Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
Lise
Abid (Wien)
Sonntag, 3. November 2002
"Herbststimmung"
Draußen
wird es kühl und diesig, und jeden Tag wird es in der Früh ein
bisschen später hell und am Abend ein wenig früher dunkel.
Auf
den Sonnenaufgang und -Untergang achten jetzt besonders die Anhänger
des Islam, denn in wenigen Tagen beginnt der Fastenmonat Ramadan.
Dann heißt es für Muslime, von der Morgendämmerung bis nach
Sonnenuntergang nichts zu essen oder zu trinken, nicht zu rauchen -
und während der Stunden des Fastens auch keinen Sex.
Warum
hält man sich an so was, fragen viele. Warum soll man sich so
"kasteien"? Ist das nicht sturer Gehorsam gegenüber ein
paar seltsamen Regeln? Für uns Muslime entspringt das Fasten einem
natürlichen Kreislauf. Ich spüre, wie diese "Auszeit"
dem Körper und der Seele gut tut. Jeder hat ja so seine kleinen
Laster. Ich nasche zum Beispiel gerne und kann bei Schokolade nie
rechtzeitig aufhören. Andere rauchen, und aus den vorgenommenen
"nur 5 Zigaretten pro Tag" werden schnell zehn, vielleicht
irgendwann eine ganze Packung. Wenn es, wie im Ramadan, einmal im
Jahr "STOPP" heißt, achtet man besser auf diese kleinen
Gewohnheiten. Abends zum Fastenbrechen isst man zuerst eine
Kleinigkeit oder nimmt ein paar Datteln mit frischem Wasser. Dann
wird gebetet und erst dann folgt die Mahlzeit. Ich stopfe mich
nachher nicht mehr unkontrolliert mit Schokolade voll, wie ich es
sonst im Stress des Arbeitstages öfters tue und mich dann mit dem
Schlagwort tröste: "Frauen brauchen Schokolade". Jetzt
kann ich mir beweisen, dass es auch anders geht. Das ist wie Urlaub
vom ungebremsten Konsum.
Montag, 4. November 2002
"Sturer
Gehorsam?"
Vorschriften
und Regeln sind in unserer Zeit äußerst unpopulär geworden. Das
hat man schon gern, wenn einem jemand etwas vorschreibt! Besonders
die Jugend findet es viel interessanter, sich über die kleinen und
manchmal auch die größeren Regeln und Verbote hinweg zu setzen.
Als Kind muss man den Eltern "folgen", in der Schule quälen
einen die Lehrer mit Vorschriften, und als Jugendlicher kommt man
langsam in das Alter, wo die Gesellschaft von einem erwartet, dass
man sich an ihre Spielregeln hält - im öffentlichen Leben, aber
auch im privaten und natürlich in Ausbildung und Beruf. An was man
sich da alles halten soll!!
Gerade
beim Islam sieht es oft so aus, als würde diese Religion nur aus
Geboten und Verboten bestehen. Der Islam ist aber ein umfassendes
Lebenssystem. Nicht die Vorschriften sind das Wesentliche daran,
sondern die Harmonie, die durch sie erreicht werden soll. Muslime,
die versuchen, im Einklang mit den Lehren ihrer Religion zu leben,
gewinnen immer mehr harmonische Übereinstimmung - mit den
Mitmenschen, mit ihrer Familie, mit der Schöpfung und ihrem Schöpfer.
Manche
Vorschriften sind also durchaus sinnvoll - wie Verkehrszeichen, die
einen schneller ans Ziel führen und einem Umwege ersparen. Andere
sind wie Einbahnschilder - und Einbahnen sind besonders dann lästig,
wenn man ohne Stadtplan unterwegs ist oder wenn man nicht genau weiß,
wo man eigentlich hin will. Mit den religiösen Vorschriften ist es
ähnlich: wenn wir ihr Ziel aus den Augen verlieren und nur noch den
Buchstaben sehen, machen wir sie zu Einbahnschildern und können von
ihrer Weisheit nicht profitieren.
Dienstag, 5. November 2002
"Pausen,
die Frieden bringen"
Pause.
Arbeitspause, Denkpause, Esspause, Ruhepause … Mit dem Wörtchen
"Pause" verbinden wir normalerweise etwas Angenehmes. Der
Fastenmonat Ramadan, der jetzt für die Muslime beginnt, ist auch so
eine Pause.
Dass
das zunächst Pause vom Essen bedeutet, ist zwar bekannt, aber das
ist nur das Auffälligste am Ramadan. Was wirklich in die Tiefe der
menschlichen Seele geht, ist die Denkpause, das Besinnliche, das uns
der Ramadan beschert. Man macht Pause vom üblichen Tagesablauf, die
Mittagspause wird zur Meditationspause, der Stress macht Pause. Das
ist wohl der wichtigste Ansatz des Ramadan.
Wenn
ich fast, wende ich mich ab von der Hektik der Welt, verrichte zwar
meine Arbeit, doch in allem gewinnt das Spirituelle langsam die
Oberhand über das Materielle. Auch im Tagesablauf - denn je mehr
die Zeit fortschreitet, desto leerer wird der Magen - und als Mensch
fühle ich meine Schwäche.
Gläubige
Muslime unterwerfen sich ihren strengen Fastengeboten, weil sie mit
Gott Frieden machen und dadurch Frieden mit den Menschen erreichen
wollen. Auch dem sozialen Frieden möchten sie näherkommen, indem
sie mit den Hungernden teilen, die das ganze Jahr über unfreiwillig
fasten.
Eine
ganz lange Pause würde auch den Konfliktherden der Weltpolitik gut
tun - wenn man alle Feuerpausen, Kampfpausen... und ähnliches in
eine Nachdenkpause verwandeln würde, um sich endlich die Hand zu
reichen -
Mittwoch, 6. November 2002
"Menschliche
Wärme"
Wieder
ist Ramadan, der muslimische Fastenmonat.
In der
kalten Jahreszeit fehlt dem Körper die Wärme, die einem durch
energie- reiche Nahrung zugeführt wird. Tagsüber, während der
Stunden des Fastens, wird auch nichts getrunken. Durstig wird man
aber jetzt kaum - eher friert man sogar im geheizten Zimmer, wenn
man keine Nahrung zu sich nimmt. Sicher, man hungert auch im
Ramadan, obwohl jetzt die Tage kurz sind. Aber schon kurz nach halb
fünf Uhr nachmittags kann man sich ja aufs Essen freuen.
Gerade
wenn ich tagsüber friere und die Heizung höher schalte, denke ich
manchmal daran, was jene Menschen tun, die jetzt keine automatische
Heizung haben, oft nicht einmal Holz oder anderes Brennmaterial. Die
in Zelten leben und nicht einmal Decken haben. Wenn dann auch kein
sauberes Wasser da ist und man es erst einmal abkochen müsste....
kein Brennmaterial..... kein heißer Tee, kein duftender Kaffee....
kein dampfendes Essen..... keine Wärme.
Mitten
in der Wohlstandsoase kann ich nur im Ramadan am eigenen Leib
erfahren, wie es ist, wenn man wirklich hungrig und durstig ist und
friert. Doch die Kälte von außen wird aufgewogen durch die Wärme,
die im Inneren entsteht. Menschliche Wärme, die man gerade im
Ramadan anderen zuteil werden lässt - das wärmt die eigene Seele.
Ich möchte das aber auch anderen Menschen mitteilen. Der Prophet
Mohammed sagte:
"Ein
freundliches Lächeln, mit dem du deinen Mitmenschen begegnest, ist
wie ein Geschenk".
Donnerstag, 7. November 2002
"Vergänglichkeit
und Beständigkeit"
Mehr
als jede andere Jahreszeit gilt der Herbst als Symbol der Vergänglichkeit.
In diese Jahreszeit passt der islamische Fastenmonat Ramadan
eigentlich sehr gut. Die Fastenzeit erinnert gläubige Muslime
daran, dass alles vergänglich ist. Nicht nur die flüchtigen körperlichen
Genüsse wie Essen, Trinken und alle möglichen Vergnügungen
spielen im menschlichen Leben eine Rolle. Geist und Seele haben auch
ihre Bedürfnisse, und in den meisten Religionen nehmen sie eine
besondere Stellung ein, weil sie als nicht vergänglich gelten.
Jetzt,
wenn die Tage kürzer sind, geht so ein Fasttag schnell vorüber und
auch die fünf täglichen Gebete folgen schneller aufeinander. Am
Abend nach dem Fastenbrechen kommen die Freuden der Sinne wieder zu
ihrem Recht.
Doch
halt! - es gibt auf unserer Welt so viele, die den Tag nicht mit
einer guten Mahlzeit beenden können. Dass Menschen vor Hunger und
Erschöpfung sterben, dass ihr Leben durch Krankheiten verkürzt
wird, die durch verschmutztes Wasser verursacht werden, dass Kinder
sterben müssen, weil der nächste Arzt einige Tagereisen weit
entfernt ist - das ist eine Vergänglichkeit, die ich als Muslima
nicht akzeptieren kann. Gerade im Ramadan müssen Muslime dagegen
etwas tun und benachteiligten Menschen Hilfe zukommen lassen. Denn
Wohltätigkeit und Menschlichkeit sind nicht vergänglich.
Freitag, 8. November 2002
"Solidarität"
Gute
Taten werden belohnt - dieser Gedanke findet sich in der einen oder
anderen Form wohl in allen Religionen - auch im Islam. Wie diese
Belohnung aussehen soll, ist aber eines der großen Geheimnisse -
auch wenn im Koran die Freuden des Paradieses oft recht lebhaft
geschildert werden. Doch der Lohn in dieser Welt ist nicht weniger
kostbar: das dankbare Lächeln eines Menschen, dem man geholfen hat,
ein freundliches Wort, Verständigung und menschliche Wärme im
rauen Klima des Alltags.
Das
haben auch einige junge Muslime erfahren, die nach der Überschwemmung
im vergangenen Sommer in den Hochwasser-Gebieten Hilfe leisteten.
Sie haben sich ganz spontan dazu entschlossen, fuhren nach Oberösterreich
nahmen dort an Aufräumarbeiten teil. Schlamm, Steine und Geröll
wurden entfernt, Böden gereinigt, kaputte Möbel und Hausrat zu den
Sammelplätzen gebracht.
Diese
jungen Muslime zeigten ein ganz natürliches und praktisches Verständnis
ihrer Glaubenslehren. Es sind Jugendliche, die sich in ihrer
Freizeit für Sport begeistern, im Sommer Wanderungen unternehmen,
im Winter Snowboard-Camps organisieren, die zusammen beten und
gemeinsam den Koran lesen und darüber diskutieren. Da gibt es auch
muslimische Pfadfinder-Gruppen, und Mädchen sind üblicherweise mit
dabei. Jetzt, im Fastenmonat Ramadan, kommen auch ihre Familien oft
zusammen. Beim abendlichen Fastenbrechen gibt es immer Gelegenheit,
Erfahrungen und Erinnerungen auszutauschen - und Hilfe anzubieten,
wenn jemand sie braucht.
Samstag, 9. November 2002
"Versöhnung
und Frieden muss möglich sein"
"Soll
ich euch zeigen, was im Diesseits und im Jenseits der edelste
Charakter ist?", fragte Mohammed einmal seine Gefährten, und
er fügte hinzu: "Wendet euch dem zu, der sich von euch
abgewandt hat und gebt dem, der euch nichts gab, und verzeiht dem,
der euch Unrecht getan hat."
Ramadan
bedeutet also nicht nur Fasten, sondern auch innehalten, um die
Menschlichkeit wieder hereinzulassen und Versöhnung geschehen zu
lassen. Ein erster Schritt dazu wäre, auf Friedensangebote
einzugehen. Der Koran fordert die Muslime ganz deutlich zu diesem
Schritt auf und sagt: "...Wenn sie jedoch zum Frieden geneigt
sind, so sei auch du ihm geneigt und vertraue auf Gott."
Frieden
und Gerechtigkeit sind erstrebenswerte Ziele für alle Menschen.
"Gott lädt ein, zum Haus des Friedens, und er leitet wen er
will, auf den geraden Weg," heißt es im Koran. Die Einladung
ins gemeinsame Haus des Friedens gilt für alle Menschen, doch um
dorthin zu gelangen, müssen wir akzeptieren, dass nicht jeder den
selben Weg wählt. "Es sei kein Zwang im Glauben", verkündet
das heilige Buch der Muslime. Die Weltanschauung des anderen zu
respektieren - auch daran soll uns der Ramadan erinnern, denn - so
heißt es im Koran - "...im Gedenken an Gott finden die Herzen
Frieden".
Wenn
man am Ende des Ramadan dann ein frohes Fest feiert, kann man etwas
mitnehmen, das das ganze Jahr über fortwirkt und das vielleicht im
Dialog mit Andersdenkenden Früchte trägt - denn Frieden soll
dauerhaft sein.
|