Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
Heidrun-Irene
Mittermair
Sonntag, 5.10.2003
Sicher
hat sich jeder und jede von uns schon einmal in der Situation
befunden, etwas Schlechtes
von einem Menschen anzunehmen, obwohl man eigentlich keinen Beweis
dafür hat. Man nennt das auch schlicht und einfach VORURTEIL.
Vorurteile
können in recht unterschiedlicher Weise gefällt werden, und um
eine davon zu verdeutlichen, möchte ich gerne eine kleine
Geschichte dazu erzählen.
Ein
Mann kauft sich ein neues Bild und will es, kaum dass er zu Hause
ist, voll Freude aufhängen. Aber er kann seinen Hammer nirgends
finden. So überlegt er, seinen Nachbarn um einen Hammer zu bitten.
Mitten in diesem Gedanken hält er inne. Aber nein, vielleicht will
der Nachbar ihm den Hammer gar nicht borgen. Er hat doch auch letzte
Woche schon einmal so eigenartig zu ihm hingeschaut, fast nicht gegrüßt.
Und auch der Sohn des Nachbarn, so denkt der Mann weiter, auch der
Sohn hat doch erst gestern ganz hämisch gegrinst, als er ihn im
Stiegenhaus getroffen hat. In dieser Art geht es noch eine Weile
dahin, bis sich der Mann in eine solche Wut hineingesteigert hat,
dass er sicher ist, den Hammer nicht geliehen zu bekommen. So reißt
er seine Türe auf, geht zur Nachbarstür und läutet Sturm. Als der
Nachbar, freundlich und nett wie immer, die Türe öffnet, schreit
ihn der Mann unvermittelt an: Dann behalten Sie doch Ihren blöden
Hammer!, dreht sich am Absatz um und knallt seine Türe hinter sich
zu.
Es
muss nicht immer gleich so drastische Auswirkungen haben, wenn man
über einen Menschen, den man nicht kennt, schlecht denkt. Aber eine
Auswirkung hat es fast immer: man schlägt die Türe hinter sich zu.
Wenn
Sie heute irgendwann in diese Falle, jemanden ausrichten zu wollen,
reintappen – und ehrlicherweise muss auch ich gestehen, dass mir
das allzu oft passiert, dann denken Sie kurz daran, wie viele Türen
Sie damit hinter sich zuschlagen...
Montag, 6.10.2003
Ich
bin in einer evangelischen Gemeinde aufgewachsen, in der ein Wort
immer einen sehr besonderen Klang für mich hatte: TOLERANZ. Als
Kind lernte ich Toleranz nur als nebuloses Wort kennen:
Toleranzpatent, Toleranzkirche, Toleranzgemeinde und so. Irgendwie
hatte es etwas Geheimnisvolles an sich, dieses Wort Toleranz.
Viel
später, in der Pubertät, in der Schule, im Studium, lernte ich
Toleranz dann als hochgeistiges und erstrebenswertes Ideal der
humanistischen Bildung kennen, und immer noch war es recht
verschwommen, nicht greifbar und etwas für Gelehrte.
Was
ist nun Toleranz? Alles zulassen? Jeder kann machen, was er will?
Alle haben recht? Dann würde ich es mir wohl zu leicht machen.
Oder
heißt es, es allen recht zu machen? Sich nur um seine eigenen
Sachen zu kümmern? Auch das wäre eine zu einfache Antwort.
In
Wirklichkeit, so glaube ich, meint es ein Zulassen von Anderssein:
Menschen anders leben lassen, anders lieben, anders glauben lassen,
als man selbst es tut. Ein Respektieren anderer Lebensweisen, beträfe
es jetzt Homosexualität, Glaube oder Outfit. Jeder Mensch ist ein
Individuum, jeder Mensch ist einzigartig – wieso sollen alle
gleich denken und leben? Niemand hat die Wahrheit für sich allein
gepachtet, und überall dort, wo etwas mit gnadenloser Radikalität
gefordert wird, müssen wir aufhorchen. Sonst werden vielleicht
unsere Kinder das Wort Toleranz bald nur mehr aus Büchern kennen.
Dienstag, 7.10.2003
ANGST
– jeder kennt dieses grausige Gefühl. Angst vorm Versagen in der
Schule, im Beruf, als Mutter, als Mensch. Sehr viele lernen es schon
vor der Schule: Warte nur, bis der Ernst des Lebens anfängt!
Dann...
Angstmacherei
als Mittel zu Motivation? Motivation wofür?
Im
Mittelalter war es die Angst vorm Feuersee, der die Gläubigen zur
Kasse bitten sollte, in unserer Zeit ist es die Angst vorm
gesellschaftlichen Versagen, die uns die Freude am Leben nimmt. Die
Angst als Push up für unsere hängenden Versuche, in dieser Welt Fuß
zu fassen.
Selbst
mit dem Tod wird Angstmacherei betrieben, künstliche und kunstvolle
Maßnahmen zur Lebensverlängerung sollen Abhilfe schaffen, das
siebte Herzstärkungsmittel ein langes, langes Leben ermöglichen.
Nur nicht mit dem Tod auseinandersetzen, nur alles möglichst clean
und distanziert abwickeln. Das aber leistet der Angst vorm Tod nur
Vorschub, den guten Tod, wie er früher genannt wurde, gibt es schon
lange nicht mehr.
Ein
kluger Mensch sagte einmal, die Angst vorm Tod hindert uns nicht am
Sterben, sondern am Leben. Vielleicht könnte man anfügen: Die
Angst vorm Versagen hindert uns nicht am Scheitern, sondern am
Weiterkommen. Lieber die Dinge tun, die einem vorgekaut werden, als
sich der Möglichkeit des Versagens aussetzen, die neue Ideen
manchmal mit sich bringen.
Kein
Wunder, dass die konservativen Achtzigerjahre wieder in unsrer Mode
Einzug halten, hoffen wir, dass nicht auch unsere Geisteshaltung
wieder zugeknöpft und mit weißen Rüschen versehen wird.
Mittwoch, 8.10.2003
Wenn
Du Dich als vertrauenswürdig erweist, werde ich Dir auch vertrauen!
So oder ähnlich haben es viele auf ihr Banner geheftet, also
VERTRAUEN nur dann, wenn es sich auszahlt. Ich bin sicher, dass
selbst die, die den Vertrauensgrundsatz auf diese Weise verstehen,
schon enttäuscht worden sind, und meiner Meinung nach beginnt aber
genau da die wirkliche Probe des Vertrauens.
Es
ist doch nicht schwer, jemandem zu vertrauen, der einem ohnehin
immer die Treue hält, in welcher Weise auch immer. Aber dann, wenn
das Vertrauen einmal enttäuscht wurde, dann noch zu sagen: ich
vertraue Dir! Das ist erst die Kunst, das ist wahre Größe.
Insgeheim
halten wir uns alle für vertrauenswürdig, und insgeheim wissen wir
alle, dass es teils stimmt, teils auch nicht. Bin ich denn
vertrauenswürdig, wenn ich ein Geheimnis, das mir anvertraut wurde,
jemand anderem weitersage? Selbst der Zusatz: aber bitte sag’s
nicht weiter! hilft da nicht viel.
Ich
glaube, dass wir alle bescheidener in unseren ethischen Forderungen
anderen gegenüber sein müssen, dass wir einsehen müssen, dass
alle, wirklich alle den selben Täuschungen, Verlockungen und
Egoismen auf den Leim gehen. Nur das fördert das Verstehen anderer
und macht uns bereiter, die ach so unverzeihlichen Fehler der
anderen in einem anderen Licht zu sehen.
Vertrauen
zahlt sich aus, selbst mit den Nebenkosten Schmerz und Enttäuschung.
Vertrauen ist nämlich das Grundprinzip unseres menschlichen
Daseins. Wagen Sie´s einfach.
Donnerstag, 9.10.2003
Es
gibt sie, die Raunzer. Geh, schon wieder scheint die Sonne! Na, heut
regnet´s. Ma, die Arbeit ist so schrecklich.
Es
stimmt, in manchen Lebenslagen ist es recht schwer, etwas Positives
an seinem Tag zu finden. Und dennoch: wenn man mit einer positiven
Grundhaltung in den Tag geht, kann sich so viel ändern. Die Leute
in der U-Bahn würden nicht alle in ein schwarzes Loch starren, der
Bahnbeamte würde einen guten Morgen wünschen, der Papa die Kinder
zur Verabschiedung busseln. Vielleicht freut sich eine alte, einsame
Frau über ein Lächeln beim Greißler, und die lästigen Kinder im
Kindergarten würden sich wundern, dass die Tante Inge heute plötzlich
einmal freundlich dreinschaut.
Versuchen
Sie mal, irgendetwas Gutes an Ihrem Tag zu sehen: dass der Herbst
beginnt zum Beispiel. Nein, jetzt denken Sie nicht an die Verkühlungszeit,
den Wind und Regen. Denken Sie an die Verfärbung der Blätter, und
wie Sie sich als Kind drauf gefreut haben, das größte und schönste
Blatt zu finden. Oder gehen Sie heute einfach raus und sammeln sie
ein paar Kastanien. Nehmen Sie sie mit nach Hause und legen Sie sie
auf´s Fensterbrett – sind das nicht herrliche Formen?
Pflücke
den Tag, nimm Dir was Gutes! Es ist so viel da, was den Alltag versüßen
kann – man muss es manchmal nur sehen wollen.
Freitag, 10.10.2003
Wie
viel Leid würde uns erspart bleiben, wenn wir uns selbst nicht ganz
so wichtig nähmen! Sicher, es stimmt, wenn man sich vernachlässigt,
ist das auch nicht das Gelbe vom Ei. Aber im Grunde ist es eher
meist das Gegenteil. Ein Autofahrer, der mir zu langsam fährt –
ist es notwendig, ihm alles mögliche anzudeuten? Ein Mensch, der
mich beleidigt – warum tut es mir so weh, hab ich ein so
schlechtes Selbstwertgefühl, dass mich alles gleich so angreifen
muss? Ich bin ziemlich sicher, dass die eigene, aufgeblasene
WICHTIGKEIT mit einem sehr unangenehmen Gefühl einher geht: dass
man nichts wert ist.
Überall
dort, wo man selbst etwas größer machen muss, fehlt ja die Größe.
Wenn man aber etwas gut sein lässt, nämlich wirklich gut sein,
ohne es in der Datei Rache abzuspeichern und nur darauf zu warten,
dass man es heimzahlen kann, wenn man versteht, dass im Grunde alle
Menschen ein Harmoniebedürfnis haben, jeder nur unterschiedlich
verletzt ist und deswegen so handelt, wie er handelt, dann kann
Heilung entstehen, dann ist es möglich, diesen Kreislauf aus Tat
und Untat zu durchbrechen. Und dann ist es vielleicht endlich so
weit, dass der Friede in sich selbst zum Frieden in der Welt wird.
Samstag, 11.10.2003
Wenn
mich jemand danach fragte, was ich als das Schlimmste in einer
Partnerschaft ansehen würde, sagte ich nicht: betrogen zu werden. Für
mich gibt es ein Grundübel, wenn man so sagen will, aus dem alle übrigen
entstehen: die Selbstverständlichkeit.
Wenn
einem ein Mensch selbstverständlich wird, vergisst man, ihm dafür
zu danken, dass es ihn gibt. Vergisst man, ihm zu sagen, dass man
ihn liebt. Vergisst man, ihm Vertrauen zu schenken – man hat es ja
eh automatisch. Und schon schleicht sich die Routine ein, die Liebe
wird schal, die Beziehung fad. Nichts passiert mehr, alles ist
Alltag, man ist sich sicher – aber leider in einer falschen Weise.
Denn die Sicherheit in einer Beziehung ist verkehrtproportional zu
ihrer Selbstverständlichkeit.
Schauen
Sie mal Ihre Beziehungen an? Wann haben Sie zuletzt in Ihren
Beziehungen, zu Ihrem Partner oder in Ihrer Familie, etwas getan,
das die Selbstverständlichkeit auf ihren Platz verweist? Wäre
heute nicht der ideale Tag, einmal etwas Außergewöhnliches zu tun,
wie zum Beispiel in der Früh jemanden zu umarmen und ihm zu sagen:
Ich bin froh, dass es Dich gibt?
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