Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

von Pfr. Wolfgang Olschbaur, Bregenz

 

Sonntag, 29. Dezember

Ehe das Jesuskind wieder in der Weihnachtstruhe verschwindet, zusammen mit Maria und Josef, den Engeln und den frommen Hirten, bis sie im nächsten Jahr dann wieder die Weihnachtsgeschichte erzählen dürfen, möchte ich ein Wort für die Esel einlegen, denn ohne sie gäbe es gar keine Weihnachten, gäbe es keine Flucht nach Ägypten und auch keine Rettung vor Herodes. Esel sind nicht so teilnahmslos und dämlich wie sie vielleicht wirken.

 

Es gibt da bei Thornten Wilder eine liebenswürdige und scharfsinnige Eselin. Sie heißt Hephzipa und kann sprechen: „Weißt du, Maria, ich bin Leiterin einer Frauengruppe. Ich sage den andern immer, Mädles, auch in Glaubensdingen müsst ihr euren Verstand gebrauchen! Die Kinder z.B., die Herodes umbringen lässt, warum werden sie geboren, wenn sie so jung sterben müssen? Kann mir das jemand beantworten? Oder anders gesagt: Warum wird der Bub in deinem Arm gerettet, während viele andere so leiden und so sterben müssen?“ Auf diese Frage gibt es keine Antwort.

 

Die Geschichte vom „Frieden auf Erden“ hat die Brutalität in der Welt nicht aufgehoben, sondern das Leben nur noch rätselhafter gemacht.

Es bleiben so viele Mörder-, Schreckens- und Unrechtsgeschichten übrig. Und die Welt ist wunderlich, in der wir es nicht den Mächtigen verdanken, sondern den Eseln, die die Fragen aufwerfen und die hoffen, dass Gott trotz allem noch in der Welt bleibt.

 

Montag, 30. Dezember 2002

Ich liebe diese Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. Ein bisschen liegt noch der Duft des Festes in der Luft, aber nicht so beladen mit Erwartungen an Frieden und Harmonie. Jetzt ist alles kühler und entspannter.Der Blick geht zurück und nach vorn.

 

Das alte Jahr liegt wie ein Land hinter mir, das ich noch nicht ganz verlassen habe. Das neue liegt unbetreten vor mir. Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen und Vorschau zu halten.

 

Hinter mir: Begegnungen, Gespräche, Menschen, Verluste und Gewinne, Leer- und Irrläufe, Glück und Unglück, Gelungenes und Vertanes, alles in allem: ein Jahr in meinem Leben. Und offen noch die Frage: Wer war froh, dass es dich gab?

 

Das Land vor mir? Neuland noch. Unbetretenes, wie frisch gefallener Schnee. Hoffnungen, Befürchtungen, offene Fragen.

 

Dag Hammarsjköld, der frühere UNO-Generalsekretär, hat zu Jahresbeginn immer in sein Tagebuch geschrieben: Dem Alten: Dank! -

Dem Neuen: Ja!

 

So will auch ich mich aufmachen, nicht zurückblicken im Zorn, sondern dankbar – trotz allem – und offen bleiben für Neues.

 

Als sich Abraham auf den Weg ins unbekannte Land gemacht hat, da hat ihm Gott gesagt: Ich will dich segnen, - und du sollst ein Segen sein! Beides ist also gleich wichtig: Dass meine Wege gut sind und dass ich andern gut tue.

 

Dienstag, 31. Dezember 2002

Dieser Tag heute lebt vom Abend her. Wie zu Weihnachten gibt es Rituale. Am Vormittag noch letzte Besorgungen. Der eine oder andere Knallfrosch muss her. Und Marzipanschweinchen nicht vergessen!

 

Dann ein Nachmittagsspaziergang vielleicht – immerhin, der letzte Tag im Jahr. Rückblick und Ausblick. Man lädt sich Gäste ein oder lässt sich einladen. Möglichst kein „Dinner for one“. Bleigießen ist out.

 

Und dann die Glocken. Hinaustreten auf den Balkon – oder auf die Strasse vor dem Haus. Man stößt mit Nachbarn an, mit denen man sonst kein Wort spricht. Der bunte Nachthimmel! Und wie laut es ist! Sonst Störung der Nachtruhe, heute ist es erlaubt. Die Hunde werden’s verzeihen und die Kranken auch. Feuerwerk! Laut ausgerufene Hoffnung auf ein gutes Neues Jahr, verpackt in bunten Sprühnebel. Besser Böller als echte Raketen am Nachthimmel, wenn Städte bombardiert werden und Menschen im Krieg umkommen!

 

Auch Horoskope werden gestellt. Man will schließlich wissen, was die Zukunft bringt. Es gibt Firmen, die eine Umtauschgarantie geben aufs Horoskop. Man bekommt das Geld zurück, wenn es nicht gefällt.

 

Silvester 1944: Dietrich Bonhoeffer sitzt in seiner Gefängniszelle in Berlin, er ahnt sein Ende, denkt an seine Lieben und schreibt ihnen einen Abschiedsgruss:

„Von guten Mächten wunderbar geborgen,

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist mit uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

 

 

Mittwoch, 1. Januar 2003

Neujahr ist’s! Was wünscht man sich zum Neuen Jahr?

Vielleicht: Viel Glück – oder alles Gute – oder vielleicht auch:

Gottes Segen!

 

In einem alten irischen Neujahrswunsch heißt es:

Dass Du von allem Leid verschont mögest bleiben,

dass Dir auf allen Deinen Wegen Rosen gestreut werden

und dass keine Träne über Deine Wange fließe,

das alles wünsche ich Dir nicht!

 

Mein Wunsch für Dich ist dieser:

Dass dankbar Du die kostbaren Erinnerungen an gute Dinge

in deinem Herzen Dir bewahrst,

dass mutig Du die Prüfungen bestehst, die Dir zu schaffen machen,

wenn das Ziel schier unerreichbar scheint;

dass jene Gabe mit den Jahren in Dir wachse,

mit der Du froh machst die Herzen derer, die Dich lieben;

dass immer einen wahren Freund Du hast,

dem Du vertrauen kannst,

mit dessen Hilfe Du den Stürmen standhältst

und Du so die Höhen doch erreichst;

dass in Freud’ und Leid das Lächeln

des menschgeword’nen Gottessohnes mit Dir sei,

und Du allezeit so innig mit ihm verbunden bist,

wie er’s für Dich ersehnt.

 

In der Ukraine soll man sich am Neujahrsmorgen folgendes zurufen:

 

Gott schicke

den Tyrannen Läuse,

den Einsamen Hunde,

den Kindern Schmetterlinge,

den Frauen Nerze,

den Männern Wildschweine

- uns allen aber einen Adler,

der uns auf seinen Fittichen

zu IHM trägt.

 

Donnerstag, 2. Januar 2003

Gott gab die Zeit... Manche meinen aber, sie sei vom Teufel. Die Stunden fliegen dahin, und ehe man sich versieht, ist die Zeit abgelaufen.

 

Das Weihnachtsfest ist vorbei, die ersten Spielsachen der Kinder sind bereits kaputt. Aus 2002 ist 2003 geworden. Wo ist nur die Zeit geblieben?

 

Als Junger möchte man so schnell es geht erwachsen werden.

Als Erwachsener fürchtet man, schon zu alt zu sein. Und wenn man einmal alt geworden ist, bleibt einem nichts anderes übrig, als die vergangene Zeit zu überblicken. Die Zeit foppt einen durch ihre Unstetigkeit.

 

Ein Südseehäuptling hat vor fast hundert Jahren Europa besucht und beobachtet, wie die Europäer mit der Zeit umgehen. Sie zerschneiden sie gerade so, als führe man kreuzweise mit einem Buschmesser durch eine weiche Kokosnuss. Ihre Teile nennen sie dann: Sekunden, Minuten, Stunden. Es gibt kaum Menschen, die wirklich Zeit haben. Sie rennen meistens durchs Leben, wie ein geworfener Stein.

 

Die Zeit entschlüpft ihnen wie eine nasse Schlange in der Hand, gerade, weil sie sie so sehr festhalten. Sie lassen sie nicht an sich herankommen.

 

Die Zeit aber liebt die Ruhe und das breite Lagern auf der Matte.

Der Europäer versteht die Zeit nicht und deshalb misshandelt er sie mit seinen rohen Sitten.

 

Vom Südseehäuptling will ich lernen: Es wird Zeit, dass es Zeit wird!

Und: Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens.

 

Freitag, 3. Januar 2003

Von Zeit zu Zeit haben die Mayas ihren Hausrat vernichtet, das Geschirr zertrümmert und den Schmuck weggeworfen. Sie haben auf Anweisung ihrer Priester die Tempelanlagen und Wohnstätten verlassen und sind dann weitergezogen in den Urwald, um sich neu einzurichten und Neues aufzubauen. Ihre alten Orte haben sie gar nicht vernichten müssen.

Das wäre übrigens eine Erklärung über die rätselhaft verlassenen Städte, die man gefunden hat, unzerstört und vom Urwald überwachsen.

 

Merkwürdiges Verhalten! Für mich nicht Ausdruck eines Übermutes, sondern eine eigenartige Besonnenheit. Was wir uns so im Laufe der Jahre, im Laufe eines Lebens, aneignen an Habseligkeiten, an Traditionen, was man auf keinen Fall missen möchte, das kann auch zum Ballast werden, zum schweren Reisegepäck, das man durch die Zeit schleppt. Es kann einem die eigene Biografie zur Last werden, es kann einen die eigene Schuld erdrücken.

 

Und da: Der Gedanke, abzuladen, neu anfangen zu dürfen, mit neuen Einsichten und neuen Perspektiven es noch einmal versuchen..., das hat schon etwas Befreiendes an sich!

 

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, aber – wie es Hermann Hesse sagt – „Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen; nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“

 

Also: „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

 

Samstag, 4. Januar 2003

Gute Vorsätze, die man sich zum Jahreswechsel macht, sind meistens ein paar Tage später schon wieder vergessen. Da halte ich mehr von der Idee, noch ein paar Dinge in Ordnung zu bringen, die man das ganze abgelaufene Jahr hätte erledigen müssen, aber nicht erledigt hat.

Etwa einen längst fälligen Brief schreiben. Zum Beispiel so:

 

Ich will dir sagen, dass ich dich dringend nötig habe. Sicher, ich lasse es dich viel zu wenig merken. Doch was wäre mein Leben ohne dich, ohne deine Liebe, ohne Hoffnung, die nur du mir geben kannst.

 

Es gibt Tage, an denen ich fürchte, du hast mich schon lange vergessen.

Du schweigst und hörst mein Rufen nicht. Ich bin zu weit von dir entfernt. Du hast keine Freude an mir. Ich verletze deine Güte und missbrauche deine Geduld.

 

Du weißt, wie brüchig meine Liebe ist und wie gefährdet meine Treue.

Verstehe mich bitte nicht falsch, ich schiebe dir keine Schuld zu.

Ich will dich nur bitten, dass du mich nicht aufgibst.

 

Ich kann dir kein Versprechen geben. Ich will mich wohl bessern, verändern, aber ich weiß nicht, ob ich es alleine schaffe.

Gib mir Kraft dazu!

 

Ich hoffe, dass du mich noch nicht abgehakt hast. Ich vertraue darauf, dass deine Liebe unzerbrechlich ist und dass du es mit mir noch einmal versuchen willst.