Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Cons. Dr. Florian Huber (Innsbruck)
Sonntag, 20.7.2003
Im Sommer des vorigen Jahres habe ich einige Urlaubstage am Strand des
Mittelmeeres verbracht. Jeden Tag ist an uns ein tiefschwarzer
Afrikaner mit seinem Bauchladen auf der Suche nach Käufern
vorbeigegangen. Er hat genau registriert, wer das erste Mal am
Strand gewesen ist und wer schon öfter. Wen er schon einmal
angesprochen gehabt hat, den hat er gefragt: „oggi, si o no?“ -
„Heute, ja oder nein?“ Diese Frage „Oggi, si o no?“ -
„Heute, ja oder nein?“ hat mich nicht mehr los gelassen.
Ich brauche die Kraft zu einem Ja Tag für Tag so notwendig wie das tägliche
Brot. Die Kraft zu einem Ja, mich den Herausforderungen des Tages zu
stellen. Ein Ja dazu, das Gute zu sehen. Ein Ja zum Vertrauen, dass
das Leben Sinn macht.
Woher kommt die Kraft zum Ja?
Als Christ versuche ich, aus dem Vertrauen zu leben, dass in Jesus Gott
sein Ja zu uns gesprochen hat. Das kann Kraft geben. Jesus zwingt
niemanden. Ich glaube, er spricht Tag für Tag sein aufmerksames und
einladendes, oft nur leise im Lärm der Tage an uns dringendes Wort:
„Oggi, si o no?“
Ich möchte gerne sagen: „Ja!“
Ich möchte gerne sagen: „Si, signore!“
Montag, 21.7.2003
Ich sehe mich heute noch wutentbrannt auf die Italiener und den ganzen
Vatikan schimpfend auf der Straße stehen. Nicht weit weg vom
Petersdom bin ich mit einem Freund nur rasch in ein Hotel gegangen,
um mich nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu erkundigen. Natürlich
ist es ein Fehler gewesen, im Auto Wertgegenstände und Dokumente
zurückzulassen. Aber es ist ja nur einige Meter von uns entfernt am
Straßenrand gestanden. Die kurze Zeit hat zwei Dieben zum
Aufbrechen und zu einem Griff hinein gereicht. Bei unserem Kommen
haben sie Reißaus genommen. Neben dem materiellen Verlust hat es
auch noch lästige Formalitäten gegeben.
Nichts wie weg hier, haben wir uns gesagt. Heim nach Österreich. Ein
paar Tage später sind wir an einem See gewesen. Ein Geheimtipp.
Ruhig. Nur Einheimische. Schön. Zurück vom Baden zum Parkplatz
springt das Auto nicht an. Hat uns doch tatsächlich jemand den Tank
bis auf den letzten Tropfen geleert!
Seitdem bin ich auf pauschale Äußerungen allergisch. Es gibt sie nicht:
DIE Italiener, DIE Österreicher, DIE Politiker, DIE Jugend. Es
gilt, jedem und jeder einzelnen gerecht zu werden. Und das ist,
denke ich, ganz im Sinne Jesu.
Dienstag, 22.7.2003
Die Gelegenheit, mit einer lange nicht gesehenen Bekannten gemeinsam eine
Bergwanderung zu unternehmen, habe ich gerne wahrgenommen. Wir haben
uns viel zu erzählen gehabt. Über Almwiesen hinweg und durch Wälder
hindurch haben wir geredet und geredet. An einem Wasserloch haben
wir im Vorübergehen eine Bewegung wahrgenommen. Wir sind stehen
geblieben. Die Kaulquappen haben unsere Aufmerksamkeit auf sich
gezogen.
Auf einmal habe ich die Stille gespürt. Ich habe das Zwitschern eines
Vogels gehört und die Antwort eines anderen. Das leise Summen von
Insekten, die kaum merkbare Bewegung des Windes in den Bäumen ist
an mein Ohr gedrungen. An der ganzen Körperhaltung meiner
Begleiterin habe ich gemerkt, dass es ihr ganz gleich ergangen ist.
Sind wir zuerst miteinander ganz ins Reden vertieft
gewesen, so hat uns jetzt diese gemeinsame Erfahrung der
Stille miteinander verbunden.
Es wäre schade gewesen, wenn wir auf dem Weg miteinander nicht geredet hätten.
Aber es wäre auch schade gewesen, wenn uns dieser Moment der Stille
nicht geschenkt worden wäre. Wir sind sehr dankbar dafür gewesen.
Ich glaube, das nächste Mal, wenn ich auf so einem Weg bin, werde
ich diese Offenheit für die leisen Töne bewusst suchen.
Mittwoch, 23.7.2003
Mit einem Auto ist es von Nürnberg aus nicht weit zur Wallfahrtsbasilika
Vierzehnheiligen. Sie ist das Werk von Balthasar Neumann. Er ist
nach dem Brockhaus „der größte Baukünstler des 18.
Jahrhunderts“. Urlaubstage in dieser Gegend haben mir die Zeit
geschenkt, mich mit der Geschichte dieses Baues näher zu befassen.
Sie liest sich spannend wie ein Krimi.
Da gibt es einen Baumeister, der mit seinem Plan nicht zum Zug gekommen
ist. Mit Hilfe eines befreundeten Abtes kommt er als Bauleiter in
Vierzehnheiligen unter. Er nützt das aus, um seinem zum Zuge
gekommenen Konkurrenten eins auszuwischen. Beim Besuch der Baustelle
muss Balthasar Neumann feststellen, dass sein Grundriss böswillig
verändert worden ist. Wer heute die Basilika besucht, ahnt von
alledem nichts. Balthasar Neumann konnte damals nicht alles abreißen
lassen und neu beginnen. Er hat es verstanden, aus einer
Fehlkonstruktion eine architektonische Meisterleistung erstehen zu
lassen.
Pläne werden oft durchkreuzt. Manches Mal ist sogar böser Wille dabei
im Spiel. Ich habe das Wort einer Bekannten im Ohr, die aus tiefem
Gottvertrauen in solchen Fällen immer zu sagen pflegt: „Wer weiß,
wofür das gut sein soll.“ In Vierzehnheiligen kann man es sehen.
Da ist ein Meisterwerk daraus entstanden.
Donnerstag, 24.7.2003
Ich bin mit einem befreundeten Ehepaar auf der Reise gewesen. Beim
Mittagessen haben sie mir von einem sehr bewegten Vormittag erzählt.
Der Mann wollte unbedingt noch dem Museum einen Besuch abstatten. Seine
Frau, die über Übelkeit geklagt hat, sollte auf ihn in einem Cafe
warten. Nach einer Stunde im Museum ist der Mann zufrieden gewesen.
Aber er hat seine Frau im Cafe nicht angetroffen. Vielleicht ist sie
ihm zum Museum gefolgt, hat er sich gedacht, und ist nachschauen
gegangen. Nichts. Noch einmal zurück ins Cafe. Nichts. Die Straße
rauf und runter. Nichts. Ihm ist angst und bang geworden. Ist es
mehr als nur eine kleine Übelkeit gewesen? Oder ist noch
Schlimmeres passiert? Und das alles in einem Land mit einer ihm
fremden Sprache! Er beginnt mit dem Schlimmsten zu rechnen. Er
entdeckt in sich vor allem die Trauer über das, was er jetzt
vielleicht alles nicht mehr sagen kann und doch so gerne zu seiner
Frau gesagt hätte.
Zum Glück haben sie dann einander wieder gefunden und sich viel zu erzählen
gehabt. Alles hat nur auf einem Missverständnis beruht. Die Frau
hat in einem anderen Cafe gewartet als der Mann geglaubt hat.
Die Offenheit der Erzählung hat mich überrascht und dankbar gemacht.
Sie hat mich aber auch, was die Gesprächskultur in meinen eigenen
Beziehungen anbelangt, nachdenklich zurückgelassen.
Freitag, 25.7.2003
Während einer Urlaubsreise nach Spanien habe ich die Stadt Burgos
besucht. Neben der berühmten Kathedrale sind mir vor allem Gruppen
von jungen Menschen in Erinnerung geblieben. Sie sind alle auf dem
Weg nach Santiago de Compostela gewesen. Dort sollen die Gebeine des
Apostels Jakobus bestattet sein.
Es fasziniert mich, dass ein lange Zeit tot gesagter ehemaliger
Wallfahrtsort von europäischem Rang einen solchen Zuspruch findet.
Ich frage mich, was so viele bewegt, oft
wochenlange Strapazen auf sich zu nehmen. Vielleicht wollen
sie einmal ausbrechen aus dem Gewohnten, sich selber erproben, tiefe
Erfahrungen mit sich selber machen, auf ein Ziel zugehen?
Ich selber ertappe mich seit jenem Tag in Burgos immer wieder beim
Gedanken, selber nach Santiago de Compostela zu gehen. Eine
Wegstrecke in meiner Heimat bin ich schon gegangen. Es gibt nämlich
quer durch Europa hindurch viele Verästelungen dieses Weges. Alle münden
sie schließlich hinein in den spanischen Jakobsweg. Ich persönlich
möchte mich auf diesem alten europäischen Weg gerne bewegen lassen
von der Sehnsucht nach einer auf christlichen Werten begründeten
Einheit Europas. Ich glaube, dass Europa das dringend braucht.
Samstag, 26.7.2003
Einmal habe ich eine Gipfelrast erlebt, da ist der Blick in die Runde von
imposanten Bergen dazu verwendet worden, die Fantasien
auszutauschen, was in diesen Felsen- und Eismassen zu sehen ist.
Einem ist eine Geschichte eingefallen:
Da hat es ein kleines Dorf gegeben. Es ist zu Füßen eines großen
Berges gelegen. Wind und Wetter haben über die Jahrmillionen hin
aus dem Felsen ein menschliches Gesicht geformt. Im Dorf hat man
sich dazu erzählt: eines Tages kommt einer, der wird genauso
aussehen wie das Gesicht da oben im Felsen. Er wird einen Blick für
die Nöte der Menschen haben und sich für die Gemeinschaft
einsetzen.
Ein sechsjähriger Junge hat das gehört. Die Geschichte hat ihn
fasziniert. Immer wieder hat er zum Berg hinaufgeschaut, zu diesem
Gesicht. Die Jahre sind ins Land gezogen. Aus dem kleinen Jungen ist
ein Mann geworden. Eines Tages ist er über den Dorfplatz gegangen.
Auf einmal haben seine Nachbarn gesehen: dieser junge Mann, der da
mitten unter ihnen herangewachsen ist, gleicht im Aussehen dem
Gesicht da oben im Felsen. Und auch wie er lebt, das hat ganz der überlieferten
Erzählung entsprochen.
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