Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

Helga Kohler-Spiegel, Theologin aus Feldkirch, Vbg.

 

 

Sonntag, 31. August 2003

Der Sonntag ist in meinen Augen ein Geschenk für die Menschen: Einen Tag in der Woche nicht fremdbestimmt funktionieren müssen, einen Tag in der Woche nicht hauptsächlich tun müssen, was andere von mir erwarten oder verlangen. Sondern: Einen Tag in der Woche frei sein, als hätten wir keine Sorgen, als wären wir schon erlöst. Es ist ein Tag, an dem Menschen miteinander sein dürfen, einen Tag für uns und für unsere Beziehungen - zu uns selbst, zu anderen Menschen, zu Gott.

 

In meinem Arbeitsrhythmus habe ich das Privileg, dass der Sonntag für mich ein solcher Tag sein kann. Andere Berufe haben keinen regelmäßigen freien Tag, sondern wechselnde Arbeitszeiten und damit manchmal einen freien Montag oder Mittwoch oder sonst ein, zwei Tage. Und auch dann ist es gut, einen Tag in der Woche einen solchen „Sonntag“ zu haben, einen Tag zum Genießen, Spielen, Sich-baumeln-Lassen, in der Zeit verweilen, einfach beieinander sein – einen Tag, an dem die Menschen „eine zweite Seele bekommen“, wie es im Jüdischen heißt. Heute haben wir einen Sonntag vor uns – vielleicht kann ich ein wenig so leben, wie ich es gerne tun würde, wenn – heute Sonntag wäre.

 

Montag, 1. September 2003

Es gibt diese Tage – schon beim Aufstehen ist die Stimmung mühsam bis schwierig. Die Gedanken drehen sich im Kreis. Und dann – es klingt vielleicht komisch - kann mir einfallen, dass es Menschen gibt, die mehr Grund haben zur Klage, denen es objektiv schlechter geht. Und dann atme ich tief durch, schaue zum Fenster hinaus, auf die Bäume und den Himmel und stelle mich auf den Tag ein. Und dann merke ich, dass ich Fragen und Probleme, die ich selbst lösen muss, gerne abgeben würde, dass ich wegschauen möchte, bis sich die Dinge von selbst regeln. Auch wenn ich längst weiß, dass ich es selbst in die Hand nehmen muss. Dorothee Sölle, die im Frühjahr dieses Jahres verstorbene Theologin und Poetin, fasst die Zusage und den Auftrag in religiöse Worte: „Nicht du sollst die Hungrigen satt machen, sondern ich soll deine Kinder behüten  ... Nicht du sollst den Flüchtlingen Raum geben, sondern ich soll dich aufnehmen, schlechtversteckter Gott der Elenden.  Du hast mich geträumt, Gott,  ... schöner als ich jetzt bin, glücklicher als ich mich traue, freier als bei uns erlaubt. Ich wünsche Ihnen und mir beides: handeln, wo es Not tut, aber: glücklicher als ich mich traue, freier als bei uns erlaubt.

 

Dienstag, 2. September 2003

Gestern - beim Nachhausegehen - hat mich plötzlich die Frage beschäftigt, ob Frau S. eine Brille trägt oder nicht. Und mir wurde bewusst, wie ich hinsehe und doch nicht hinsehe, wie ich wahrnehme und doch nicht wirklich aufmerksam bin. Heute ist ein neuer Tag, und ich habe vor Augen, dass ich hinsehen will – genau wahrnehmen, was ich sehen und hören kann, was ich in den Gesichtern der Menschen, denen ich heute begegne, wahrnehmen kann. Eigentlich ein schönes Wort „wahr nehmen“. Ich öffne meine Augen, ich sehe und nehme das, was ich sehe, für wahr. Nicht das, was ich gerne sehen möchte, auch nicht, was ich zu sehen befürchte, sondern einfach „wahr nehmen“. Für wahr nehmen, was mir Menschen sagen, was sie in ihrem Gesicht, in ihrer Körpersprache, in ihren Gefühlen zeigen.

 

Von Rosa Luxemburg ist der Spruch überliefert: „Es ist die revolutionärste Tat zu sagen, was ist.“ Und von Erich Fried fällt mir sein berühmtes Gedicht ein: Es ist Unsinn, sagt die Vernunft, es ist, was es ist, sagt die Liebe. Es ist Unglück, sagt die Berechnung, es ist nichts als Schmerz, sagt die Angst ... Es ist, was es ist. Für heute wenigstens möchte ich wahrnehmen, für wahr nehmen, was ich wahr nehme.

 

Mittwoch, 3. September 2003

 „Sehvorschläge“ – ganz konkret. Wir können beispielsweise einmal versuchen, die Welt wirklich als Schöpfung zu sehen: Welche Folgen hätte das? Oder: alle Menschen als Kinder Gottes, als geschwisterliche Gemeinschaft zu sehen: Welche Folgen hätte das? Und dann spüre ich, wie schnell das konkret wird: Beim Einkaufen, sowieso schon zeitlich knapp dran, endlich bin ich beim Brot die Nächste in der Reihe, da kommt ein Mann von der anderen Seite heran, ignoriert mich, und – bevor ich es realisiere – gibt er schon seinen Einkauf kund, nimmt verschiedene Brote, bis er endlich wieder abrauscht. Sie können sich vorstellen, wie es in mir kocht, bin ich für ihn unsichtbar? So ein Platzhirsch .... – und es fallen mir noch andere Schimpfworte ein. Und während mein Ärger immer größer wird, fällt mir plötzlich ein: Auch so ein Typ ist „dein Bruder“, genau genommen, auch er ist ein „Kind Gottes“, auch über ihm leuchtet Gottes Angesicht ... Wenn wir – wenigstens für heute ernst nehmen, was die Religionen betonen: Die Menschen sind einander Geschwister, auch an Tankstellen, Supermärkten, im Straßenverkehr... Ich kann es nur empfehlen: Es gibt viele Anlässe – bei der Arbeit, mit Kolleginnen und Kollegen, bei Nachbarn und auch im privaten Umfeld – „Bruder Hobbygriller“, „Schwester Parkplatz-Klauerin“, „neuer Chef – auch Gottes Kind“... Sie können die Liste gerne ergänzen.

 

Donnerstag, 4. September 2003

Vielleicht klingen die Stimmungen der Nacht und der Träume in Ihrem Aufwachen noch nach, machen sie zufrieden oder nachdenklich, vielleicht offener oder ängstlicher. Ein Tag liegt vor uns, wie viele Worte werden auf mich eindringen, wie viele werde ich reden? Von Albert Cullum stammt der Text: „Der Vogel hat gesungen. Die Glocke hat geläutet. Die Geranie auf der Fensterbank ist gestorben. Und Sie reden einfach weiter, Frau Schmitt.“ Es ist ein herber Text, dieses „und Sie reden einfach weiter“ lässt mich immer wieder erschrecken.

 

Mein Partner, meine Partnerin ist vielleicht müde und würde Trost brauchen – und ich rede einfach weiter. Mit einer Freundin im Gespräch – ich spüre die Stimmungsschwankungen und die Traurigkeit erst viel später, denn ich habe einfach weitergeredet. Manchmal nehmen wir ja wahr, was rund um uns geschieht, aber wir reden einfach weiter. Es gibt auch die andere Erfahrung, dass mein Gegenüber fragend schaut und signalisiert, dass wir über das reden könnten, was uns zur Zeit wirklich beschäftigt, dass wir vom Smalltalk erlöst wären. Vielleicht gelingt es mir heute: die Glocke zu hören, die läutet, den singenden Vogel zu bemerken und einen Menschen zu finden, der mit mir nicht nur übers Wetter redet.

 

Freitag, 5. September 2003

Am frühen Morgen schon eine Frage: Was ist denn Ihr Lieblingslied? Können Sie es singen, summen oder pfeifen? Manchmal habe ich Menschen, die mir lieb waren, danach gefragt, welches denn ihr heutiges Lied sei. Gibt es ein Lied, das dir einfällt, das dich heute begleitet?

Mich begleitet manchmal ein Lied durch den Tag aus dem Mozart-Requiem oder eine Schnulze aus Kindertagen, ein Ohrwurm oder ein Lied aus einer ganz besonderen Situation. Ich bin noch aufgewachsen mit dem Gedanken, dass wir unserem Kummer manchmal mit einem Lied begegnen können. Und dann haben wir gesungen, als Kinder und als Jugendliche ebenso wie heute als Erwachsene.

 

Was ich Ihnen damit sagen will: Ich bin überzeugt davon, dass Lieder und Musik uns Menschen Kraft geben können, dass es Melodien gibt, die unserer Seele wohl tun. Und dass uns manchmal ein Lied begleiten kann, durch den Tag, durch manche Tage. Dass uns Musik Trost und Kraft und Mut geben kann. Vielleicht ist Ihnen in der Zwischenzeit eines ihrer Lieblingslieder eingefallen. Vielleicht begleitet Sie dieses Lied durch den Tag. Ich wünsche es Ihnen.

 

Samstag, 6. September 2003

Guten Morgen, die Vögel sind schon wach, ich habe sie schon gehört. Und sofort bin ich bei einem Text von Dorothee Sölle:

 

Wie spatzen sind meine wünsche

freche unmusikalische vögel

oft habe ich sie weggescheucht

und mir einfach vorgenommen

ohne spatzen zu leben

in einem wohnschacht zum beispiel

hell erleuchtet gar nicht besonders schmutzig

warum nicht gleichmäßig mein leben zubringen

ohne die störenfriede

arglos kommen sie wieder

wie oft habe ich sie weggescheucht

freche unmusikalische vögel

wie spatzen ihr meine wünsche

 

Ich kann es nicht, ohne Wünsche leben, ohne Sehnsucht. Die Spatzen, sie erinnern mich daran, dass Glück und Liebe möglich sind, dass wir nicht ohne sie leben sollen, dass Menschen einander mögen können, auch wenn wir – vielleicht - mit dem älter Werden ein wenig „schwieriger“ geworden sind. Ich kann es nicht, ohne „Spatzen“ leben – und ich wünsche es auch Ihnen: Leben Sie nie ohne Wünsche, leben Sie nie ohne diese Störenfriede. Und wenn Sie in den nächsten Tagen Spatzen sehen, vielleicht erinnern Sie sich.