Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von
Martin Schenk, Evang. Kirche
"Eselgeschichten"
Sonntag, 11. Juli 2004
Seit
einem Jahr stehen in unserem Stall zwei Eseln. Am Tag laufen sie
hinaus auf ihre Weide, fressen Heu, knabbern Holz und Rinde an, und
erfreuen die Nachbarschaft durch ihr markerschütterndes Geschrei.
Störrisch
sind sie, sagen alle, steht fast überall, dachte ich auch. Aber so
einfach ist es nicht.
Störrisch
wird unser Esel, wenn man ihn nicht respektiert. Wenn er auf seinem
Weg stehen bleibt, dann braucht man ihn nicht zu ziehen oder zu
zerren oder zu schlagen, damit er weitergeht, nein man braucht nur
kurz zu warten, andeuten, dass es weitergeht und schon setzt er sich
in Trab. Wenn man aber zu ziehen beginnt, dann stemmt er sich
dagegen. Wenn man ihn weiterzerren will, dann bleibt er angewurzelt
stehen. Ist das störrisch? Nein, das ist sympathisch. Der Esel ist
nicht gern Untertan. Er unterwirft sich nicht. Er will Respekt. Der
Umgang mit Eseln ist aber davon geprägt, ihren Willen zu brechen.
Sie sollen gehen, wohin sie nicht wollen. Sie sollen ziehen, wo sie
nicht mehr können. Sie sollen tragen, was sie nicht schaffen. Sie
sollen schweigen, wo sie schreien. Sie sollen fressen, was man ihnen
vorsetzt. Sie sollen wollen, was andere fordern.
Die Esel machen das auch – aber unter Protest. Sie sind die
widerständigen Köpfe unter den Haustieren. Der Esel ist nicht gern
Untertan. Er unterwirft sich nicht. Er will Respekt.
Montag, 12. Juli 2004
Ein
letzter Blick zurück auf ihre Stadt, ein letzter Blick zurück auf
ihr Dorf. Proviant und
Decken packen sie auf den Esel, Maria setzt sich mit dem kleinen
Baby auf den Rücken. Josef nimmt den Esel am Strick und sie brechen
Hals über Kopf auf. Die Zeit drängt. Das Regime des Machthabers
Herodes ist hinter ihnen her. Die Flucht gelingt, sie kommen nach Ägypten.
Eine Familie politisch verfolgt, ohne Papiere. An der ägyptischen
Grenze fragt zum Glück niemand, ob sie schon durch ein sicheres
Drittland gekommen sind, zum Glück kommt niemand auf den Gedanken,
ob der Esel ein Trick ausgefuchster Schlepper sei, zum Glück steckt
sie niemand in Schubhaft. In Ägypten sind sie einmal sicher vor
Verfolgung: Maria und Josef und das Baby.
Der Esel war ihr Lebensretter, er überwand die ersten
steilen Berge, er hatte noch Kraft in der Wüste als ihnen die
letzten Reserven ausgingen, er fand eine Bleibe nach der Grenze.
Als
Sarajewo eingekesselt war, im Winter vor ein paar Jahren, flohen
viele seiner Bewohner über die einzige offene Flanke über die
Berge. Es war grausam. Die Alten konnten das Tempo nicht halten, die
kräftigen Männer trugen die schwachen Älteren, auch die erschöpften
Kinder. Aber lang hielten sie das nicht durch. Wären da nicht die
Eseln gewesen, die die Flüchtenden auf ihrem Rücken über den Berg
trugen. Eseln sind
Lebensretter, in Sarajewo, in Tschetschenien – und bei Maria,
Josef und dem kleinen Baby.
Dienstag, 13. Juli 2004
Du
dummer Esel, schimpfst du mich. Das lässt sich ein Esel nicht so
einfach umhängen. Eine Eselin im Buch Mose zeigt wie klug und
scharfsichtig sie ist. Die Israeliten,
auf dem Weg ins gelobte Land, waren in die Region der Moabiter
gekommen. Der König der Moabiter fürchtete sich vor den vielen
Israeliten. Darum rief er Bileam, einen Propheten, er solle die
Israeliten alles Böse an den Hals wünschen, er solle sie
verfluchen. Bileam sattelte seine Eselin und brach auf. Gott sandte
einen Engel, um die Israeliten zu beschützen und Bileam von seinem
Vorhaben abzubringen. Der Engel versperrte Bileam und seiner Eselin
den Weg. Doch Bileam sah den Engel nicht, aber die Eselin. Sie blieb
stehen. Da schlug und beschimpfte Bileam die Eselin. Über das
angrenzende Feld kamen sie am Engel vorbei. Noch einmal stellte sich
der Engel in den Weg. Bileam erkannte und sah nichts, nur seine
Eselin, sie blieb wieder stehen. Der Weg war jetzt so eng, dass sie
nicht mehr am Engel vorbeikamen. Bileam schimpfte über seine
Eselin, wie störrisch sie sei.
Da
begann die Eselin zu sprechen und wies auf den Engel hin, der vor
ihnen stand. Da gingen Bileam die Augen auf und er konnte den Engel
sehen. Und die Israeliten wurden
von Bileam nicht verflucht, sondern gesegnet.
Die
Eselin ist klug. Sie zeigt: Rettende
Engel gibt es; dann wenn man sie erkennt.
Mittwoch, 14. Juli 2004
Auf
einer Eselin zog er in Jerusalem ein. Nicht auf einem Pferd. Auf
einem Pferd so würde man es sich für einen König erwarten, für
einen Krieger, für einen Herrscher, auch für einen mächtigen
Priester oder Regierungsberater. Sie alle kämen auf einem Pferd
geritten, hoch zu Ross. Er aber zog auf einer Eselin durch die Tore
Jerusalems. Bisher hatte er ja eher Umgang mit Leuten, mit denen man
sich nicht gerne sehen lässt: Randexistenzen, Verrückte, Außenseiter,
mit den Umgeknickten, mit den Ohnmächtigen, mit den Armen.
Armut
ist gleichzeitig aufdringlich und unsichtbar, laut und verschämt.
Den Bildern vom "tragischen Armen" stehen jene des
"glücklichen Armen", dem "unechten Armen" die
des "edlen Armen“ gegenüber.
Armut ist nicht nur Entbehrung, sondern auch Demütigung. Zwar sind
die Betroffenen von den materiellen Segnungen des jeweiligen Systems
gründlich ausgeschlossen, nicht aber von diesem System selbst.
Vielmehr sind sie seinen Zwängen am meisten ausgeliefert: gerade
jene, die liegengelassen wurden, werden nicht mehr losgelassen. Die
am meisten Ausgeschlossenen sind die am meisten Eingeschlossenen.
Wie eine Gesellschaft mit den "Ausgegrenzten", den
"Anderen" umgeht, seien es Arme, Migranten,
Langzeitarbeitslose, ist so etwas wie ein Seismograph für ihren
inneren Zustand.
Sie
alle zogen mit Jesus in Jerusalem ein, er rückte den Rand in die
Mitte - nicht hoch zu Ross, sondern auf einer Eselin.
Donnerstag, 15. Juli 2004
Wenn
in der Bibel der Reichtum eines Mannes beschrieben wird, findet man
immer auch eine Herde von Eseln dabei.
Das ist privater Reichtum. Dann taucht aber noch der Esel
auf, der den Reichtum des Landes auf seinem Rücken trägt.
Weintrauben, Korn, Wein sind in ihrer ganzen Fülle auf einen Esel
gepackt.
Neben
Besitz/Vermögen, also dem Bereich, der beim Thema Reichtum der
offensichtlichere ist, kann ein Land Reichtümer im Bereich der öffentlichen
Güter bzw. öffentlichen Leistungen haben: Vom Bereich des
Humankapitals - also vom Wissen und Können der Menschen - bis hin
zu hohen Sozialstandards. Ein gutes Qualifikationsniveau der Bevölkerung
ist eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und
Prosperität. Ein gutes Gesundheitssystem und die solidarische
Absicherung von Risken wie Arbeitslosigkeit oder Alter zählen zum
Reichtum einer Gesellschaft. Sie sind Reichtums- und
Wohlstandsindikatoren. Es lohnt sich im Trommelfeuer der
vorgetragenen Verknappung von Mitteln, der permanenten Sparlogik und
Opferrhetorik die Fülle in den Blick zu bekommen. Es lohnt sich,
die ökonomischen Sachverhalte zu überprüfen, die uns als unumstößliche
Wahrheit präsentiert werden. Es lohnt sich, die Produktionsstätten
neualter Ideologien auszuheben, die Glück und Freiheit versprechen
und soziale Polarisierung bringen. Es lohnt sich den Blick auf den
Esel zu werfen, der den Reichtum der Erde geschultert hat. Er sagt:
es ist genug für alle da.
Freitag, 16. Juli 2004
Arm
ist, wer nicht genug von dem hat, was er braucht. In Wohlstand lebt,
wer etwas mehr hat, als er braucht. Und reich ist, wer mehr hat, als
er braucht und bei dem dieses Mehr immer mehr wird.
Die
Frage, was Reichtum sei, ist so alt und umkämpft wie die Bewertung
von Armut. Handelt es sich dabei ja um die Auseinandersetzung darüber,
was wir in Fülle haben wollen und was uns als Mangel erscheint. In
diesem Sinne sind die Begriffe arm und reich beinahe unbegrenzt
anwendbar. Jemand kann arm an Gefühlen, aber reich an Geist sein,
ein anderer mag arm an intellektuellen Begabungen sein, aber dennoch
reich in Bezug auf die Zuneigung, die er empfängt. Von innerem
Reichtum lässt sich ebenso sprechen wie von einer reichen
Gesellschaft, deren moralischer Zustand dennoch einem Armutszeugnis
gleicht.
Sowie
Armut mit "sozialer Ausgrenzung" genauer beschrieben
werden kann, so geht es bei Reichtum nicht in erster Linie um das
ausgegebene Geld, nicht um die konsumistische Seite. Es geht um den
Möglichkeitsraum, den Reichtum für die betreffenden Personen
aufmacht. Es geht um die politische Durchsetzungskraft, die sich
Reichtum schafft, um die Bedingungen immer mehr zu seinen Gunsten zu
verschieben. Reichtum definiert sich durch seine
"kapitalen" Möglichkeiten! Die Macht der Möglichkeiten
nicht auf wenige zu beschränken, sondern allen zugänglich zu
machen, ist nach wie vor die große Herausforderung unserer
"gemeinsamen Sache", der res publica, der Politik.
Samstag, 17. Juli 2004
Die
zentrale Geschichte des Helfens, die karitatives und humanitäres
Engagement in diesen Breiten seit Jahrhunderten legitimiert und
motiviert, handelt von einem Esel.
Zuerst
lassen Räuber einen Reisenden halb tot im Straßengraben zurück.
Jetzt beginnt die Geschichte noch einmal: Ein Mensch mit seinem Esel
auf der Durchreise bleibt stehen. Er packt den Verletzten auf seinen
Esel und bringt ihn zum nächstgelegenen Gasthof. Bezahlt,
versichert sich, dass gesorgt ist, und kündigt an, auf dem Rückweg
noch einmal vorbeizuschauen. Dann geht der Mann aus Samaria seiner
Wege. Ein interessanter Typ: Kein sich selbst verzehrender Helfer,
kein oberg’scheiter Gesinnungsakrobat. Für ihn ist es ganz
einfach: Unsere Wege haben sich gekreuzt, ich habe das Notwendende
getan, ich sichere die Rahmenbedingungen, dass du dich erfängst,
ich komme wieder vorbei. Und dann die Frage von Jesus an seine Zuhörerinnen
und Zuhörer: "Wer war dem Überfallenen der Nächste?"
Nicht: An wem soll ich Nächstenliebe üben? Hier findet ein
radikaler Perspektivenwechsel statt, bricht ein anderer Blick in die
Geschichte ein. Die Frage stellt sich aus der Sicht des in Not
Geratenen: "Wer ist mein Nächster?" Mit den Augen des
Opfers. Nächstenliebe ist nicht die Hilfe für den Nächsten,
sondern selbst jemand anderem der Nächste zu werden. - So wie der
Samariter mit seinem Esel.
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