Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

von Mag. Regina Polak,

Philosophin und Theologin, Wien

 

Sonntag, 22. August 2004

Aus – Zeit. Sommer.

 

Die Kinder haben Ferien. Und auch für die Erwachsenen sind Juli und August eine Zeit, in der so manches anders läuft als sonst – selbst dann, wenn man im Sommer arbeitet. In Wien sind die Straßen leerer, die Menschen entspannter, sie gehen langsamer und lächeln einen öfter an, sind braungebrannt und luftig bekleidet. Man sieht mehr Haut – man sieht mehr Mensch. Das macht alle ein bisschen freier und freundlicher.

 

Die Parks sind ruhiger, weil viele ins Bad oder auf Urlaub gefahren sind. Idyllische Plätze mitten in der Stadt. Man spürt: Die Stadt ist leerer. Man findet sogar Parkplätze. Mehr Platz! Mehr Zeit! Die Luft ist leichter, die Menschen ebenso.

 

So manches Arbeitsprogramm muss ruhen oder wird verschoben, weil die Person, mit der man etwas besprechen wollte, verreist ist. Kann man halt auch nichts machen...  Man erledigt stattdessen Arbeit, zu der man sonst nicht kommt. Der Stress lässt nach.

 

Aus-Zeiten wie der Sommer sind heilsame Unterbrechungen, die das Leben wieder in eine menschlichere Ordnung bringen können: Man sieht, was wesentlich ist, weil man Zeit hat. Jeder Sommer lehrt uns, dass man ohne Stress viel besser arbeiten kann, dass das Arbeiten Spaß machen, dass das Leben leicht und luftig sein kann. Dass es eine Balance gibt zwischen Muße und Arbeit – geben MUSS, damit wir uns nicht in Roboter verwandeln. Sommerluft lässt leicht werden, lässt aufatmen. Das brauchen wir, um Menschen zu bleiben.

 

 

Montag, 23. August 2004

Aus-Zeit. Urlaub.

 

Kein Stress. Kein Terminkalender. Keine Verpflichtungen. Urlaubszeit. Das ist eine Aus-Zeit, an die sich große Erwartungen knüpfen. Die einen freuen sich auf Entspannung, andere wollen Abenteuer erleben. Viele setzen heute religionsähnliche Hoffnungen in den Urlaub: sich selbst wieder spüren, Neues lernen, mit denen zusammen sein, die man liebt. Und wirklich kann man im Urlaub eine elementar spirituelle Erfahrung machen: Dass Zeit geschenkt ist. Dass Zeit jener Raum ist, aus dem Überraschung, Neues, Zukunft entgegenkommen. Nicht ich beherrsche die Zeit durch meine Terminplanungen, sondern ich lasse mir Zeit schenken. Urlaub erinnert mich daran, was es bedeutet, ein Mensch zu sein: genug Zeit haben, Zeit schenken und geschenkt bekommen.

Leider verwandelt sich heute aber auch der Urlaub in eine bloße Fortsetzung des Alltags. Er wird zur konsumierbaren Ware. Neben dem Arbeitsstress entsteht der Urlaubsstress. Urlaubszeit wird geplant, gemanagt, gefüllt, konsumiert. So verschwindet die Erfahrung des Zeitgeschenks: dass die Zeit nicht mir gehört, sondern dass ich in ihr leben kann.

 

Seit Jahren lege ich zu Urlaubsbeginn meine Armbanduhr rituell ab, um mir bewusst zu machen: jetzt ist freie Zeit. Damit ich mir diese Erfahrung in den Alltag mitnehme, habe ich sie vor 3 Jahren nach dem Urlaub nicht mehr angelegt. Wenn ich im Winter mitten im Alltagsstress auf mein freies Armgelenk schaue, fällt mir wieder ein: Ich bin frei, weil mir die Zeit offen steht.

 

 

Dienstag, 24. August 2004

Aus-Zeit. Trennungszeit.

 

Liebe hat ihre Krisen-Zeiten. Damit diese nicht zu Trennungen führen müssen, brauchen wir  mitunter Aus-Zeiten. Solche Auszeiten können zeigen, wie es um uns beide steht. Aus der Distanz sehe ich Dich und mich wieder klarer. Ich kann wahrnehmen, wer Du bist, wer ich bin. Ich sehe, wie wir beide uns entwickelt haben, aber auch, wie wir uns verheddert haben.

 

Aus-Zeiten werden für uns tödlich, wenn sie dazu dienen, die Liebe zu bilanzieren: „Wie viel ist da noch für Dich? “ – das kann die Frage sein, die alles zerstört. Die Aus-Zeit weitet dann nicht, sondern spitzt die Situation zu. Sie drängt auf Entscheidung. Manchmal wird das nötig sein. Dann bereitet die Auszeit die Trennung vor.

 

Aus-Zeit kann aber auch  schöpferisch wirken: wenn sie unseren Entscheidungsraum weitet, wenn wir neue Lösungen sehen können, wenn wir einander Zeit zum Wachsen schenken. Für religiöse Menschen wird hier Gott wahrnehmbar: als der Treue-Gott, der die Liebe schenkt, damit unsere Treue wachsen kann: Denn Treue ist ja nicht das Beharren auf dem Ewig-Gleichen. Treu sein heißt:  schöpferisch sein, einfallsreich sein für Dich.

 

Dazu muss ich regelmäßig von Dir ein Stück weggehen, um wieder klar sehen zu können. Deshalb ist es vielleicht gut, Auszeiten nicht erst zu machen, wenn schon alles zu spät ist. Wenn wir einander solche Zeiten des Abstands schenken, kann das unsere Liebe mehren. Ohne Angst wird das nicht gehen – aber diese Angst ist ein Schatten jener Freiheit, die wir brauchen, um einander wirklich lieben zu können.

 

 

Mittwoch, 25. August 2004

Aus-Zeit. Pause.

 

Aufstehen. Beim Fenster hinausschauen. Sich die Beine vertreten. Den Raum verlassen. Ein paar Turnübungen machen. Durchatmen. Pausen sind die kleinen Zeitoasen im Alltag.

 

Pausen sind nützlich: für den Körper, für die Seele. Mein Körper kann  sich entspannen, bewegen, lösen. Mein Geist wird freier. Meine Seele kann abschalten und sich anderem zu wenden: Einem Kollegen, der Freude auf heute Abend – oder einfach dem Nichts. Nichts-Denken in der Pause kann schöpferisch wirken. Durch den Abstand fällt mit wieder etwas Neues ein, gewinne ich Abstand zu dem, was ich tue. Die Pause ist die Aus-Zeit des Alltags. Sie ist ein Raum der Kraft.

 

Sie ist aber auch gefährlich: Denn die Pause ist eben nicht nur nützlich für eine bessere Leistung. So denken die, die alles in ökonomischen Nutzen und Menschen in Arbeitmaschinen verwandeln wollen. In der Pause kann sich mein Geist vom Hier und Jetzt lösen, von meiner Arbeit, von mir selbst. Und dabei entsteht ein Abstand: In diesem Zeit-Raum kann eine  neue Idee entstehen. Aber ich kann auch entdecken, dass das, was ich da tue, völliger Unsinn ist. Dass das, was ich da tue, überhaupt nicht mehr zu mir passt. In der Pause stecken Freiheit, Protest, Veränderung. In der Pause steckt der Aufbruch zu meinem Leben.

 

 

Donnerstag, 26. August 2004

Aus-Zeit. Sabbat-Jahr.

 

Routine hilft mir, das Leben zu meistern. Routine kann mich aber auch erstarren lassen. Dann wirkt sie tödlich und lässt alles sterben: zum Beispiel die Freude an meiner Arbeit. Arbeit wird dann zur Strafe, die Lebenszeit raubt.

 

Heute gibt es Möglichkeiten, gegen solche Erstarrung rechtzeitig etwas zu tun. Junge Menschen wissen, dass sie ihren Beruf bis zu sieben Mal wechseln werden – oft auch wechseln werden müssen. Das birgt Chancen auf Freiheit und Entwicklung, aber auch neue Sorgen. Um gut zu wählen, muss ich wissen, wer ich bin, was ich kann, wozu ich berufen bin. Dafür braucht es Aus-Zeit: Man nennt solche individuellen Auszeiten Sabbat-Jahr, nach dem jüdischen Festtag, an dem alles ruht, um Gott zu ehren. Ein Sabbatjahr gibt Zeit zum neuen Durchstarten, zum Weichenstellen für die Zukunft.

 

Ein Sabbatjahr muss man sich freilich auch leisten können. Unsere Gesellschaft muss darauf achten, dass das Sabbatjahr nicht nur ein Privileg der Reichen wird. Sonst pervertiert sich der Sinn dessen, was mit Sabbat immer auch gemeint war: Ein Zeitraum zu sein, in dem alle zusammen kommen, egal ob arm, ob reich, um Gott für das Leben zu danken. Ein Raum der politischen Entwicklung hin auf Gleichheit und Gerechtigkeit.

 

Der Sabbat dient auch dazu, die Kraft zu bekommen, die Gesellschaft im Sinn Gottes zu gestalten. Das Sabbatjahr dient meiner Selbstverwirklichung nur dann, wenn es auch anderen dient.

 

 

Freitag, 27. August 2004

Aus-Zeit. Jubeljahr.

 

Unsere Kultur kennt viele Aus-Zeiten für den Einzelnen, aber kollektive Aus-Zeiten werden immer weniger: Weihnachten und Ostern fallen mir ein, noch geben auch die Sonn- und Feiertage jenen Zeitraum für eine Gesellschaft frei, in der sie erfahren könnte, was miteinander frei sein bedeutet. Doch auch hier greift ein ökonomistisch-verkürztes Nutzendenken schon zu: Wer braucht noch gesamtgesellschaftliche Aus-Zeiten?

 

Das Volk Israel am Höhepunkt seiner theologischen Entwicklung weiß, dass gemeinsame Aus-Zeiten unverzichtbar sind für Freiheit, Friede und Gerechtigkeit. Eine sozialrevolutionäre Aus-Zeit kennt das 25. Kapitel des Buches Levitikus: Das so genannte Jubeljahr. Alle 50 Jahre befreien die Reichen ihre Sklaven, erlassen Schulden, geben Grundstücke den Verarmten zurück, denn das Land gehört Jahwe und nicht ihnen. Es wird nicht gesät, nicht geerntet, der Wein wird  nicht gelesen. Man lebt vom Ersparten und feiert, denn es ist ein heiliges Jahr.

 

Kollektive Aus-Zeiten sind also politisch hochbrisant. Sie stellen zum Beispiel unsere Vorstellungen von rechtmäßig ererbtem Besitz aufdringlich in Frage, weil die Reichen dadurch noch reicher, die Armen noch ärmer werden. Gott aber will Wohlstand für jeden. Das Ziel des Jubeljahrs ist eine Gesellschaft, in der jeder so viel besitzt, dass er genug Zeit für die Liebe und für Gott hat. Damit wir uns an solche Visionen erinnern, braucht es gemeinsame Aus-Zeiten.

 

 

Samstag, 28. August 2004

Aus-Zeit. Sonntag.

 

Als Moses und Aaron in der ägyptischen Gefangenschaft den Pharao bitten, mit ihrem Volk in der Wüste einen Gottesdienst feiern zu dürfen, verbietet er es ihnen und erhöht ihr Arbeitspensum: „Erschwert man den Leuten die Arbeit, dann sind sie beschäftigt und kümmern sich nicht um leeres Geschwätz!“ sagt er. Der Pharao weiß, welche politische Sprengkraft im gemeinsamen Gottesdienstfeiern steckt: Wenn die Israeliten ihre alten Texte lesen, könnten sie bemerken, wie unfrei sie eigentlich sind und sich daran erinnern, dass Gott ihnen Freiheit und Liebe versprochen hat. Und weil der Pharao das weiß, verbietet er das gemeinsame Feiern.

 

Wir wissen das heute nicht mehr. Dass gemeinsamer Gottesdienst am Sonntag gesellschaftspolitisch brisant sein könnte, wird bestenfalls freundlich belächelt. Der Gottesdienst verwandelt sich in einen religiös verbrämten sonntäglichen Familienausflug.

 

Der Sonntag und sein Gottesdienst könnten gemeinsame Aus-Zeit sein. Wir hören vom Reich Gottes. Das kann gefährlich werden, wenn wir plötzlich die Kraft dazu bekommen, etwas in der Welt zu verändern. Die Sonntage unserer Kultur haben sich  jedoch davon weit entfernt: An Gottes Stelle ist die Familie oder die Freizeit getreten. So wird auch der Sonntag privatisiert. Ehe wir noch am Sonntag arbeiten gehen werden, wird keiner mehr wissen, dass der Sonntag uns einst in Gottesnähe bringen sollte, um miteinander die Welt in seinem Sinn zu gestalten. Wer wagt sich heute in solche Gottesgefahr?