Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

Morgengedanken, 1. – 7. August 2004

 

von Dr. Helga Kohler-Spiegel

 

Helga Kohler-Spiegel, Dr. theol., Professorin für Religionspädagogik an der Pädagogischen Akademie des Bundes, Feldkirch/Österreich. Tätig in beruflicher Fortbildung und Erwachsenenbildung, Praxis für Beratung, Supervision und Coaching

Sonntag 1. August 2004:

 

Manchmal wachen wir auf und die Nacht klingt noch nach. Wir spüren, ob wir gut oder schlecht geschlafen haben, ob noch Träume oder Traumfetzen auftauchen, oder ob zumindest noch ein Gefühl, das aus unseren Träumen stammt, spürbar ist.

Sie kennen das sicher auch, Träume, aus denen man gar nicht aufwachen möchte, weil sie so schön sind, entspannend und nah an unseren Wünschen. Aber es gibt natürlich auch die Albträume, aus denen wir froh sind zu erwachen, noch ganz angespannt vom Gefühl, gerade noch überlebt zu haben.

 

Die religiösen Traditionen kennen alle den Wert und die Wichtigkeit von Träumen. In Traumbilder verschlüsselte Botschaften erreichen nur die Menschen, die hellhörig und achtsam genug sind für diese inneren Bilder. Manchmal lässt uns ein Sonntagmorgen ein wenig Zeit, nicht gleich in den Tag hetzen zu müssen, sondern den Traumbildern noch nachzuhängen, sie nachklingen zu lassen und zu spüren, was sie uns zeigen wollen, auf welche Gefühle sie uns hinweisen wollen.

 

Montag 2. August 2004:

 

Die ewigen „Nein-Sager“ stehen nicht hoch im Kurs. Gefragt sind verständnisvolle, kompromissfähige Partner. Aber es gibt auch solche, die nicht nein sagen können, deren Harmoniebedürfnis ernsthafte Auseinandersetzungen kaum zulässt. Manchmal braucht es tatsächlich viel Mut, ein „Nein“  zu riskieren.

 

Ich möchte Ihnen heute eine Geschichte aus dem Alten Testament, der gemeinsamen Bibel der Juden und Christen, erzählen. Sie handelt von einem König, der ein riesengroßes Fest veranstaltet hatte. Nachdem die Männer und die Frauen viele Tage in getrennten Zelten gefeiert hatten, ließ der König seine Königin, Waschti mit Namen, zu sich ins Zelt der Männer rufen. Sie sollte vor ihnen tanzen, damit alle sehen könnten, wie schön die Königin sei. Waschti wurde gerufen – aber sie sagte „Nein“. Es war kein leichtes „Nein“, die Konsequenzen waren für Waschti bitter, sie wurde mit Liebesverlust bestraft, sie wurde abgewertet, sie wurde vertrieben.

 

Wieso ich Ihnen das am frühen Morgen erzähle? Es gibt manchmal den Punkt, wo wir „Nein“ sagen müssen, zu unserem Schutz, auch wenn es uns schwer fällt und die Konsequenzen wehtun. Es ist vielleicht ein „Nein“ gegenüber Ansprüchen und Erwartungen in der eigenen Partnerschaft oder in der eigenen Familie, es ist vielleicht ein „Nein“ gegenüber Kollegen oder Leitungspersonen oder sonst jemandem. Manchmal ist so ein „Nein“ notwendig – auch wenn die andere Person irritiert ist, auch wenn es doch bisher auch immer ging, es war ja noch erträglich…. Manchmal ist ein „Nein“ viel mutiger als zu allem „Ja und Amen“ sagen.

 

 

Dienstag 3. August 2004:

 

Ich hoffe, Ihr Morgen hat nicht schon so begonnen: Der Partner, eines der Kinder, ein Elternteil – wer auch immer im gemeinsamen Haushalt lebt – hat einen Satz gesagt, der uns ärgert. Wir haben Zwischentöne gehört, die uns irritieren, kränken, zornig machen. Doch – wie so oft – es kommt nicht dazu, das Gefühl überhaupt wahrzunehmen und als solches dann rückzumelden, sondern wir reagieren, ebenso doppelbödig, verärgert, gekränkt. Und dann gibt ein Wort das nächste, es scheint unmöglich zu sein, die Spirale der Worte und des Streits zu stoppen. Danach, wenn es eskaliert ist, die beteiligten Personen laut geworden sind oder demonstrativ schweigen, sich nicht mehr ansehen und nicht mehr miteinander reden, dann erst kommt das Nachdenken, dass wir uns ja eigentlich mögen und dass der Anlass den Streit gar nicht wert war und und und.

 

Nun denn, ich hoffe, Ihr Morgen hat nicht schon so begonnen. Es macht aber Sinn, immer mal wieder in guten Zeiten darüber zu reden, wie wir streiten, wann wir eine Pause machen und den Raum verlassen sollten, um die Spirale der bösen Worte zu stoppen. Es macht Sinn, in guten Zeiten darüber zu reden, wer nach dem Streit das Schweigen bricht und wie es besser weitergehen könnte. Es macht Sinn, in versöhnten Zeiten mal darüber zu reden, wie wir streiten.

Mittwoch 4. August 2004:

 

Haben Sie sich schon mal überlegt, von wem Sie sich eigentlich etwas sagen lassen? Nicht, wer Ihnen bei der Arbeit vorgesetzt ist und damit auch Anweisungen geben kann. Das meine ich nicht. Sondern, von wem Sie sich wirklich etwas sagen lassen.

 

Ich erzähle einem nahen Freund, einer guten Freundin, was ich erlebt habe, was mich beschäftigt und belastet. Und plötzlich kommt ein Satz, der – ehrlich und direkt formuliert – mich sehr trifft: Da handelst du aber genauso, da finde ich, hast du etwas übersehen, warst ungerecht…. Und ich merke, wie es mich trifft und mir zugleich unangenehm ist, so „entdeckt“ zu werden. Vielleicht kann ich es in dem Moment noch gar nicht zugeben und sagen: Ja, da hast du eigentlich recht. Vielleicht ist es schon viel, wenn ich sagen kann: Darüber muss ich nachdenken.

 

So kann es geschehen, dass wir etwas lernen, dass wir uns verändern. Aber es beginnt damit, dass ich überhaupt auf jemanden höre. Wenn wir jemanden mögen, ist das wohl leichter.

 

 

Donnerstag 5. August 2004:

 

Laut Statistik, heißt es, reden Paare vier bis sieben Minuten täglich über nicht-organisatorische Dinge miteinander. Das heißt: wenn besprochen ist, was eingekauft werden muss, was erledigt und was geplant werden muss, wenn besprochen ist, wer besucht und wer eingeladen werden soll und wo eventuell die Kinder wann abgeholt werden müssen – wenn all das besprochen ist, bleiben vier Minuten, vielleicht fünf, vielleicht sieben Minuten.

 

Wie soll ich in vier bis sieben Minuten verstehen, was für einen Tag meine Partnerin erlebt hat, wie soll ich in vier bis sieben Minuten wissen, wie es mir selbst und meinem Partner wirklich geht, was uns beschäftigt, welche Wechselbäder an Gefühlen es im Verlauf des Tages gegeben hat. Im Gespräch können wir oft deutlicher verstehen, was wir denken und fühlen, im Gespräch spüre ich, dass ich nicht alleine bin, im Gespräch berühren wir uns auf ganz eigene Weise. Wenn ich nicht mehr sage, wie es mir geht, wenn ich nicht mehr weiß, wie es meinem Partner geht, sind wir in Gefahr, uns zu verlieren. Irgendwann fehlt das Gespräch nicht mehr, irgendwann merken wir gar nicht mehr, dass wir uns verloren haben.

 

Haben Sie heute Abend schon etwas vor? Vielleicht ist Zeit für mehr als vier bis sieben Minuten gemeinsamen Gesprächs?

 

 

Freitag 6. August 2004:

 

Ein mir lieb gewordener Text fragt nach dem, was Glück sei. Es heißt dort: “Was ist Glück? Ein Dach über dem Kopf. Ein paar gute Freunde. Keine Zahnschmerzen.
Das ist schon viel.“ Es gehört aber noch mehr dazu. Wenn über längere Zeit unsere Fähigkeiten brach liegen, wenn wir unsere Begabungen nicht einbringen können, wenn uns niemand braucht, dann kann uns das belasten, dann kann das bis zu Gefühlen der inneren Leere führen.

 

Wenn ein kleines Kind eine Zeichnung gemacht hat und zu Mama oder Papa kommt und voll Stolz zeigt, was es geschaffen hat, dann will es nicht Hinweise zur Verbesserung der Zeichnung, es will keine Korrekturen, sondern vor allem Anerkennung und Lob für das Bild. Diese Bestätigung brauchen wir von Zeit zu Zeit – durch all die Lebensjahre hindurch. Ob im Beruf oder in familiären oder häuslichen Aufgaben: Wenn auf Dauer nicht wertgeschätzt wird, was wir tun, wenn es niemanden gibt, der auch mal sagt: Das ist gut so, danke für das, was du tust, dann verhungern wir emotional. Dann wird es uns wie dem Kind mit seiner Zeichnung ergehen: Es wird ein paar Mal mit seiner Zeichnung enttäuscht weggehen, wenn nicht wertgeschätzt wird, was es gemacht hat. Und dann wird es sein Bild niemandem mehr zeigen.

 

 

 

 

 

Samstag 7. August 2004:

 

Haben Sie auch eine anstrengende Woche hinter sich? Eine Woche, von der Sie froh sind, dass sie vorbei ist? Eigentlich schade. Es ist unsere Lebenszeit, von der wir froh sind, dass sie vorbei ist.

 

Es gibt Stimmungen, die wir nicht einfach beeinflussen können. Es gibt aber auch die Tage, an denen es in unserer Hand liegt, ob ich den Tag mit einem guten Gedanken beginne, ob ich zuerst an das denke, was mir heute Freude machen wird, was an dem heutigen Tag gut sein könnte. Die meisten Tage im Leben eines Erwachsenen sind schön und anstrengend zugleich. Dann liegt es an uns selbst, ob ich mich vor allem dem zuwende, was schwierig ist, oder ob ich auch wahrnehme, was der Tag an Schönem bringen könnte.

 

Es klingt so banal, aber probieren Sie es einmal aus: Wenn Sie heute morgen an das denken, was der Tag an Schönem in sich bergen könnte  – vielleicht hören Sie einen Vogel singen, oder Sie sehen ein paar schöne Blumen, die Wolken am Himmel oder das Gesicht eines Menschen. Vielleicht gibt es im Supermarkt jemanden, der Ihnen in die Augen schaut, oder gar jemand, der lächelt.

Schwieriges wird der Tag auch bringen – aber es wäre schade, wenn Sie nur froh sind, wenn der Tag vorbei ist. Es ist Ihre, es ist unsere Lebenszeit, die vorbeigeht.