, jeden Tage wieder sicher nach Hause zu kommen, wir erkennen Gefahren, vor denen wir uns nicht einfach schützen können. 

 

In zahlreichen religiösen Traditionen ist von Engeln die Rede, im jüdisch-christlichen Bereich werden "Engel" oft als die sichtbare Seite Gottes bezeichnet. "Engel" sagen wir als Kosewort, wir sagen es zu jemandem, der uns hilft, der uns bewahrt. Und spätestens mit Kindern wissen wir, dass wir sie als Eltern oder Verwandte nicht vor allem Schweren, vor Gefahren und Leid beschützen können. So hoffen wir, so wünschen wir, dass sie einen Schutzengel haben.

 

Das Schutzengelfest erinnert an eine zentrale Glaubenserfahrung: Wir sind behütet und begleitet. In unserem Alltag müssen es nicht Engel mit Flügeln sein, die uns behüten und begleiten, es kann ein "Engel" in der Schulklasse sein oder am Arbeitsplatz, oder jemand, der ein ruhiges Wort sagt im Stress, der ein Lächeln hat oder eine ermutigende Geste. Denn unsere Schutzengel "müssen nicht Engel mit Flügeln sein...."

 

Donnerstag 3. Oktober 2002

 

In einem Cartoon stellt Charlie Brown seinem Freund Linus die Frage: "Denkst du oft an die Zukunft?", und Linus antwortet: "Ja, immerzu." Und was möchtest du werden, wenn du groß bist?, fragt Charlie Brown weiter, und Linus antwortet: "Unwahrscheinlich glücklich." 

 

Was war, was ist mein Lebensziel? Und Linus antwortet nicht: Frau und Kinder und Geld und Einfluss und Anerkennung. Linus sagt ganz einfach: Unwahrscheinlich glücklich. Vielleicht denken Sie sich: Das ist doch naiv, so ein Spruch, mein Leben ist komplizierter, und den Wunsch nach Glücklichsein habe ich längst aufgegeben. Charlie Brown erinnert an den Kinderwunsch: "Was möchtest du werden, wenn du groß bist? - Unwahrscheinlich glücklich."

 

Mir fallen andere Sätze ein: "Was ist Glück? - Ein Dach über dem Kopf, ein paar gute Freunde und keine Zahnschmerzen, das ist schon viel." Es ist viel, ein Dach über dem Kopf zu haben, und ein paar gute Freunde und keine Zahnschmerzen. Die Bibel aber ist weniger bescheiden, da ist von "Leben" die Rede, von "Leben in Fülle" und von "Himmel", von "der Freiheit der Kinder Gottes" und und und. Und so denke ich, dass ich mich nicht bescheiden will, dass wir uns wünschen dürfen: "Was möchtest du werden, wenn du groß bist? - Unwahrscheinlich glücklich." 

 

 

Freitag 4. Oktober 2002

 

Franz von Assisi

Giovanni Bernardone war sein Name, gelebt hat er von 1181/82-1226. Seine christlichen Zeitgenossen nannten ihn "Einfaltspinsel" - "Pazzo". Papst Innozenz III sagte gar zu ihm, als Franz um die Anerkennung seiner Gemeinschaft bat: "Sicher findest du ein paar Schweine, Bruder, die dich in ihren Stall aufnehmen. Ihnen magst du predigen, und vielleicht nehmen sie deine Regel an. Einem Schwein gleichst du jedenfalls eher als einem menschlichen Wesen." 

 

Das Bild des Papstes war zwar negativ gemeint, aber es trifft auch positiv. Für Franz von Assisi waren auch Schweine wertvoll, seine große Liebe galt den Lebewesen, den Pflanzen und Tieren, dem Bruder Sonne und der Schwester Mond, wie es im Italienischen heißt. Franz von Assisi steht für ein Leben im Einklang mit der Natur. Tiere und Pflanzen haben ein Lebensrecht wie der Mensch auch, kein Lebewesen darf auf Kosten der anderen leben. Sogar den Tod bezeichnet er als Bruder, auch der Tod gehört zur Schöpfung, und der Mensch ist Teil dieser Schöpfung.

Vielleicht begleitet Sie der Gedanke durch den Tag....

 

 

Samstag 5. Oktober 2002

 

"Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: "Sie haben sich gar nicht verändert." "Oh,!", sagte Herr K. und erbleichte.

 

Manchmal ist es nicht leicht, zu eigenen Entwicklungen und eigenen Veränderungen zu stehen. "Ja, ich habe mich in den letzten Jahren verändert", das bedeutet auch, Sprache zu finden für diese Veränderungen. Manchmal sagen einem Anverwandte: "Du bist anders geworden, was ist denn mit dir los", und es ist oft nicht einfach, in verständliche Worte zu fassen, was sich wirklich verändert hat. Manchmal ist es aber auch enttäuschend, dass die Umgebung, die Menschen, mit denen wir leben, gar nicht merken, dass wir uns verändert haben.

 

Und dennoch, wir müssen manchmal davon sprechen, dass wir uns verändern. Manchmal müssen wir sagen: Ich habe eine Nacht schlecht geschlafen, da wurde mir deutlich, dass....

oder: Ich stand am Meer und sah die Sterne, das hat mich verändert, oder der unscheinbare Satz eines Freundes, eine Umarmung, mit der ich nicht gerechnet habe... - ich verändere mich, auch wenn es andere Menschen noch nicht merken.

Vielleicht können Sie heute ein wenig davon spüren: Ich habe mich verändert, und das ist gut so.