Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

Landessuperintendent Peter Karner, Wien

 

 

Sonntag, 23. Mai 2004

Sonntag ist für die Christen der Tag der Auferstehung. Und darum will ich erzählen, warum die Egoisten liegen bleiben werden, und warum die alte Andulka wieder auferstehen wird.

 

Ein Leben lang hat die alte Andulka als Kammerfrau bei einer Fürstin gedient. Sie war längst zu einem Familienmitglied geworden. Und dass man vielleicht eines Tages auf sie würde verzichten müssen, war für sie unvorstellbar. Aber eines Tages wurde Adulka schwer krank und sollte sich nicht mehr erholen. Die alte Fürstin ist täglich an ihrem Bett gesessen und hat versucht, sie zu trösten. Aber Andulka konnte sich einfach nicht damit abfinden, dass es für sie nichts mehr zu tun gab, oder dass eine andere Person an ihre Stelle treten würde.

 

Plötzlich – ganz kurz bevor sie diese Welt verließ – ist ein Leuchten über ihr Gesicht gegangen, und sie hat der Fürstin zugeflüstert: „Aber vielleicht kann ich Durchlaucht bei der Auferstehung behilflich sein!“

 

Und Friedrich Torberg, der diese geradezu biblische Geschichte überliefert hat, fügt hinzu: „Und das Schönste daran ist, dass sie beide – Fürstin und Kammerfrau – von ganzem Herzen an diese Möglichkeit geglaubt haben.

Für Andulka gibt es keine Auferstehung ohne Nächstenliebe. Ein beglückender Unterschied zu jener heute weit verbreiteten Egoistenreligion, die schon Kinder beten lehrt: „Lieber Gott mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“

 

 

Montag, 24. Mai 2004

Das waren großartige Menschen, die sich entschlossen haben, in Wien einen gotischen Dom zu bauen.  Der Bauherr, ein Erzherzog, entschließt sich eine Kirche zu bauen, die er nie fertig sehen wird. Und trotzdem will er sie bauen. Und dann wird es 300 Jahre dauern.

 

Die Künstler und Arbeiter arbeiten an einem Projekt, das sie nicht vollenden werden.

Und den Zeitgenossen verspricht man eine Kirche, in die sie nie gehen werden. Freuen sie sich auf diese Kirche über den Tod hinaus, oder sagen sie längst: „Des wird nie fertig, ihr wird’s es schon sehen.“ Und das Teuflische dabei ist: Das werden sie wirklich sehen, denn sie werden ein Leben lang an einer Baustelle vorübergehen.

 

Auch unsere Generation arbeitet an Projekten, die über den Tod hinausreichen. Wahrscheinlich werden wir den Weltfrieden nicht erleben – und trotzdem arbeiten wir weiter daran. Und mit der sauberen Umwelt ist es genauso. Auch das Ende des Hungers in der Welt und die vollendete Ökumene wird unsere Generation nicht mehr erleben, aber gerade deshalb muss sie weiterkämpfen.

 

Die alten Aktivisten und Aktivistinnen gehen zwar nicht in Pension, aber sie wissen längst, dass sie ihre Lebensziele an die nachfolgenden Generationen weitergeben müssen.

 

Wer den größeren Atem hat, wird diese Welt bestimmt ein wesentliches Stück weiter bringen, die ideologischen Hektiker haben ihr höchstens „die Haxen ausgerissen“.

 

 

Dienstag, 25. Mai 2004

Auch Könige  müssen eines Tages in Pension gehen. Da hilft keine Verlängerung der „königlichen Dienstzeit“ – eines Tages ist es so weit. Aber in welche Hände wird das Königreich jetzt fallen. Auch den weisen König Salomo haben solche Gedanken geplagt und den Schlaf geraubt:

 

„Da hast du große Werke vollbracht, hast Weinberge und Gärten angelegt, Häuser und Paläste gebaut; da hast du Erfolg gehabt wie kaum einer vor dir. Und was hast du jetzt davon? Nach dir wird einer kommen, und du hast keine Ahnung, was er aus deinem Lebenswerk machen wird. Und der König verwünscht seine jahrlange Mühe, muss er doch alles einem anderen überlassen. Und wer weiß, ob das ein tüchtiger Mann oder ein Trottel sein wird. Und doch wird er schalten und walten mit allem was ihm jetzt zugefallen ist.“ Und schon zornig geworden, sagt sich der König: „Da hat sich einer sein ganzes Leben geplagt, und dann muss er es einem anderen überlassen, der keinen Finger dafür gerührt hat.“

 

Denken nur alte biblische Könige so, oder denken nicht viele Menschen, die 2004 in Pension gehen und ein Lebenswerk hinterlassen, genauso.

 

Denn grundsätzlich stünde für jeden ein Nebochant als Nachfolger bereit. Und doch hat es König Salomo geschafft, ein neues Leben ohne Bitterkeit zu beginnen. Das wünsch ich auch den Pensionisten und Pensionistinnen dieses Jahres.

 

 

Mittwoch, 26. Mai 2004

Das ist einer der bekanntesten Pensionistenwitze: Was ist der Unterschied zwischen einem österreichischen und einem französischen Pensionisten? Nun, der französische Pensionist steht um 10 Uhr auf, kauft einige Delikatessen und eine Flasche Champagner ein und geht zu seiner Freundin. Der österreichische Pensionist steht um 6 Uhr früh auf, macht in ein vorbereitetes Fläschchen und geht zum Kassenarzt zur Harnprobe!

 

Lachen hier die angegrauten Casanovas über die Spießer? Aber ganz sicher nicht die jüngere Generation über die ältere.

 

Jüngling und Maid, sowie Mann und Frau bis knapp vor der Midlife-Crisis sind überzeugt davon, ein Recht auf ein erfülltes Liebesleben zu haben. Großeltern hingegen sollten mönchischer Zurückhaltung immer neue Reize abgewinnen können.

 

Und das ist in einer Wiener Familie passiert: Zögernd aber doch hat der 67-jährige Großvater der geballten Familie bekannt gegeben, dass er sich verlobt hat. Töchter und Schwiegersöhne waren eher peinlich berührt, und die ausgewachsenen Enkerln verstiegen sich zu den Höhen moralischer Entrüstung: „Opa, in deinem Alter!“

 

Früher einmal mussten sich die Jüngeren ihr Recht auf eigene Lebensgestaltung gegenüber der älteren Generation erkämpfen. Heute scheint es manchmal umgekehrt zu sein.

 

 

Donnerstag, 27. Mai 2004

„Aus dem Besten kommt das Ärgste“, sagt Martin Luther. Und er nennt dafür viele deftige Beispiele: Aus den Aposteln kommt Judas, der Verräter. Aus der römisch-katholischen Kirche, die viele Märtyrer gegeben hat, kommt der Antichrist.

 

„Aus dem Besten kommt das Ärgste“, sagt Martin Luther. Aus Ehefrauen werden Ehebrecherinnen, aus Jungfrauen Huren; aus Brüdern, Söhnen und Freunden werden die ärgsten bittersten Feinde. Aus dem Evangelium und der göttlichen Wahrheit kommen Teufelslügen, aus der Kirche Ketzer.

 

„Aus dem Besten kommt das Ärgste“, sagt Martin Luther. Aus der Speise wird Unflat, der durch den natürlichen Weg ausgeschieden wird, aus köstlichem Wein und andere Getränke wird Harn.

 

Aus dem Luther kommen Thomas Müntzer und andere Aufrührer. Ist’s dann ein Wunder, dass schlechte Menschen unter uns sind, von uns kommen und ausgehen?

 

Heuer gehen wieder viele Leute in Pension. Da wird man doch noch fragen dürfen, was von ihnen ausgegangen ist. Können wir stolz sein auf die Schüler und Nachfolger, die wir selbst großgezogen und ausgebildet haben. Haben die Lehrer nicht auch viele Duckmäuser, und die Pfarrer nicht auch viele scheinheilige Spießer ausgebrütet?

 

Und Luther tröstet: es ist zwar traurig, wie viele Menschen wir nach unserem sündigen Vorbild geschaffen haben – aber die guten Dinge können die bösen aushalten!

 

 

Freitag, 28. Mai 2004

Die Ballade von der Spielverderberin passiert ja immer wieder. Und die Verwandtschaft hat sich das aber wirklich ganz anders vorgestellt, wenn die Mutter in Pension geht. Jahrzehntelang hat sie gehorsam ihre Rolle als Gattin und Mutter gespielt. Für sich hat sie auf alles verzichtet und hat immer brav getan, was man von ihr erwartet hat.

 

Als sie mit 70 Witwe wurde, ändert sie auf einmal ihre Lebensgewohnheiten. Sie freundet sich mit dem netten Herrn im 2. Stock an und sitzt stundenlang bei der Hausmeisterin in der Küche. Zwei bis dreimal in der Woche isst sie jetzt im Gasthaus und leistet sich dazu ein Viertel Wein. Und zum ersten Mal in ihrem Leben überlegt sie nicht mehr, was die Leute über sie sagen werden.

 

Ihre verheirateten Kinder waren schockiert. Ist die Mutter denn auf einmal verrückt geworden: Wo kommen wir denn da hin, wenn die auf einmal nur mehr an sich denkt. Und die Kinder, ihre lieben Enkelkinder dürfen wir ihr auch nicht mehr anhängen. Und wir Trotteln haben geglaubt, es macht der Mutter Spaß, ja bringt ihr die Erfüllung, wenn sie andere bedienen darf. Und sie will einfach nicht mehr den „Trottel für uns spielen“ – hat sie gesagt. Wenn das Schule macht,  dann kommt es noch zum Aufstand der Großmütter!

Wo ist die schöne Zeit, wo ältere Frauen rechtzeitig fromm und opferbereit geworden sind?

 

 

Samstag, 29. Mai 2004

Alte Damen haben meist etwas Rührendes an sich, wenn sie mit leuchtenden Augen von ihrer Jugend erzählen: „Mich hätten sie seinerzeit sehen sollen; ich bin nämlich einmal eine Schönheit gewesen – voller Temperament und Feuer.“

 

Wer wird der rüstigen Seniorin da schon widersprechen, wenn er nicht gerade ein ausgekochter Rohling ist? Ein Schuss schwärmerischer Nostalgie macht schließlich das Altwerden erträglicher. Aber es ist schon eine gehörige Portion Phantasie nötig, um sich die ehrwürdige Matrone als vitales junges Mädchen vorzustellen.

 

Der Kirche geht es auch nicht anders. Viele Menschen haben den Eindruck, Besuch bei einer alten Dame zu machen, wenn sie irgendwo auf die Kirche stoßen.

 

Und auch die „alte Dame Kirche“ hat etwas Rührendes, wenn sie – und morgen zu Pfingsten tut sie das besonders gern – mit leuchtenden Augen von ihrer Jugend erzählt: „Mich hätten sie damals sehen sollen, wie der heilige Geist die Jünger gepackt hat, und alle geglaubt haben, die sind betrunken. Mich hätten sie sehen sollen, wie mich die Apostel gegründet haben – damals bin ich nämlich eine Schönheit gewesen, voller Temperament und Feuer.“

 

Könnte es sein, dass aus dem „jungen verrückten Mädchen Kirche“ eine Pensionistin geworden ist. Ist die Kirche in Pension gegangen? Aber warum sollte in einer alt gewordenen Welt nicht auch die „Pensionistin Kirche“ ihre Reize haben?