Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
Mag.
Dr. Gerhard Gäbler
Rektor
des Evangelischen Diakoniewerkes Gallneukirchen (Oberösterreich)
Sonntag,
27. Oktober 2002
“Mitgefühl”
Bereit
sein zum Mitgefühl, bei seinem Auftreten vor einigen Tagen in Graz
hat der Dalai Lama diese zentrale Botschaft seiner religiösen Überzeugung
den Zuhörerinnen und Zuhörern sozusagen ans Herz gelegt. Das ist
ein Anliegen, das hoffentlich auch in unserem Land wahrgenommen
wird! Aber in einer Zeit, in der oft nur von Konkurrenz, von
Wirtschaftswachstum, fallenden Börsenkursen und Angst vor dem
Terror gesprochen wird, ist das ein Anliegen, leise vorgetragen oft
genug überhört wird. Um zum Mitgefühl bereit zu sein müssen wir
erst einmal uns selbst fragen, welche Prioritäten wir für unser
Leben setzen und welche Aufgaben wir in dieser Welt haben. Die
Bereitschaft zum Mitgefühl und die Freiheit dazu - denke ich - ist
bei den meisten Menschen vorhanden, aber oft zugeschüttet.
Sich
auf die Suche nach dieser Fähigkeit zum Mitgefühl zu begeben,
bedeutet eine Freiheit gewinnen, die den Wunsch nach Echtheit und
nach Menschlichkeit ermöglicht. Wer diesen Weg einschlägt und wer
dabei trotz aller Bedrohlichkeiten, Zwänge und Ängste das
Bereitsein zum Mitgefühl nicht aus den Augen verliert, der wird
Menschlichkeit und Nächstenliebe in seinem Leben entdecken und
gestalten.
Montag,
28. Oktober 2002
Aktive
Geduld
Bewahrung
der Schöpfung, Gerechtigkeit und Frieden, vor einigen Jahren wurde
diese Anliegen in einer großen Versammlung aller christlichen
Kirchen Europas als zentrales Anliegen formuliert. Die Realität
erleben wir heute anders:
Die
Verkehrslawine nimmt zu, die Klimaveränderung mit unabsehbaren
Folgen zeichnet sich ab, Millionen Menschen auf dieser Welt hungern,
obwohl wir Möglichkeiten hätten, alle zu ernähren. Und auch der
Krieg wird noch immer von den Mächtigen dieser Welt als Konfliktlöser
gesehen. Eine bekannte Haltung dazu wäre, die zynische Akzeptanz
dieser Realität und das Übergehen zur Tagesordnung.
Eine
andere Haltung dazu ist, die Hoffnung auf Veränderung nicht
aufzugeben. Um dazu fähig und bereit zu werden, brauchen wir
Geduld. Eine aktive Geduld, die Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit
wahrnimmt und zugleich bereit ist, die Stimme zu erheben. Die
Debatte um Flüchtlinge in unserem Land ist eine Debatte, in der
Geduld wichtig ist. Menschen dürfen nicht durch Gesetz und
Verordnung in die Obdachlosigkeit geschickt werden. Ganz abgesehen
davon, welche Haltung ich zu Flüchtlingen und Asylanten habe.
Aktive Geduld, bereit wahrzunehmen und die Stimme zu erheben, ist
auch bereit, den Mitmenschen, so wie er ist anzunehmen, ihn und sie
als Mensch zu schätzen und immer wieder neu für faire
Lebensbedingungen zu sorgen. Das ist eigentlich ein Konsens in
unserem Land über alle ideologischen Lager hinweg und deshalb wird
es die aktive Geduld sein, die uns immer wieder Hoffnung schenkt und
uns arbeiten lässt an einer gemeinsamen Zukunft für alle.
Dienstag,
29. Oktober 2002
Lebensfreude
und Glück
Es
gibt Menschen, die werden von der Fülle der Probleme und
Anforderungen so zugedeckt, dass Lebensfreude und -perspektiven fast
schon verschwunden sind. Es ist ein interessantes Phänomen, dass
dieser Eindruck sehr abhängig von der subjektiven Befindlichkeit
ist und davon wie ich mit Herausforderungen und Problemen umgehe.
Wie definieren wir uns selbst? Wo sind unsere eigenen
Wertvorstellungen? Was möchte ich genießen? Wie möchte ich mich
wohlfühlen? In der Bibel gibt es an einigen Stellen Erzählungen über
Dämonenaustreibungen. Dies scheint für uns heute eine fremde Welt
zu sein. Der Kern dieser Geschichten Jesu mit den Menschen ist sein
kraftvolles und lebensförderndes Auftreten gegen die destruktiven
Einflüsse und Stimmen, die uns Lebensfreude und Zuversicht nehmen
wollen. Es sind die Stimmen der Lebensverneinung, ja der
Sinnlosigkeit. Jeder und jede nimmt solche Stimmungen auf und hört
sie. Diesen Dämonen unserer Zeit, dem geballten Übermaß an
schlechten Nachrichten, steht die Wahrnehmung der Stimmen gegenüber,
die lebensfördernd, sinnstiftend und glücklich machen. Diesen
Stimmen sollten wir nachgeben, um Lebensfreude, neu zu genießen, Glück
wieder zu finden und so stark zu werden, um die Fülle der Probleme
und Herausforderungen bewältigen zu können.
Mittwoch,
30. Oktober 2002
Solidarität
Heute
ist oft von der Entsolidarisierung der Gesellschaft die Rede.
Vereinsamung, Singlehaushalte, Alterspyramide - Schlagworte, die uns
Angst machen, weil wir alle in unserem Innersten wissen, dass
Vereinzelung und Isolation die größten Gefahren für unsere
Lebensqualität bedeuten. Und das trotz der Kommunikationsmittel,
die wir heute haben. Ich denke an die vielen E-Mails, die versandt
werden, an die Möglichkeiten mit vielen Menschen gleichzeitig zu
kommunizieren. In der Arbeitswelt von heute und morgen sollen
Menschlichkeit, Fairness und Chancengleichheit vorherrschen und die
Menschen sollten wichtiger bleiben als die Computer. Das sind
zentrale Wünsche der Österreicher und Österreicherinnen, die in
einer Studie vor einigen Jahren formuliert wurden. Dazu müssen wir
aber selbst etwas beitragen. Solidarität ist erlernbar. Zuhören können,
einem Kranken die Hand halten, eine Trauernde begleiten, eine
Verzweifelte trösten, einen Gefangenen besuchen, einem Fremden
Gastfreundschaft gewähren. Wenn wir das versuchen, werden wir sehr
schnell spüren, dass Sympathie und Mitgefühl in uns stecken und
dass Solidarität unter uns ein Wert ist, der unverzichtbar ist.
Donnerstag,
31. Oktober 2002
Reformationstag
Vor
fast 500 Jahren am 31.10.1517 hat Martin Luther seine Thesen zur
Reform der damaligen Kirche veröffentlicht. Damit war eine
Entwicklung eingeleitet, die in der Folge zur Veränderung der
Kirchen, zu Kirchenspaltungen, zu neuen Kirchengründungen, aber
auch zu Konfessionskriegen führte, und bis heute Auswirkungen in
das persönliche Leben von einzelnen Menschen, von Gesellschaften
und Staaten hat. Martin Luther versucht, den Kern der christlichen
Botschaft wieder neu zu entdecken. Der Gott, an den Christinnen und
Christen glauben ist ein Gott des Lebens, der Vergebung, der Versöhnung
und der Liebe. Ohne Wenn und Aber. Das ist eine Botschaft, die heute
hoffentlich in allen christlichen Kirchen wie selbstverständlich
vertreten wird. Die Veröffentlichung seiner Thesen bedeutete aber
Veränderung. Und Veränderung bedeutet Menschen auch zu
verunsichern und Menschen Angst zu machen. Das war nicht
beabsichtigt. So wie wir Menschen uns als Persönlichkeiten in einem
Leben verändern und weiter entwickeln, genauso ist es notwendig,
dass sich Kirchen verändern, weiter entwickeln und die christliche
Botschaft in die jeweilige aktuelle Situation der Welt, der Menschen
formulieren und davon ein glaubwürdiges Zeugnis abgeben. Deshalb
ist der Reformationstag der Evangelischen Kirchen nicht nur ein Tag
der Rückbesinnung, sondern ein Tag der Vergewisserung, dass der
christliche Glaube heute noch genauso aktuell lebensbejahend und
sinnstiftend ist wie vor 500 Jahren oder 2000 Jahren.
Freitag,
1. November 2002
Allerheiligen
In
diesen Tagen gehen viele Menschen auf die Friedhöfe, um Gräber zu
schmücken, um an Verstorbene zu denken und über Menschen zu
trauern, die ihnen nahe gestanden sind, die wichtig waren und ein
Teil des eigenen Lebens gewesen sind. Wir brauchen solche Orte zur
Trauer. Es sind Räume, wo wir klagen können, wo Schwäche und
Ohnmacht, die auch zu unserem Leben gehören, offen gelegt werden.
Die Tradition, auf die Friedhöfe zu gehen, heute vielleicht auch an
Gottesdiensten auf den Friedhöfen teilzunehmen, ist eine Chance,
Orte der Klage und der Trauer zu haben, damit wir das, was uns
vergeblich, unverständlich und sinnlos erscheint, aus uns
hervorholen. Ausdruck der Klage und der Trauer befreien zu neuer
Lebendigkeit. Die Psalmen der Bibel sind dazu eindrucksvolle
Beispiele. Wenn Sie am heutigen Allerheiligen-Tag zu einer solchen
neuen Lebendigkeit finden, dann ist der Gang zum Friedhof, das Schmücken
der Gräber, die Einkehr am Grab, das Gedenken an Verstorbene eine
Chance für das eigene Leben, um den Verlust eines lieben Menschen,
das Zerbrechen von Beziehungen auszuhalten und neue Lebenshoffnung
zu finden.
Samstag,
2. November 2002
Dankbarkeit
Unser
Leben ist oft geprägt von dem Blick auf die Probleme, auf die
Konflikte, die uns beschäftigen, auf die Sorgen, die wir haben,
auch auf die Ängste, die wir empfinden. Vieles von dem, was wir für
selbstverständlich verwenden und gebrauchen, was unser Leben so ermöglicht
wie es ist, vieles ist einfach da. Und oft fällt uns das gar nicht
mehr auf. Und trotzdem sind wir unzufrieden mit uns, mit unserer
Umgebung, mit der Welt! Wir meinen Vieles versäumt zu haben, denken
alles müsste und sollte noch viel besser sein. So entdecken wir oft
erst in der Krankheit, wie schön es ist, gesund zu sein, aufstehen
und sich bewegen zu können, Menschen zu treffen, über sich selber
entscheiden zu können. Wenn wir unseren Blick und unsere Gedanken
auf diese Seiten des Lebens richten, dann empfinden wir fast wie
selbstverständlich, Dankbarkeit. Und das könnte ein Schlüssel
sein, das eigene Leben und den Umgang mit den Mitmenschen neu und
menschlicher zu gestalten. Denn aus der Dankbarkeit entsteht die Fähigkeit,
das Leben wieder neu schätzen zu lernen. In der Dankbarkeit
entdecken wir die Menschen neu, die uns begleiten, die uns unterstützen.
Im „Dankesagen“ entdecken wir eine Lebenshaltung, die sehr wohl
wahrnimmt, wenn Menschen in der Nähe oder in der Ferne, von Not
betroffen und von Grenzsituationen des Lebens bedroht sind. Aus der
Dankbarkeit wachsen Mitgefühl, Sympathie und Nächstenliebe.
|