Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von
Martin Schenk
Sonntag,
13.7.2003
Wer
ist mir der Nächste?
Da
bricht einer Richtung Hauptstadt auf und wird ausgeraubt und überfallen.
Die Räuber lassen den Reisenden halb tot im Straßengraben liegen.
Viele gehen vorbei und schauen weg. Jetzt beginnt die Geschichte
noch einmal. Ein Mensch bleibt stehen. Er packt den Verletzten auf
seinen Esel und bringt ihn zum nächsten Gasthof. Bezahlt,
versichert sich, dass gesorgt ist, und kündigt an, am Rückweg noch
einmal vorbeizuschauen. Dann geht der Mann seine Wege.
Also
kein sich selbst verzehrender Helfertyp, kein ober`gscheiter
Gesinnungsakrobat. Einfach: Unsere Wege haben sich gekreuzt , ich
tue das Not-wendende, ich sichere die Rahmenbedingungen, dass es dir
wieder besser geht, und ich komme wieder vorbei.
Und
dann die Frage von Jesus an seine Zuhörer und Zuhörerinnen: Was
meint ihr? Wer war dem Überfallenen der Nächste? Nicht: An wem
soll ich Nächstenliebe üben? Hier bricht ein ganz anderer Blick in
die Geschichte ein. Nicht der Andere ist mein Nächster, sondern ich
bin der Nächste zum Anderen. Die Frage stellt sich aus der Sicht
des in Not Geratenen: Wer ist mein Nächster? Mit den Augen des
Opfers sehen wir, mit der Stimme des Überfallenen sprechen wir.
Der Arme, der in Not Geratene fragt: Wer ist mein Nächster?
Ich bin hungrig, wer ist mir der Nächste? Ich bin fremd, wer ist
mir der Nächste? Ich bin gefangen, wer ist mir der Nächste? Ich
bin ohne Wohnung, wer ist mir der Nächste? Ich bin krank, wer ist
mir der Nächste?
Montag,
14.7.2003
Was
wir zum Leben brauchen
Im
Weinberg waren sie schon seit dem frühen Morgen an der Arbeit. Die
Bezahlung war ausgesprochen gut und mit allen ausverhandelt: ein
Silberstück. Am späten Nachmittag kamen noch einige Arbeiter dazu.
Als es zur Auszahlung des Lohns ging, bekamen diejenigen, die am
Schluss in den Weinberg gekommen waren ein Silberstück. Diejenigen,
die von Beginn an da waren, erhielten ebenfalls den ausgemachten
Lohn von einem Silberstück. Alle erhielten das, was sie für ihr
Leben brauchten. Die Arbeiter, die zuerst da waren, aber schimpften:
Warum bekommen die Letzen das Gleiche wie wir?
Gut,
sagt Jesus, was ist daran unfair? Wem wird Unrecht getan, wenn die
gemeinsame Vereinbarung über den großzügigen Lohn von einem
Silberling eingehalten wird? Ein Silberling war damals ein super
Tageslohn. Unabhängig davon, ob noch Arbeiter am Abend gekommen wären,
die Ersten hätten das großzügige Stück Silberling so und so
bekommen.
Der
Besitzer des Weinbergs hätte nun sagen können: Die Ersten sind
ziemlich egoistisch und die Letzen sind die Ärmsten der Armen. Hat
er aber nicht. Oder er hätte sagen können: Die Ersten sind die
Fleißigen und Tüchtigen, die Letzen sind Schmarotzer, die uns auf
der Tasche liegen. Hat er auch nicht. Was er sagte war: Bist du
neidisch, weil ich großzügig bin?
Dienstag,
15.7.2003
Die
Scham des Versagens
Im
Zug von Salzburg nach Wien. Der Speisewaggon ist bummvoll. Ein
junger Mann setzt sich auf den einzig freien Platz. Für einige
Minuten lauscht er dem Gespräch am Tisch, das sich um
Arbeitslosigkeit und dergleichen dreht. Dann wird es ihm
augenscheinlich zu bunt. “Die meisten arbeiten nix”, wirft er
ein. Ich sage Ihnen, das Problem ist halt, dass die nichts leisten
wollen”, wiederholt er noch einmal. Die Debatte zieht sich noch
weiter bis Wien. Wir erfahren, was Erfolg ist und wie man es
schafft. Als einer am Tisch sagt, dass viele sich in ihrem Alttag
abmühen und trotzdem nicht die Winner sind,
stutzt der junge Mann. Die drei Bier haben das Übrige getan. “Ich
weiß zwar nicht, warum ich euch das erzähle”, beginnt er “aber
ich werde in den nächsten Tagen Konkurs anmelden müssen.“ Er ist
Besitzer eines traditionsreichen Geschäfts in der Salzburger
Innenstadt. “Morgen wird`s in der Zeitung stehen.“ Das kleine
Handelsunternehmen hat er von seiner Mutter bereits mit Schulden übernommen.
In den letzten Jahren ging es auf und ab. Jetzt ist der Punkt, an
dem das Scheitern öffentlich wird.
Nicht
alle Geschichten haben eine solche Pointe. Jetzt geniert man sich
nicht mehr, nackt zu sein wie vor 50 Jahren, heute geniert man sich
davor, zu versagen. Das ist es, was es am Besten zu verbergen gilt:
die Schande, es nicht geschafft zu haben.
Mittwoch,
16.7.2003
Versprochene Lüge
Er
schlägt sich so durch. Ein Job hier, ein Job da. Meistens geht es
über den Highway von einem Ort zum anderen. Irgendwo findet er
immer eine Arbeit, meistens mies
bezahlt, leben kann man davon nicht. Am Abend kommt er ins
Sinnieren, wenns spät und dunkel wird, als er ein paar Achtel vom
billigen Wein geleert hat. „Ich
lebte ein Geheimnis“, gesteht er „wollte es immer für mich
behalten“. „Ich folgte dem Traum, den die Leute am Fernsehschirm
hochhalten”, sagt er. Dem versprochenen Traum, dass jeder gewinnen
kann, wenn er nur will. Der Tagelöhner stützt den niedergesunkenen
Kopf mit seinen beiden Händen ab. Bruce Springsteen, der Sänger
und Musiker, erzählt diese Geschichte. Der Song heißt „Das
Versprechen“. Es ist das große Versprechen, der amerikanische
Traum: wenn du dich nur anstrengst, dann wirst du Millionär.
“Wenn
das Versprechen gebrochen wird, lebst du weiter”, heißt es im
Song von Bruce Springsteen, “aber es stiehlt etwas aus der Tiefe
deiner Seele”. Der versprochene Traum, dass alle gewinnen, wenn
sie nur wollen, ist eine Lüge. Die
“Ideologie der Gewinner” sagt: “Jeder kann gewinnen,
wenn er nur will”. Die Sozialberatungsstellen und Notunterkünfte
sind voll von Menschen, die dieses
Versprechen hochgehalten haben. Morgen geht es in die nächste
Stadt. Der Mann hebt seinen Kopf: “ Ich fühle
mich, als würde ich den gebrochenen Geist aller tragen, die
verloren haben.”
Donnerstag,
17.7.2003
B-Seite
Früher
hat es bei den Platten die Singles gegeben. Schwarze Scheiben,
kleiner als die Langspielplatte und schneller bei den Umdrehungen,
damit sie richtig klingt. Manchmal lege ich auf meinem alten
Plattenspieler noch eine auf. Auf der A-Seite war immer der
Superhit, das Lied, wegen dem man sich die
Single gekauft hat. Auf jeden Fall war der Song immer in der
Hitparade. Das Lied auf der B-Seite kannte man meist gar nicht. Die
B-Seite ist im Plattenregal nur zweite, oder dritte, oder vierte
oder fünfte Wahl. Die B-Seite musste nur herumstehen, nie tat sich
jemand nach ihr umsehen, wenn, dann spielte man die Seite A.
Nun
hab ich einmal einfach alle Singles umgedreht und die B-Seite
erklingen lassen. Was da zu entdecken gab. Echt gute Songs und super
Texte. Jahre bin ich nicht auf die Idee gekommen, die Platte einfach
umzudrehen. Alles, was die B-Seite zu bieten hatte, blieb im
Dunkeln, blieb unerhört, war nicht da.
So
hat vieles zwei Seiten und ich kenne nur eine.
„Die einen stehn im Dunkeln und die andern stehn im Licht,
und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“.
Alle Platten haben zwei Seiten. Um die andere Seite zu hören, muss man etwas tun , was gar
nicht leicht ist, und trotzdem ganz einfach: man muss sie umdrehen.
Freitag,
18.7.2003
Erinnerung
an Zeiten der Schwäche
Ein
ganzes Volk, tausende Menschen, hatten nichts zu melden. Sie mussten
unter härtesten Bedingungen arbeiten, die Paläste des Pharaos
bauen. Sie lebten in Ghettos in unwürdigen Verhältnissen. Sie
waren ausgebeutet, Fremde in Ägypten, Gastarbeiter ohne Rechte.
Mose führte sie da heraus, in ein Land, so sagt es die Bibel, in
dem Milch und Honig fließen. Dieser Ort ist überall, wo es besser
ist. Für dort gab er
als Erinnerung mit: „Wenn ein Fremder bei euch wohnt in eurem
Land, dann sollt ihr ihn nicht bedrücken, denn Ihr seid auch Fremde
gewesen in Ägypten.“
Wenn
man nicht vergisst,
dass man selbst fremd war, dann behandelt man Fremde auch so, wie
man damals behandelt hätte werden wollen. Das ist ein alter
Gedanke, den wir in allen Kulturen der Welt finden. Was du nicht
willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Wenn zum
Beispiel Flüchtlingsfamilien im Winter auf die Straße gesetzt
werden, gibt es auch eine goldene Regel: „Möchtest du, dass dein
Kind, dein Enkel so behandelt wird?“
Die
Erfahrung von Leid kann man nämlich vergessen, verdrängen. Dann
wird man besonders hart. „Ich habe das ja auch ertragen, dann
kannst du das auch“. Oder: mir ist es noch viel schlimmer
gegangen.“
Darum
ist Erinnerung so wichtig. Gerade das Erinnern an Augenblicke und
Zeiten des Leids und der Schwäche. Es ist der Schlüssel für
Mitgefühl. „Wenn ein Fremder bei euch wohnt in eurem Land, dann
sollt ihr ihn nicht bedrücken, denn Ihr seid auch Fremde gewesen in
Ägypten“.
Samstag,
19.7.2003
Lausbub
Der
Michel von Lönneberger ist ein echter Lausbub. Die Schriftstellerin
Astrid Lindgren erzählt, wie der kleine Michel da oben in dem
kleinen Bauerndorf in Schweden das erste Mal das Armenhaus von Lönneberger
sieht. Eine elende Bleibe, viele
Mägde und Knechte mussten im Alter dort ihre letzen Jahre
verbringen, auf Almosen angewiesen, einer Aufseherin und ihrer Willkür
ausgeliefert. Der Michel denkt sich nicht viel, außer dass diese
Leute vom Armenhaus was anderes brauchen und lädt sie kurzerhand
nach Hause auf den Hof ein. Dort gibt es gerade riesenhafte Vorräte,
die für ein Fest in zwei Tagen gerichtet sind. Die alten Leute aus
dem Armenhaus kommen und essen. Die Mutter ist recht verzweifelt als
sie heimkommt und die leeren Teller sieht. Zum Glück ist dann noch
genug da für die Gäste am nächsten Tag.
Der
gedeckte Tisch, an dem alle satt werden und niemand ausgeschlossen
ist, der steht ja im Zentrum des christlichen Glaubens. Es ist
kein Tisch, an dem alle die Schultern breit machen und die
anderen außen vor lassen. Die Diakonie, die Sozial- und
Hilfsorganisation in Österreich mit 4000 MitarbeiterInnen, die für
Familien in Not, Menschen, die nicht mehr ein noch aus wissen, vor
Folter und Krieg flüchten, Leute ohne Wohnung, ohne Zukunft, den
Umgeknickten unter die Arme greift, dieses Wort Diakonie kommt aus
dem Griechischen und heißt „zu Tische dienen“: Alle sind
geladen und alle werden satt. So ist es verheißen. Und so soll es
sein. Und so wird es manchmal möglich, wie damals beim Lausbuben,
dem Michel von Lönneberger.
Martin
Schenk arbeitet als Sozialexperte der Diakonie Österreich und ist
Mitinitiator der Armutskonferenz.
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