Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

Pfr. Jürgen Öllinger (Villach, Kärnten)

Sonntag, 20. Oktober 2002

Zufälle

Es gibt keine Zufälle. Diese Feststellung hat mich schon immer geärgert. Heißt das etwa, alle Ereignisse im Leben haben eine tiefere Bedeutung. Kann es sein, dass meine Planung, meine Ziele, meine alltäglichen Taten nur vorläufig sind. Mich hat diese Ansicht auch deshalb genervt, weil sie bei negativen Erlebnissen im Tagesablauf angewandt wurde. Ein defektes Auto, unvorhergesehene Unfälle, misslungene Gespräche. Das soll alles nicht nur ein Zufall sein?

Irgendwann habe ich begonnen, diesen Spruch zu akzeptieren. Anfangs war es nicht leicht, nachzufragen, warum jetzt das Fahrrad einen Platten hat oder jemand partout am Telefon nicht zu erreichen ist. Ich vermute deshalb noch lange nicht hinter jeder Kleinigkeit mein großes Schicksal oder meinen großen Gott. Ich suche auch nicht krampfhaft nach größeren Zusammenhängen für mein kleines Leben. ABER: auch wenn sich hinter den so genannten Zufällen eines Tages kein tieferer Sinn versteckt; Auch wenn da eine ungeordnete Ansammlung von Ereignissen passiert: Ich steige aus meiner Rolle des Ärgerns heraus und betrachte die Dinge noch einmal neu. Dieser Wechsel der Perspektive tut mir überraschend gut, ich sehe ganz neue Zusammenhänge. Und das kann kein Zufall sein.

Montag, 21. Oktober 2002

Gott ist schön blöd

Eine freche These. Ein Schüler hat sie mir im Religionsunterricht vor die Füße geworfen. Aber bevor ich darauf reagieren konnte, hat er sie auch erklärt. Er hat gemeint, dass ihm dieser Gedanke gekommen sei, als er in einer sternklaren Nacht ins All geschaut habe. So groß, so unbeschreiblich, so erstaunlich. Wenn es der Natur schon so leicht möglich ist, uns die Bedeutung unseres Lebens vor Augen zu führen, dann sollte das Gott doch auch können.

Gott ist schön blöd, dass er uns nicht mehr von der anderen Welt zeigt. Vom Jenseits, von dem, was nach dem Tod kommt, vom so genannten Himmel. Würde er das tun, was diese Dimension ohne Raum und Zeit für unsere Wahrnehmung bedeutet, würde das unser Leben grundlegend verändern. Die vielen Wahrheiten, die mein Leben absichern, werden als meine Wahrheiten entlarvt. Ein kleiner Zipfel vom Himmel eröffnet den Menschen wieder Hoffnung, Freude und Staunen. Ein kurzer Blick hinein in den Himmel könnte Gleichgültigkeit, Stumpfsinn und Entmutigung verschwinden lassen. Das Vergessen von Raum und Zeit würde die Aufmerksamkeit wieder auf das Wesen des Lebens lenken. Aber Gott tut es nicht. Eigentlich schön blöd, wo es ihm doch vor allem um die Menschen geht. Das habe ich von meinem Schüler gelernt.

 

Dienstag, 22. Oktober 2002

Penetrante Menschen

In unseren Breitengraden versuchen wir fast jeden Morgen den eigenen Körpergeruch auf ein normales Maß zu trimmen. Mit Dusche, Cremes und Parfum möchte jedermann und „jedefrau“ einen angenehmen Eindruck bei seinen Zeitgenossen hinterlassen. Wer das verabsäumt, wird mit seinem Schwitzen und Penetrieren unangenehm auffallen. In Schulen, Büros oder anderen Arbeitsstellen müssen sich dann Menschen die Kritik gefallen lassen, zu stinken.

Penetrante Menschen wirken da ganz ähnlich. Sie fallen auf, sie werden beurteilt, sie drängen sich auf. Nach unserem Empfinden wirken sie lästig. Es gibt sogar fromme Menschen, die penetrant sind.

Ich habe das Gefühl, dass wir sie brauchen. Diese Leute, die auf die Zehen steigen, ohne sich zu entschuldigen; Menschen, die viel zu nah an mich herankommen, sodass ich sie im ersten Impuls von mir wegstoßen möchte.

 

Sie machen mir bewusst, wie bedroht mein Leben ist, wie wenig von dem selbstverständlich ist, was ich als normal in Anspruch nehme. Wie die Dusche, meine Cremes und mein Parfum. Penetrante Menschen sind auf der Suche nach Beziehung und möchten die Welt weiterbringen und verändern. Sie geben keinen Frieden, sondern möchten von Menschen mehr erfahren, wollen Entscheidungen herbeiführen. Und das stinkt vielen Zeitgenossen.

 

Mittwoch, 23. Oktober 2002

Vergebung

Immer wieder hört man vom außergerichtlichen Tatausgleich. Nach einer Anzeige kommt es nicht zu einer Verurteilung und Strafe, sondern mit einem außergerichtlichen Tatausgleich wird Täter und Opfer an einen Tisch geholt. Mit Hilfe von Therapeuten soll das Gespräch miteinander und eine konkrete Wiedergutmachung gefunden werden.

Ich halte viel von dieser Idee. Als ich allerdings in einem Gespräch darüber von Vergebung sprechen wollte, wurde ich eingebremst. Ich hatte geglaubt, dass es dem Opfer irgendwann möglich sein sollte, seinem Täter zu verzeihen.

Vergebung wird in der Vereinbarung zur Wiedergutmachung ausdrücklich ausgespart, weil sie sonst das Opfer unter Druck setzen könnte.

Ich kann mir vorstellen, dass es sehr lange dauert, bis man bei Ereignissen, wo die Polizei eingeschaltet werden musste, dem anderen die Bitte um Vergebung abnehmen und selbst verzeihen kann.

Trotzdem ist für mich Vergebung eine Grundvoraussetzung für ein freies Leben. Denn wenn ich nicht vergeben kann, wird meine Seele irgendwann krank. Wenn ich nicht gelernt habe, anderen oder mir zu verzeihen, werde ich gefangen bleiben und der Freiheit des Lebens ohne Schuld und Ungerechtigkeit nachtrauern. Und das scheint mir eine schlimme Strafe zu sein.

Donnerstag, 24. Oktober 2002

Was ist schon Zeit

Wenn man mitten im Arbeitsprozess steckt, ist es manchmal schwierig, den Überblick zu bewahren. Aber jeder kennt die Frage, was man an diesem Tag noch erledigen muss. Viele machen sich auch Gedanken, was in dieser Woche noch alles dran ist. Einige planen die Monate genau durch. Von Zeit zu Zeit ist es wohltuend, nach den eigenen Träumen zu fragen. Was würde ich gerne verwirklichen. Wenn ich dann meine romantischen Träumereien mit den Tages- oder Wochenzielen vergleiche, werde ich zwei Wege beschreiten. Ich werde möglichst schnell meine Visionen vergessen bzw. auf ein später verschieben. Oder ich werde beginnen, meine Zielübungen zu verändern. Meine Tage, Wochen oder Monate nach dem immer wieder abklopfen, was da in meinem Innersten schlummert und mich am Leben erhält. Beide Wege sind neu und schwierig und steinig.

Denn wenn ich meine Träume formuliere, um sie dann zu vergessen, werde ich andere Möglichkeiten suchen müssen. Und wenn ich meinen Träumen nachjage, werde ich viele Dinge unter einem neuen Aspekt erkennen. Ich lasse mich dann nicht mehr vom Arbeitsprozess einspannen und lasse nicht mehr zu, dass ich nur mehr gelebt werde. Ich habe dann wieder die Gewissheit, dass mein Leben ein größeres Ziel hat.

Freitag, 25. Oktober 2002

Angst

Der Morgen hat die Geister des Einschlafens wieder vertrieben. Kinder kennen die Furcht vor der Finsternis gut. Sie haben Angst vor der Dunkelheit, dem Diffusen, den Geräuschen und Schatten der Nacht. Angst begleitet uns ein Leben lang. Erwachsene haben auch Angst vor dem Dunklen, Diffusen.

Sie ist es auch, die uns viele Dinge vermeiden lässt. Zum Guten erkennen wir die Gefahren des Lebens.

Andererseits haben wir Angst, mit Menschen klar und deutlich zu reden. Ein offenes Wort scheitert manchmal daran, dass die Menschen sich fürchten vor dem, was da auf sie zukommen könnte. Sie wissen nicht, was passiert und wie sie damit umgehen sollen und lassen sich so von ihrer Angst steuern.

 

Wir fürchten uns vor grundlegenden Entscheidungen, wenn wir einige im Leben schon hinter uns haben. Und warum diese Angst? Ich glaube, weil wir Sicherheit brauchen. Wie die Kinder, die am Abend die Gewissheit des Schutzes oder des Lichts am Gang brauchen, damit sie in Frieden einschlafen können.

Die Geister des Schlafes müssen aber für ein waches Leben vertrieben werden, weil wir uns sonst nie auskennen werden, was in unserer Welt geschieht

Samstag, 26. Oktober 2002

Fahnen

Heute sind wieder Fahnen gefragt. In den USA oder in Holland gehören sie zum normalen Straßenbild an staatlichen Feiertagen. Bei uns sind sie immer wieder umstritten. Dabei kann man so gut in unserem Land leben, sind die Menschen nicht interessiert an Kriegen und die Hilfsbereitschaft wird dokumentiert. Wir können stolz sein auf unsere Nation. Wir brauchen nicht so dick auftragen, weil wir wertvoller sind als wir denken. Wir brauchen unsere Nation ohne den Nationalismus. Wir brauchen unsere Heimat ohne rassistische Untergriffe. Wir brauchen unsere Wurzeln, auch wenn sie über die Grenzen nach Nord und Süd reichen. Denn ohne Wurzeln hängen wir wie lose Äste in der Luft. Wenn wir nicht wissen, woher wir kommen, haben wir keine Ahnung, wohin wir gehen. Die Kirchen vergessen diesen Bezug nicht, indem sie Heilige verehren oder bei jeder Taufe darauf hinweisen, dass der kleine Erdenbürger jetzt eine größere Familie durch die Pfarrgemeinde bekommt. Er soll wissen, dass er von Gott herkommt und jetzt fröhlich in seiner Welt und Kirche leben kann. Er soll in seiner Familie erleben, dass die Menschen stolz auf ihn sind. Vielleicht haben wir das noch immer zu wenig gehört, damit wir auch fröhlich stolz sein können auf unsere Nation.