Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
Superintendent
Werner Horn (Wien)
Samstag, 1.November 2003
Ich
erinnere mich noch deutlich: Im Wohnzimmer meiner Eltern stand eine
alte Standuhr. Seit Generationen gehörte sie zu diesem Zimmer. Ob
sie schön war, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich mir
das Wohnzimmer ohne diese Uhr nicht mehr vorstellen kann. Groß und
wuchtig war sie, mit einem gewaltigen Pendel. Schwere Gewichte
hielten sie in Gang und ließen die schwarzen Zeiger auf dem silbern
schimmernden Ziffernblatt kreisen. Und sie tickte, tagaus, tagein,
monoton und schwerfällig. Als mache es ihr Mühe zu laufen. Man
konnte sie deutlich hören, denn sie tickte nicht leise. Und jede
Stunde zeigte sie durch ihren Schlag an.
Vor
meinen Augen entstehen Bilder aus der Vergangenheit. In diesem
Wohnzimmer gab es fröhliche und traurige Stunden. Da wurde gelacht
und geweint. Auch als meine Großmutter starb, stand die Uhr schon
da und schlug ihren Takt. Und ich denke an die Worte jenes Predigers
Salomo:
Ein
jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat
seine Stunde: Geborenwerden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit.
Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit.
Ist
unsere Zeit ein gleichmäßiges, ununterbrochenes Einerlei wie das
Ticken einer Uhr? Es gehört, glaube ich, zum Geheimnis der Zeit,
dass sie uns von Gott in so verschiedener Art geschenkt wird. Zeiten
der Freude und Zeiten des Schmerzes finden sich darin, und manchmal
liegen sie sehr nahe beieinander. Doch beides gehört zusammen.
Beides empfangen wir gleicherweise als „unsere Zeit“ aus der
Hand dessen, der uns alle geschaffen hat.
Sonntag, 2. November 2003
Der
heutige Tag - Allerseelen - erinnert uns in besonderer Weise an die
Vergänglichkeit unseres Lebens. Er erinnert daran, dass unsere Zeit
nicht in unseren Händen steht. Wir können unsere Zeit nützen, wir
können unsere Zeit vergeuden. Aber verlängern können wir unsere
Zeit nicht, allem Fortschritt zum Trotz.
„Meine
Zeit steht in deinen Händen“ (Psalm 31,16). So wird in der Bibel
gebetet. Meine Zeit - in Gottes Händen. Das bedeutet: Unsere Zeit
hat ihr Ziel in Gott. Das Ende der uns geschenkten Zeit ist nicht
einfach der Absturz in die Sinnlosigkeit des Todes, sondern ist ein
Weg zu Gott, in seine Hand.
Meine
Zeit in Gottes Hand. Wer das nachsprechen kann, macht die Augen
nicht zu vor den dunklen Stunden. Er durchlebt sie alle: gute
Zeiten, schlechte Zeiten, Zeiten der Freude und der
Niedergeschlagenheit, Zeiten des Glücks und Zeiten des Leids. Und
er weiß: Beides ist von Gott gehaltene Zeit - trotz allem. Und
damit trotzt er allem, was ihm den Mut nehmen will. Der kann ein
Lebenslied anstimmen inmitten der vergehenden Zeit, denn er weiß:
Vom Leben komme ich her, und auf das Leben gehe ich zu.
Viele
besuchen in diesen Tagen die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen.
Vielleicht kann ein solcher Gang zum Friedhof nicht nur an die Vergänglichkeit
erinnern, sondern uns in der Gewissheit stärken, dass Lebende und
Verstorbene von der Hand Gottes umschlossen bleiben.
Montag, 3. November 2003
Sie
war schon sehr alt. Und immer wieder einmal besuchte ich sie und da
erzählte sie mir von früheren Zeiten. Das letzte Mal holte sie
einen Schuhkarton unter dem Bett hervor. Als sie mit etwas zittrigen
Fingern den Deckel abhob, sah man: Er war bis zum Rand mit Fotos gefüllt:
Farbfotos, Polaroidbilder, kleine glänzende Schwarz-weiß-Bilder
mit Zackenrand, alte Aufnahmen auf hartem bräunlichem Papier. Die
70er Jahre, die 30er, die 50er - in diesem Karton war alles
vertreten. Alles durcheinander, alles gleichzeitig, jedes Bild ein
Teil Lebensgeschichte.
Ein
Bild nach dem anderen nahm sie zur Hand. Und beinahe jedes erinnerte
sie an Erlebnisse in ihrem Leben: ihre Hochzeit, der Krieg,
Wiederaufbau, die neue Wohnung, die Enkel und die Urenkel. Bei
mancher Fotografie musste sie etwas länger überlegen: Wo war das
aufgenommen und wer ist da abgebildet? Wer waren z.B. diese Leute,
mit denen sie da auf der Bank saß? Nein, sie konnte sich beim
besten Willen nicht erinnern.
„Man
hat so seine Erinnerungen“, sagte sie. „Aber man vergisst auch
viel.“ Man hat doch so viel erlebt. Manchmal denke ich mir
freilich auch: Das hat der liebe Gott schon gut eingerichtet, dass
man manches auch einfach vergisst. Aber ich will nicht vergessen,
was er mich Gutes hat erleben lassen.“
„Ich
will nicht vergessen, was er mich Gutes hat erleben lassen.“
Diesen Satz habe ich mir gemerkt. Er könnte sogar zu einer
Lebenseinstellung werden: Man muss nicht alles in Erinnerung
behalten, aber das Gute von Gott sollte man nicht vergessen.
Dienstag, 4. November 2003
Wir
haben uns zum Gespräch verabredet, die alte Dame und ich. In groben
Zügen kenne ich ihre Lebensgeschichte. Aber was sie heute erzählt,
geht mir unter die Haut.
„Was
soll das alles noch?“, klagt sie. „Es macht mir keinen Spaß
mehr zu leben.“ Ich sehe sie fragend an. Nein, nein, sie sagt das
nicht so daher. Sie weiß wahrhaftig nicht mehr, wozu sie noch da
ist. Es fehlt das vertraute Du, ein wirkliches Gegenüber. Ihr Mann
und Vater ihrer Kinder, mit dem sie Jahrzehnte lebte und arbeitete,
ist vor einiger Zeit verstorben.
„Aber
die Kinder“, sage ich, „die Kinder mit ihren Familien, die
werden Sie doch nicht vergessen?!“ „Ach wissen Sie, die Kinder,
die Familie, das sind andere Generationen. Die haben ihr eigenes
Leben. Denen kann ich eigentlich nichts mehr bedeuten.“ „Aber
die denken doch an Sie, rufen an oder kommen zu Besuch?“
„Gewiss, in ihrer Fürsorge komme ich alte Frau vor und muss
bedacht werden. Aber was habe ich zu tun? Was kann ich denn noch
tun? Die Sehkraft lässt stark nach, bald auch das Gehör. Wofür
soll ich noch da sein. Immer nur in Erinnerungen zu leben, das ist
nicht schön.“
Hier
fragt ein Mensch: Welche Rechtfertigung hat mein Dasein, wenn ich
anderen bald mehr zur Last als zur Hilfe werde? Der alte Mensch will
nicht nur betreut, sondern auch gebraucht werden. Er möchte noch
einen Platz haben, nicht nur in der Wohnung oder im Heim, sondern
auch im Leben. Vielleicht sollten wir ältere Menschen öfter um
etwas bitten.
Mittwoch, 5. November 2003
Unsere
erste Begegnung werde ich nicht vergessen: eine alte Frau - ich
besuchte sie, um ihr zu ihrem 85. Geburtstag zu gratulieren. Ihr
Gesicht ließ mich nicht los. Das Leben hatte seine Spuren
hinterlassen. Ein altes Gesicht, bedeckt von unzähligen Falten,
kein schönes Gesicht, an landläufigen Maßstäben gemessen. Aber
da war dieses Schmunzeln. Das ganze Gesicht ein einziges Schmunzeln.
Der ganze Raum verbreitete den Eindruck gelassener Heiterkeit. Wie
wird man so?
Das
Leben hatte ihr nichts geschenkt. Sie hatte jung geheiratet. Dann
kam der Krieg. Sie verlor ihren Mann, schlug sich mit zwei kleinen
Kindern durch, und als es so schien, als ob sich die Lebensumstände
stabilisierten, erkrankte eines ihrer Kinder schwer. Finanziell war
es ihr zeitlebens nicht besonders gut gegangen. Jetzt, im Alter,
hatte sie bei ihren Kindern ihr Auskommen gefunden. Worin lag das
Geheimnis dieser gelassenen Heiterkeit?
„Das
Schlimmste ist“, sagte sie, „wenn man den Sorgen nachhängt,
jedem Wehwehchen, jedem Streit, jeder Enttäuschung. Davon muss man
weg kommen. Ich lese jeden Morgen einen Bibeltext und einen Liedvers
aus dem Gesangbuch. Den singe ich dann.“ Und sie zitierte zwei
Liedverse, die sie ihr Leben lang begleitet hatten: „... in wie
viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet“
und „Mit Sorgen und mit Grämen ... lässt Gott sich gar nichts
nehmen, es muss erbeten sein.“ Keine theoretische Predigt, die ich
da bekam, sondern die Glaubenserfahrung eines langen Lebens. Und die
spiegelte sich auf ihrem Gesicht.
Glaubens-
und Lebenserfahrungen lassen sich nicht kopieren. Und doch können
wir überall Menschen begegnen, die ähnliche Erfahrungen gemacht
haben. Sie machen keine Schlagzeilen. Aber sie können erzählen.
Und haben dabei viel zu sagen.
Donnerstag, 6. November 2003
Dieser
abschätzig-überhebliche Blick! Dieses spöttische Lächeln in den
Mundwinkeln. Und dann: „Na ja, wir werden eben auch nicht jünger!“
Dieser Satz seines Chefs saß.
Zu
ärgerlich auch, er hatte das Telefonat und diesen Auftrag schlicht
vergessen. Zu dumm, aber es konnte doch einmal vorkommen. Seinem
Chef ging es doch nicht anders. Was der alles vergaß! Und das mit fünfunddreißig.
Nein, mit dem Alter hatte das nun wirklich nichts zu tun. Aber so
war das eben - mit fünfundfünfzig zählst du nicht mehr. Da gehörst
du praktisch schon zum alten Eisen.
Dieses
Bild vom Menschen ist in der Gesellschaft tief verwurzelt. Jung muss
einer sein, dynamisch und leistungsstark. Du darfst nicht
nachlassen, musst immer voll da sein, sonst wirst du kaltgestellt
und bekommst die Entlassung. Jederzeit muss man damit rechnen. Es
wird rationalisiert. Maschinen ersetzen Menschen. Es muss gespart
werden, kann man überall hören.
„Wertschätzung“
- plötzlich fiel ihm dieses Wort ein. Ja, so ist das: Der Wert des
Menschen wird geschätzt. Abgeschätzt. Brauchbar, weniger
brauchbar, unbrauchbar. Wertschätzung - dieses Wort kann man aber
auch ganz anders verstehen. Und zum ersten Mal fiel ihm wieder das
Bibelwort ein, das er bei seiner Konfirmation mitbekommen hatte:
„Weil du so wertgeachtet bist in meinen Augen, musst du auch
herrlich sein. Ich habe dich lieb.“ Jetzt, wo sein Chef ihn so
abschätzig behandelt hatte, erinnerte er sich an ihn und das Wort
„Wertschätzung“ bekam eine ganz neue Dimension. Und er sagte
sich: bei Gott bin ich doch noch etwas wert.
7.
November 2003
Da
diskutierte man über Versicherungen - in einer Gesprächsrunde, der
ich unlängst beiwohnte. Über deren Sinn und Unsinn, Nutzen und
Schaden wurde da debattiert. Wogegen sich die Leute nicht alles
versichern! Gegen Unfall und schlechtes Wetter, gegen Diebstahl und
Einbruch. Man kann sein Gepäck versichern und vorsorgen, wenn der
Urlaub ins Wasser fällt. Schließlich gibt es eine Reiserücktrittsversicherung.
Der eine ist über-, der andere unterversichert. Aber versichert,
versichert ist (fast) jeder. Zumindest hat man eine
Lebensversicherung, mit der man im Todesfall für die Angehörigen
sorgt. Doch, das Wort einmal wortwörtlich genommen: Das Leben
versichern, geht das denn? Wie viel Sicherheit ist erreichbar? Die
Diskussionsrunde war sich einig: Leben ist nicht ohne Risiko, ist
niemals sicher - trotz aller Versicherungen.
Ich
musste denken, wie recht doch der Dichter hat: „Kinder seid
ehrlich, Leben ist immer lebensgefährlich.“ Man versichert sich,
weil das Leben nicht sicher ist. Man möchte - so gut es geht - auf
Nummer sicher gehen, denn Unsicherheit ist schwer zu ertragen. Aber
es ist doch so: Für den nächsten Tag gibt es keine Garantie. Was
auf uns zukommt, ist ungewiss. Keine Versicherung wendet die
Krankheit ab. Und todsicher ist der Tod. Wie aber - meinte da einer
in der Runde - wäre es mit etwas mehr Vertrauen?
Ohne
Vertrauen geht es wohl nicht. Vorsorge mag geboten sein, aber
notwendig ist auch Sinn für die Realität des Lebens. So wie Jesus
ihn hatte, als er seinen Jüngern sagte: „Zergrübelt euch nicht
den Kopf um den kommenden Tag. Könnt ihr etwa der Zeit eures Lebens
auch nur eine Elle hinzusetzen? Ihr wisst, es ist unmöglich. Also
vertraut darauf, dass euer Leben letztlich (wirklich letztlich!) bei
Gott geborgen ist.“
Samstag, 8. November 2003
Manche
sammeln Münzen. Sie lassen sich faszinieren von den verschiedenen
Größen und Prägungen. Die Prägung bestimmt den Wert der Münze.
So ist das auch in unserem Denken und Handeln. Wir sind geprägt:
durch Herkunft, Lebensumstände, Menschen, denen wir begegnet sind,
und besonders durch den Geist, in dem wir erzogen wurden.
Wenn
wir glauben zu erkennen, was einen anderen Menschen prägt, was sein
Handeln bestimmt, drücken wir das manchmal dadurch aus, dass wir
sagen: „Man sieht doch gleich, wes Geistes Kind der ist.“ Wes
Geistes Kind bin ich? Was hat mich geprägt, welche Gedanken,
Vorstellungen und Wünsche bestimmen mein Handeln? Jeder Mensch,
ganz gleich, ob religiös oder nicht, ist von Leitlinien bestimmt,
nach denen er handelt, wenn auch vielleicht nur unbewusst.
Die
Prägung der Münze kann ich nicht verändern. Die Prägung
hingegen, die meine Werte bestimmen, sind veränderbar, auch wenn
Veränderungen schwerer fallen mögen, als mir manchmal lieb ist.
Wes
Geistes Kind bin ich? Ich kann nur eines sagen: Der Geist, der
Christen prägen will, ist nicht der Geist, der immer mehr haben
will. Seine Leitlinien lauten nicht: mehr haben wollen, als man
bisher hatte, oder mehr sein wollen, als man bisher war. Der Geist,
der Christen prägen will, ist der Geist des Für-andere-Daseins, er
ist nicht der Geist des Besitzens oder Behaltens, sondern der Geist
des Gebens. Seine Dynamik ist nicht bestimmt durch Zugewinn an Macht
oder Besitz, sondern durch Zugewinn an Beziehung, Beziehung zu Gott
und Beziehung zu den Menschen. Er sucht die Begegnung, die sich dem
Mitmenschen zuwendet, und nicht die oft mörderische oder selbstmörderische
Rivalität.
|