Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Kaplan Markus Madl, Graz
Sonntag,
15. August 2004
„Die
bessere Predigt“
Als
Priester und Seelsorger gehört das Vorbereiten der Sonntagspredigt
zu meinen wichtigsten Aufgaben. Aber erst seit dem ich im Rollstuhl
bin weiß ich, worauf es in diesem Dienst tatsächlich ankommt. Früher
dachte ich, die Predigt fängt nach dem Evangelium an und dauert im
besten Fall sieben bis zehn Minuten. Jetzt im Rollstuhl spüre ich
ganz deutlich: Das Predigen beginnt viel früher und geschieht noch
ehe ich ein Wort gesagt habe. Schon während mich der Mesner im
Rollstuhl über die Stufen zum Altar schleppt, sind viele Blicke auf
mich gerichtet. Sie prüfen, ob mein Glaube hält. Sie suchen
behutsam mein Gesicht, meine Augen und wollen sehen ob ich glücklich
bin, trotz Unfall, trotz Lähmung und all der Widerwärtigkeiten,
die ein Leben im Rollstuhl mit sich bringt. Wenn ich dann ganz
ehrlich mit einem wortlosen Lächeln antworten kann, ist der erste
Teil meiner Predigt schon vorbei. Ich habe dann meist das Gefühl,
die Leute haben alles ganz gut verstanden. Sie sehen ich bin glücklich,
als Priester und im Rollstuhl. In diesem Sinn hinterlässt jeder von
uns seine ganz persönliche Lebenspredigt schon beim ersten Blick.
Beim Aufstehen beim ersten Blick am Morgen denke ich gern an
Menschen, denen man die Freude ansieht, obwohl sie es nicht leicht
im Leben haben. Sie sind auch ohne ein Wort zu sprechen die besseren
Prediger und ich danke Gott, dass es sie gibt.
Montag,
16. August 2004
„Im
Rollstuhl ist vieles anders“
Eigentlich
verfüge ich über eine Körperlänge von 190 Zentimeter. Im
Rollstuhl bringe ich es nur auf eine Gesamthöhe von knapp 110
Zentimeter. In der Begegnung mit Kindern ist diese Veränderung
ein klarer Vorteil. Sie genießen es, wenn sie auf gleicher Augenhöhe
mit mir reden können. Es war schon vor dem Unfall meine
Angewohnheit, die Heilige Kommunion an Kinder immer auf gleicher Höhe
zu spenden. Da musste ich zwar oft auf meine Knie, aber es war eben
meine Art, ganz junge Christen im Gottesdienst ernst zu nehmen.
Jetzt, selbst zusammengeschrumpft auf 110 Zentimeter, kann ich das
Verhalten der Kinder verstehen. Es ist fürchterlich, wenn die Leute
ständig auf mich herabsehen und „von oben“ mit mir
kommunizieren. Meine direkte Sprache verschafft mir schnell Gehör
und sie vermag sogar dieses unangenehme „von oben herab“
einigermaßen auszugleichen. Aber was ist mit den vielen
Rollstuhlfahrern, denen jede Möglichkeit fehlt, diese Ungleichheit
zu kompensieren? Nur selten organisiert sich jemand einen Stuhl,
weil er auf gleicher Ebene mit mir reden will. Dennoch wäre es eine
besonders höfliche Geste.
Dienstag, 17. August 2004
„Talente
fördern, Berufung entdecken und Gemeinschaft bauen“
Ich
bin überzeugt, der Rollstuhl ist ein pastorales Werkzeug der
Sonderklasse. An der Spitze seiner Qualitäten nenne ich folgende
Eigenschaft: Er bremst jeden kurzsichtigen Aktivismus und fördert
vorausschauendes Denken, Kommunikation und Gemeinschaft. Untermauern
will ich diese Behauptung durch ein einfaches Beispiel: Während ich
vor meinem Unfall als gewissenhafter und eifriger Kaplan vom
Kopieren irgendwelcher Liederzettel über das Schleppen von Tischen
und Bänken bis zum Mähen des Pfarrgartens einfach für alles zu
haben war, so darf ich mich jetzt im Rollstuhl auf die Mitte meines
Berufes konzentrieren. Mein Rollstuhl ist mir nicht nur eine Hilfe
zum Gebet und damit ein unverrückbarer Anker in der Mitte meines
Berufes. Er ist weit mehr. Hatte ich früher eine gute Idee, das
Wort Gottes auf eine besondere und ansprechende Art und Weise den
Menschen näher zu bringen, so war ich Ideenlieferant und Ausführender
in einer Person. Jetzt ist das anders. Schenkt mir Gott heute neue
Gedanken, um in einer kleinen Aktion das Evangelium erfahrbar zu
machen, so liegt es bei mir zuerst talentierte Menschen zu finden
und für meine Idee zu gewinnen. Je größer der Kreis der
Mitarbeiter für eine Gute Sache ist, desto sicherer auch der
Erfolg. Und je mehr Verantwortung ich an begeisterte Christen
abgeben kann, desto stärker wird das Fundament der Kirche. Eine
Binsenweisheit, die ich erst im Rollstuhl in ihrer Tiefe erfasst
habe.
Mittwoch,
18. August
2004
Vorgeschmack
des Abschieds
Mein
Unfall war an sich noch nicht lebensbedrohlich. Das verdanke ich der
Rettungskette, die vom Auffinden meines Autos über den
Notarzthubschrauber bis hin zur raschen Operation perfekt
funktioniert hat. Als ernste Lebensbedrohung zeigten sich die erst
später auftretenden Komplikationen wie wochenlanges Fieber und
kontinuierliche Flüssigkeitsansammlung im Bereich der Lunge. Der
Blick des Arztes könnte nicht deutlicher sein. Er fragt aufmerksam
und vorsichtig nach meinem Befinden aber aus dem Tonfall seiner
Worte höre ich einmal Hilflosigkeit und dann wieder gezwungenen
Optimismus. Allein im Zimmer überfällt mich eine Traurigkeit, die
ich bis dahin noch nicht kannte. Ich musste zum ersten Mal an meinen
individuellen Abschied denken. Da bleibe ich übrig ganz alleine mit
meinem Gott. Er hat Welt, Vater, Mutter, Freund und Freundin
geschenkt. Froh bin ich über diese schwierige Zeit. Jetzt erst kann
ich jeden neuen Tag mit Freude aus Gottes Hand annehmen, auch wenn
er noch so dunkel ist. Und ich weiß ganz sicher, umsonst ist jeder
Tag, der endet ohne Liebe.
Donnerstag,
19. August 2004
Priester
im Rollstuhl
Für
meine Existenz als Priester ist mein fahrbarer Untersatz wie eine
zusätzliche lebende Fremdsprache eines Touristenführers. Leichter
und direkter kommen die Menschen auf das Wesentliche zu sprechen.
Manchmal bin ich sogar überrascht wie unmittelbar jemand, der mich
eben erst kennen gelernt hat, seine persönliche Frage nach dem
Lebenssinn vor mir ausbreitet. Wo soll er es sonst tun? Von einem
querschnittgelähmten Theologen und Priester wird man wohl annehmen
dürfen, dass er eine Antwort geben kann auf die Frage nach dem
Sinn. Eine echte Antwort soll er geben. Keine Antwort aus
irgendwelchen gescheiten Büchern, sondern eine, die geläutert ist
durch die Widerwärtigkeiten des eigenen Lebens. Kurz gesagt: Wer
selber viel Leid zu tragen hat und mich im Rollstuhl sieht, erkennt
mich leicht als einen Partner, der die selbe Sprache spricht und die
gleichen Fragen stellt. Fragen, die erschüttern, die unbequem sind,
denen man gerne ausweicht und die all zu schnell verharmlost werden,
weil sie so schwer zu beantworten sind.
Freitag,
20. August 2004
Rollstuhl
schafft Beziehung
Im
Rollstuhl gibt es eine
niemals endende Liste von Hindernissen. Stufen, Steigungen, hängende
Gehsteige, strenge Türschließer, Plakatständer mitten am Fußweg
und vor allem WC-Anlagen. Manche Barrieren kann ich mit viel Geduld
und Zeitaufwand aus eigener Kraft überwinden. Oft aber bin ich auf
helfende Hände angewiesen. Dabei bemühen sich gerade die am
meisten, von denen ich es nach meinem subjektiven Empfinden erst gar
nicht erwartet hätte. Unvergessen bleibt für mich der Obdachlose
vor dem Grazer Dom. Mit größter Umsicht und Sorgfalt half er mir
ins Auto. Manche Rollstuhlfahrer halten sich an den Grundsatz:
„Ich gehe nur das an, was ich auch selber machen kann.“ Damit
vermeiden sie es, anderen zur Last zu fallen. Meine Begegnung mit
dem Obdachlosen hat mich etwas anderes gelehrt. Genau dort, wo ich
auf Hilfe angewiesen bin, tut sich für mein Gegenüber ein neuer
Ort der Sinnfindung auf. Bisweilen fehlen die einfachen Wege, sich
unmittelbar und unkompliziert nützlich zu machen. Es ist auch
schwierig in einer Welt, in der beinahe jeder alles selber machen
kann. Wer von uns ist schon tatsächlich auf unentgeltliche Hilfe
angewiesen? Behinderte Menschen sind es oftmals am Tag.
Samstag, 21. August 2004
Gott
sei Dank, ich bin im Rollstuhl
Seit
drei Jahren bin ich Rollstuhlfahrer. Beim Aufwachen denke ich oft:
Gott sei Dank, ich bin im Rollstuhl. Das mag ironisch klingen, ist
es aber nicht. Oft erinnere ich mich an die Zeit unmittelbar nach
meinem Autounfall. Bewegungslos im Bett liegend starrte ich oft
neidisch auf meinen Zimmerkollegen. Ihm war es gewährt, aus eigener
Kraft aus seinem Bett in den Rollstuhl zu wechseln und unser
gemeinsames Zimmer zu verlassen. Eine Freiheit, von der ich nur träumen
konnte. Zu diesem Zeitpunkt brauchte es drei Therapeuten, um meinen
empfindungslosen Körper in eine Stellung zu bringen, die lediglich
einem erbärmlichen Kauern an der Bettkante glich. In dieser
Position konnte ich gerade fünfzig Sekunden lang bleiben, ehe ich
kampflos in Ohnmacht viel. Aufgewacht bin ich dann wieder
schnurgerade auf meiner Luftkissenmatratze liegend und meinen
rollstuhlfahrenden Zimmerkollegen hörte ich neben mir mit den
Worten: „fünfzig Sekunden, das ist gut“. Mir ging es aber gar
nicht gut, weil mir niemand mit Sicherheit sagen konnte, ob ich mich
jemals aus eigener Kraft in einem Rollstuhl werde fortbewegen können.
Auf diesem Hintergrund bin ich jetzt im Rollstuhl überglücklich.
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