Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

von Pfarrer Bernd Hof (Innsbruck)

 

Sonntag, 31.10.2004

 „Reformationstag“ steht heute in meinem Kalender, und daneben „evangelisch“. An diesem Tag erinnern wir Evangelischen uns daran, wie Martin Luther vor bald 500 Jahren in der Bibel entdeckt hat: Ich kann mir den Himmel nicht verdienen, und ich brauche es auch nicht. Gott schenkt mir den Himmel: Ich bin geliebt, was immer geschieht; ich brauche Gott seine Liebe nur zu glauben, und mein Leben hat unwiderruflich Wert und Sinn.

In anderen Kalendern steht auch „Reformationsfest“, denn in manchen Gegenden ist der 31. Oktober ein Feiertag. Ich erinnere mich, wie in meiner Jugend dieser Tag und der Festgottesdienst immer ein eigenartiges Überlegenheitsgefühl in mir geweckt hat: Wir Evangelischen sind schon die besseren Christen!

Zum Glück denken wir heute anders. Denn die meisten Christen sind überzeugt: Wenn wir unsere eigene Überlegenheit über die anderen feiern, dann haben wir unseren gemeinsamen Herrn Jesus Christus vergessen. Christen können wir nicht gegeneinander, sondern nur miteinander sein.

Der Apostel Paulus sagt, es ist bei uns Christen wie beim menschlichen Körper: Wenn ein Glied leidet, dann leiden alle Glieder mit. Darum finde ich es schlimm, wenn manche angesichts der jüngsten Skandale sagen: Wir haben's ja immer gesagt, der Zölibat ist grundfalsch, und Rom bleibt Rom. Und von der anderen Seite gekontert wird: Wenn ein Pfarrer keine Frau hat, kann er wenigstens kein Ehebrecher sein. Solche Vorwürfe sind nicht nur primitiv, sie sind zutiefst unchristlich und verzerren das Bild von Kirche in unserer Zeit. Denn die Glaubwürdigkeit der Christen ist heute unteilbar, und, auch wenn es manchmal weh tut: Als Christen gehören wir zusammen.

 

Montag, 1.11.2004

„Glauben Sie wirklich, dass mit dem Tod nicht alles aus ist?“ Diese Frage habe ich noch im Ohr. Eindringlich und ernst hat der Mann sie gestellt. Und er hat erklärt: „Ich frage Sie nicht als Pfarrer, da müssen Sie ja alles mögliche glauben, ich frage Sie als Mensch. Ganz ehrlich: Ist mit dem Tod alles vorbei, oder kommt noch etwas?“

Ich hab gemerkt: Da hilft keine Katechismusantwort, da bin ich, ich ganz persönlich gefragt. „Ja, ich vertraue darauf, dass der Tod nicht das Ende ist“, hab ich gesagt. Und dann hab ich von meiner Mutter erzählt und von ihrem Sterben und wie ich weiter mit ihr verbunden bin. Und ich habe ihm gesagt: „Ich kann das Leid, das mir begegnet, nur ertragen, weil ich ganz fest glaube, dass Gott uns liebt. Und er wird alle Tränen abwischen und uns trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Ohne diesen Glauben könnte ich schon längst nicht mehr lachen.“

Dann hab ich noch gesagt: Ich weiß auch nicht genau, was mir beim Sterben und danach begegnen wird. Aber ich vertraue darauf, daß ich Jesus Christus begegnen werde. Der Apostel Paulus sagt das so: Wir werden dann immer beim Herrn sein.

Darum ist für mich der Tod nicht bloß das Ende, der große Schlußpunkt nach dem Leben - aus, vorbei. Und ich empfinde ihn auch nicht nur als bedrohliches Fragezeichen: Nichts Genaues weiß man nicht, wer weiß, welche Mächte da mit uns ihr Spiel treiben werden. Nein, für mich ist der Tod ein Doppelpunkt: Ich erwarte danach Neues, ganz Großes, Wunderbares - für mich und für Sie.

 

 

Dienstag, 2.11.2004

Ich sitze in der Bauernstube mit zwei alten Frauen zusammen. Sie erzählen von Kindern und Enkeln, dann von Altersbeschwerden und Krankheiten. Dann schließt die eine dieses Thema ab mit dem Satz: „Ja, Marie, wir sind auf dem Weg in die Heimat.“

Ich staune: Die Frau ist zuckerkrank, kann nicht mehr lesen, jeder Schritt tut ihr weh, die Schlaflosigkeit macht ihr zu schaffen - und sie klagt nicht, sondern stellt fest: Das gehört eben zu dieser letzten Wegstrecke des Erdenlebens. Und am Ende werden mir alle Lasten abgenommen, denn ich komme heim.

Ich habe die alte Frau nicht gefragt, wie sie sich die himmlische Heimat vorstellt. Wahrscheinlich wird ihr Bild mit den bunten Farben des Kinderglaubens gemalt sein, und Sehnsüchte und Wünsche werden darin auftauchen. Gewiß werden ihre Vorstellungen der Prüfung durch Theologie und Psychologie nicht standhalten. Aber dass ihre Hoffnung der Prüfung durch Krankheit und Leid standhält, das hat sie schon bewiesen mit ihrem Satz: „Ja, wir sind auf dem Weg in die Heimat.“

 

Mittwoch, 3.11.2004

Meine Frau ist im Badezimmer ausgerutscht und hat sich an der Badewanne wehgetan. Ich hab sie gleich ins Krankenhaus zur Unfall-Aufnahmestation gebracht. Lang bin ich im Warteraum gesessen. Endlich kommt meine Frau wieder und erklärt, sie ist gründlich untersucht und durchleuchtet worden. Dann hat der Arzt ihr gesagt: Eine Rippe hat sie sich gebrochen und einen Bluterguß hat sie; sie muss sich schonen, mehr kann man nicht machen. Und dann hat sie dem Arzt erzählen müssen, wie das geschehen ist im Badezimmer; nachgefragt hat er, warum der Boden nass gewesen ist, obwohl sie doch noch gar nicht geduscht hatte, und ob ihr Ähnliches schon einmal passiert ist – ganz genau hat er alles wissen wollen. Sonderbar, haben wir gefunden, was hat das den Arzt zu interessieren?

Einige Zeit später hab ich in der Zeitung gelesen, dass die meisten Gewalttaten in der Familie als Unfälle getarnt werden: Der Mann schlägt die Frau nieder, und sie sagt hinterher, sie sei die Stiegen hinuntergefallen oder im Badezimmer ausgerutscht.

Auf einmal verstehe ich, warum der Arzt so gründlich gefragt hat. Und ich bin froh darüber. Denn wenn Menschen Leid zugefügt wird, kann man nicht die Augen schließen und sagen, gegen Unfälle kann man nichts tun.

 

 

Donnerstag, 4.11.2004

Die Lifttür geht auf, ich schau hin – und bin überrascht: Eine Frau steht im Lift, vor sich einen Kinderwagen, ein Kind an der Hand – aber ich sehe von der Frau nur das weite, wallende Gewand, das sie verdeckt vom Scheitel bis zu den Füßen. Nur in Augenhöhe ist ein Schlitz frei. Ich steige ein, sage „Grüß Gott!“ und höre als Antwort ein freundliches, gleichzeitig irgendwie distanziertes „Grüß Gott“ mit Akzent. In meiner Hilflosigkeit schau ich in den Kinderwagen – das Baby erwidert mein Lächeln. Der Lift bleibt stehen, ich halte der Frau mit Kind und Kinderwagen die Tür auf und höre ein „Danke“. War das jetzt eine Begegnung oder nicht?, denk ich mir.

Meine Frau erzählt mir dann, sie hat die verschleierte Mutter auch schon getroffen, und sie haben sich mit deutschen und englischen Brocken und mit Händen und Füßen unterhalten: Die Familie kommt aus einem arabischen Land, in dem die meisten Frauen als Kleidung in der Öffentlichkeit den Tschador tragen. Frauen verkehren dort miteinander, aber es ist ganz undenkbar, daß eine Frau mit einem fremden Mann spricht.

Jetzt, wo ich das weiß, verstehe ich: Mit ihrem „Grüß Gott“ und „Danke“ hat diese Ausländerin einen großen Schritt nach Europa gemacht.

 

 

Freitag, 5.11.2004

Vor einiger Zeit habe ich einen handgeschriebenen Brief bekommen. Auf vier Seiten hat da eine Frau nichts als Vorwürfe gegen mich aneinandergereiht.

Seit etlichen Jahren bin ich immer wieder mit ihr zusammengetroffen, auch bei Gesprächskreisen und Sitzungen. Dann hatten wir eine Meinungsverschiedenheit, und daraufhin schrieb sie mir diesen Brief. Sie hat darin alles genau aufgelistet, wodurch sie sich von mir verletzt gefühlt hat: Dass ich sie vor drei Jahren einmal auf der Straße nicht gegrüßt habe, dass ich ihr in einer bestimmten Sitzung ins Wort gefallen bin, wie ich ihre Leistungen nicht gebührend gewürdigt habe, und,  und, und ...

Erst einmal war ich wütend über den Brief. Dann hab ich mir gedacht: Mein Gott, was für ein armer Mensch! Da hat sie über Jahre wie ein Buchhalter alles Negative auf mein Konto gebucht. Ob sie für jeden Menschen, der ihr begegnet, ein solches Konto führt? Was das alles an Kraft und Leben kostet!

Seither bete ich die Bitte im Vater Unser noch bewusster: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Wie befreiend ist doch Vergebung!

 

Samstag, 6.11.2004

Kennen Sie das Wort "oberhell"? Ich hab's nie gehört, bis ich nach Tirol gekommen bin. Wir hatten uns für eine Bergtour verabredet, aber als wir am Treffpunkt im Tal beisammen waren, hat man keinen Berg sehen können: eine dichte Wolkendecke in ungefähr fünfzehnhundert Meter Höhe hat alles Höhere verdeckt.

"Lassen wir's", hab ich vorgeschlagen, "ich hab keine Lust, stundenlang aufzusteigen, damit ich dann oben im Nebel sitz." "Blödsinn", hat mich ein Tiroler belehrt, "siagscht nit, dos es oberhell isch?" Auf mein ratloses Gesicht hin hat er mit ausgestrecktem Arm auf eine Stelle gezeigt, an der die Wolkendecke an den Berghang stieß, und tatsächlich: Da war es deutlich heller. Ein Zeichen dafür, dass die Wolke nicht allzu dick war, und dass darüber die Sonne schien.

Wir sind dann losgegangen, nach einer guten Weile oben in die Wolke eingetaucht. Gerade ein paar Meter hat man im Nebel gesehen, alles war feucht und ungemütlich, fast bedrohlich. Aber eine halbe Stunde später sind wir aus dem Nebel herausgekommen in die strahlende Sonne, zu unsern Füßen die Wolkendecke wie ein Wattemeer, über und neben uns die Gipfel - ein überwältigendes Erlebnis.

Ist es nicht auf manchen Strecken im Leben auch so: Alles erscheint einem undurchsichtig, grau in grau. Aber dann erlebe ich zwischendurch doch irgendeine Kleinigkeit, etwas Erfreuliches, Ermutigendes, ein Lächeln, ein freundliches Wort - und das lässt mich ahnen: Es geht nicht ewig so weiter, der Weg führt ins Licht. Eben: Es ist oberhell.