Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

Pfr. Jürgen Öllinger (Villach) von der Evangelischen Kirche

 

Sonntag, 05. September 2004

Menschen sind unschlagbar

 

Wir Menschen sind unschlagbar. In jeder Hinsicht vollbringen wir wahre Meisterleistungen. Im Sport, in der Wirtschaft, in der Forschung. Und wir wollen immer weiter. Ich glaube sogar, wir müssen immer weiter. Die Neugier, hinter alle Geheimnisse und Grenzen zu kommen, treibt uns tagtäglich an. Wir Menschen sind unschlagbar.

Allerdings – als ich vor kurzem die Gelegenheit hatte, genüsslich unter einem Baum zu liegen und das schöne Wetter meine Seele erfreute, hatte ich eine Idee. Was wäre, wenn mir jetzt irgendjemand befehlen würde, dass ich so ein Blatt nachbauen sollte. Oder ein Spinnennetz oder eine Biene, die gerade vorbei flog. Ohne technische Hilfsmittel hätte ich keine Chance. Und selbst dann hätte ich meine liebe Mühe, so etwas herzustellen, was vor meiner Nase und überall zu sehen ist.

Wir Menschen sind unschlagbar. Ich denke, wir sind auch unschlagbar in unserer Fehleinschätzung. Wir können ruhig mehr Staunen und Bewunderung an den Tag legen bei den Dingen, die uns umgeben. Denn – das meiste von dem, was wir erschaffen haben, ist schlagbar, wird übertroffen von anderen Menschen. Das meiste von dem, was von unserem Wirken übrig bleiben wird, kann gar nicht so lange halten. Und an manchen Tagen bin ich wirklich unschlagbar. Da schaffe ich es nicht einmal, ein freundliches Gesicht zu machen. Zum Glück sind wir Menschen auch unschlagbar in unserem Optimismus, dass alles gut ist, was wir erleben und tun.

 

 

Montag, 06. September 2004

Menschen zerstören

 

Schon die Kleinsten unter uns, die Kinder und Jugendlichen haben einen Drang in sich, Dinge zu zerstören. Das hat ihnen niemand beigebracht. Wenn da eine Sandburg unbewacht steht, macht es einfach Spaß, auf der herumzutrampeln.

Der Drang zum Zerstören ist manchmal auch bei den Erwachsenen übermächtig.

Man muss das, was ein anderer Mensch geschafft oder erreicht hat, zerstören.

Und wenn es nicht in der Wirklichkeit gelingt, dann müssen wenigstens Worte den Weg für die Vernichtung bereiten. Ich muss den anderen schlecht machen, ich muss über ihn herziehen. Ich habe Freude daran, ein wenig den anderen im Misskredit zu bringen.

Wer bringt den Menschen das Zerstören bei? Ich denke, in erster Linie sind wir es selbst. Wir sind achtlos und nehmen keine Rücksicht auf Verluste. Wir wollen vom anderen alles bekommen und selbst möglichst wenig investieren.

Dann haben wir das Gefühl, dass wir gewonnen haben. Oder wir glauben, dass wir aus einer Geschäftsbeziehung gut aussteigen, wenn wir mehr bekommen als geben. Selbst bei Liebesbeziehungen ist das manchmal so. Du bringst doch viel weniger ein in unsere Beziehung, ich muss immer nachgeben und dir nachgehen. Du zerstörst alles mit deinem Schweigen und deinem Egoismus.

Ich denke auch, dass es in erster Linie unsere Angst ist, dass man zuviel von sich schenken könnte, wenn man sich auf andere Menschen so sehr einlässt, dass man mehr bekommt als gibt. Es ist die Angst, zu verlieren. Einen Ausweg gibt es nicht, nur das Bewusstsein, dass ich anderen Menschen etwas antun kann.

 

 

Dienstag, 07. September 2004

Der eigene Standpunkt

 

Vielleicht kennen sie das Gefühl, das auftaucht, wenn man einen Menschen, mit dem man viel zu tun hat, gerne ändern möchte. Nur ein paar Eigenheiten sollte er oder sie verlieren, dann könnte man viel besser miteinander leben.

Nur ein wenig mehr Verständnis und plötzlich wäre nicht mehr so viel Streiterei in der Familie oder Firma. Das Dumme an diesem Wunsch ist, dass der andere Mensch meist von sich überzeugt ist und gar nicht versteht, warum er sich ändern sollte.

In der Bibel wird eine Geschichte darüber erzählt. Sie handelt von Saulus, der zum Paulus wird. Er verfolgt die Christen solange bis er auf der Reise nach Damaskus eine Vision hat, in der ihm Jesus begegnet. Saulus wird schlagartig blind und muss sich von anderen Menschen führen lassen. Saulus hat alles richtig gemacht, sein Standpunkt war absolut in Ordnung. Er war davon überzeugt, dass er Gott sogar einen Dienst erweist mit seinem Eifer gegen die Christen. Nach der Gottesbegegnung bekommt er einen neuen Namen:

Paulus. Er wird zum Missionar für Jesus Christus.

Saulus wird blind und muss anderen Menschen vertrauen. Wenn ich mich auf Gott und auf andere Menschen einlasse, werde ich auch blind. Ich verlasse meinen alten Standpunkt und wage eine neue Sicht der Dinge. Auf diese Weise kann wieder Bewegung hineinkommen, wenn Menschen einander ändern wollen.

 

 

Mittwoch, 08.September 2004

Ahnen

 

In der Bibel wird eine harte Geschichte von Jesus erzählt. Da kommt doch tatsächlich ein Mensch zu ihm und will ihm nachfolgen. Unter einer Bedingung: er muss noch hingehen und seinen Vater beerdigen. Und Jesus antwortet: Lass die Toten ihre Toten begraben.

Es ist schon eigenartig, wie wir mit unseren Toten umgehen. Ich meine damit nicht den Kult rund um das meist traurige Begräbnis oder die Pflege der Friedhöfe. Ich meine damit den Umgang mit unseren Toten aus der Familie. Man könnte auch sagen, das Verhältnis zu unseren Ahnen. Es ist eigenartig, dass wir bereits nach drei Generationen – also bei den Urgroßeltern – nicht mehr wissen wie ihre Vornamen waren oder welchen Beruf, geschweige denn welche Interessen sie hatten. Niemand kann mehr danach befragt werden. Also werden sie vergessen.

Dabei stehen wir auf deren Schultern. Wir haben ihre Geschichte durch unsere Adern laufen. Wir haben manche Eigenarten von unseren Ahnen. Natürlich ist es im Christentum verpönt gewesen, die Ahnen zu befragen oder auch Nischen einzurichten, in denen sie verehrt werden. Aber es bleibt gerade bei unserem christlichen Glauben der Auferstehung eigenartig, dass wir sie einfach vergessen oder verdrängen. Es wird Zeit, dass wir uns wieder an sie erinnern. Es gibt noch Gelegenheiten, Menschen zu befragen, die etwas wissen aus dieser früheren Zeit. Jesus wollte sicher nicht, dass wir unsere Vorfahren vergessen, sondern dass wir nicht hängen bleiben beim Kult rund um das Begräbnis oder bei der Pflege der Gräber.

 

 

Donnerstag, 09. September 2004

Interessen

 

Ein Jäger schickte seinen Hund hinter ein Gebüsch, wo sich etwas bewegte. Er stöberte einen Fuchs auf und trieb ihn dem Jäger vors Gewehr. Der sterbende Fuchs sagte zu dem Hund: hat man dir nicht gesagt, dass der Fuchs ein Bruder des Hundes ist? Doch, doch erwiderte der Hund, aber das ist etwas für Idealisten und Narren. Für praktisch Denkende erwächst Brüderlichkeit aus der Gleichheit der Interessen.

Immer wieder ist es mir passiert, dass ich bei einem Konflikt, bei einer Streiterei nicht verstanden habe, worum es geht. Da werden Positionen eingenommen und verteidigt. Da geht es darum, dass einer dem anderen zeigt, dass er doch Recht hat. Und am Ende kommt nichts heraus. Die sachliche Ebene wird verlassen und die Emotionen kommen hoch. Was will der überhaupt? Kommt mir dann in den Sinn. Der Fuchs und der Hund hatten unterschiedliche Interessen. Menschen haben unterschiedliche Interessen. Die herauszuarbeiten ist wahrscheinlich eine der schwierigsten Aufgaben im Leben. Wenn ich die Interessen des anderen erkenne, kann ich besser damit umgehen. Geht es um die Sache oder will er mir nur eins auswischen. Sollen Probleme und Schwierigkeiten gelöst werden oder werden nur Menschen damit beschäftigt.

Die Gleichheit der Interessen schafft tatsächlich so etwas wie Brüderlichkeit. Verbunden gegen einen gemeinsamen Feind oder verbunden durch ein gemeinsames Ziel, das ich nicht aus den Augen verliere.

 

 

Freitag, 10. September 2004

Das allein löst Fesseln

 

In der Bibel heißt es einmal: die Liebe ist langmütig und freundlich. Das bedeutet doch, die Liebe kann warten, lange warten, bis zum Letzten warten.

Sie wird nicht ungeduldig, sie will auch nichts übereilen und erzwingen. Sie rechnet mit langen Zeiträumen, sie rechnet allein damit, dass der andere endlich, endlich doch überwunden wird. Warten, Geduld haben, weiter lieben und freundlich sein, auch wo es gänzlich fehlzuschlagen scheint – das allein überwindet Menschen, das allein löst die Fesseln, die jeden Menschen ketten, die Fesseln der Menschenfurcht und der Angst vor einem neuen Leben. Langmut – das passt so gar nicht in unser gehetztes Leben. Über eine lange Zeit mutig sein und sich auf den anderen Menschen einlassen – das passt unserer Mentalität nicht, die alles sofort braucht und will.

Und Freundlichkeit scheint oft so gänzlich unangebracht zu sein. Aber die Liebe ist langmütig und freundlich; sie wartet, wie man auf einen, der sich verirrt und verlaufen hat, wartet und sich freut, wenn er überhaupt noch kommt. Diese Art der Liebe kann nicht erzeugt oder erreicht werden. Man kann sich dafür nicht einsetzen und anstrengen. Diese Form der Liebe, die langmütig und freundlich ist, passiert. Sie macht einem manchmal das Leben schwer, wenn man so lange warten muss, bis der andere Mensch sich öffnen kann. Bis er erkennt was diese Liebe in seinem Leben verändert. Eine Zeit lang ist langmütige, freundliche Liebe bei Eltern zu finden. Und bei frisch verliebten Menschen auch. Sonst ist sie eher selten, denn man braucht dazu nicht nur den gewöhnlichen Mut der Liebe, sondern einen lang anhaltenden Mut.

 

 

Samstag, 11. September 2004

Schicksalsschläge

 

Es war einmal ein Mann, der hatte ein wunderschönes Pferd. Es war sein einziger Besitz. Die Menschen im Dorf rieten ihm: verkauf dein Pferd, dann bist du nicht mehr so arm. Doch der Mann wollte dies nicht. Eines Tages war es verschwunden und die Menschen sagten: Was für ein Unglück. Jetzt hast du gar nichts mehr. Und er antwortete: Urteilt nicht, ihr wisst nicht was geschehen wird. Einige Tage später kam das Pferd aus der Wildnis mit anderen Pferden zurück. Und die Dorfbewohner riefen: was für ein Glück, jetzt bist du reicher als je zuvor. Doch er sagte: Urteilt nicht. Ihr wisst nicht was geschehen wird. Als der Sohn des Mannes die Pferde zähmen wollte, stürzte er schwer. Und die Bewohner sprachen: was für ein Unglück, jetzt kann dich niemand versorgen. Und er schüttelte nur den Kopf und sagte: Urteilt doch nicht. Als der Krieg übers Land zog, mussten alle jungen Männer zum Militär.

Und noch einmal sprachen die Dorfbewohner: was für ein Glück, du hast wenigstens deinen Sohn zuhause. Und der alte Mann antwortete verzweifelt:

urteilt doch nicht, was geschehen wird, weiss nur Gott.

Wir sind manchmal nicht nur sehr schnell beim Analysieren und Beurteilen einer Situation. Wir tun auch recht schnell so, als wäre das, was uns passiert, ein Schicksalsschlag. Ein kleiner Unfall mit dem Auto und alles ist schlimm. Ungerechtigkeit widerfährt uns und das Schicksal oder Gott meint es nicht gut mit uns. Urteilt doch nicht, sagte der alte Mann und lächelte.