Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
Oberkirchenrätin Dr. Hannelore Reiner
Sonntag,
23.1.2005
Manche
Träume verschwinden nicht beim Aufwachen. Sie hängen einem nach,
setzen sich in den Gedanken fest und beschäftigen auch tagsüber.
In der österreichischen Mundart gibt es dafür ein Wort: „Tramhappert“
Ein tramhapperter Mensch ist mit Haupt und Herz noch mehr in seinen Träumen
als in der Realität des neuen Tages. Die Bibel erzählt des Öfteren
von Menschen, deren Träume auch am nächsten Tag noch nachwirken.
Die so genannten Weisen aus dem Morgenland, deren Geschichte uns von
den Sternsingern Jahr für Jahr in Erinnerung gerufen wird, hatten
einen ganz eigenartigen Traum. Sie erhalten im Traum einen klaren
Auftrag, nicht mehr zurück nach Jerusalem zu König Herodes zu
gehen, sondern auf einem anderen Weg in ihr Land heimzureisen. Mag
sein, dass der Traum sie aufgeschreckt und vielleicht lange ihre
Herzen und Gemüter belastet hat. Auf jeden Fall hat er sie sensibel
gemacht, auf die Weisung zu hören, die ihnen zu Teil geworden ist.
„Tramhapperte“ sehen mitunter sehr klar den Weg, der vor ihnen
liegt.
Montag,
24.1.2005
„Tramhappert“
nennt die österreichische Mundart einen verschlafen wirkenden
Menschen, der zwar die morgendlichen Handgriffe routinemäßig
verrichtet, aber sein Denken ist noch ganz dem Traum verhaftet.
Eine Frau aus der früheren Gemeinde in der ich gearbeitet habe, erzählte
in einer kleinen Runde von ihrem schweren Eingewöhnen in Österreich.
Land und Leute sind ihr lange fremd geblieben, die bittere Krankheit
Heimweh nagte an ihrem Herzen. Aber eines Nachts hat sie einen
hellen Traum. Aus einem strahlenden Licht hört sie ganz deutlich:
„Ich brauche Dich.“ Beim Aufwachen ist sie noch ganz erfüllt
von dem, was sie im Traum erlebt und gehört hat. Die tägliche
Arbeit versieht sie automatisch, Kopf und Herz aber rufen ihr immer
wieder den Traum zurück. Statt des stechenden Heimwehschmerzes fühlt
sie eine neue Kraft in ihr aufsteigen. Als eine Nachbarfamilie sie
kurze Zeit später bittet, doch auf die kleinen Kinder zu schauen,
ist sie sofort dazu bereit. Der Traum hatte sie dafür geöffnet.
„Tramhappert“ kann also auch bedeuten: Ich bin geöffnet und
bereit für das, was heute auf mich
zukommt.
Dienstag,
25.1.2005
Die
Bibel erzählt immer wieder von Menschen, deren Träume auch am nächsten
Tag noch nachwirken. Eine der schönsten Traumgeschichten wird von
Jakob, einem der drei Patriarchen im Ersten Buch Mose erzählt. Die
äußeren Umstände lassen zunächst nichts Gutes vermuten. Als
einer, der seinen Bruder betrogen hat, muss Jakob bei Nacht und
Nebel von zu Hause fort, immer mit der Angst im Nacken, dass ihn die
Rache seines Bruders einholen wird. Der Weg führt durch die Wüste.
Gefahren lauern rechts und links. Als Nachtlager dient der kalte Wüstenboden
und ein Stein, hinter dem er sich verbirgt. In dieser unruhigen
Nacht träumt Jakob von einer Leiter, deren Spitze in den Himmel
reicht. Engel spazieren auf dieser Himmelsleiter und Gottes Stimme
wird hörbar, voll beglückender Versprechen und Zusagen: „Ich
will mit Dir sein und Dich segnen. Ich werde Dich auch wieder zurückbringen
in dieses Land.“ Kein Wunder, dass Jakob beim Aufwachen von diesem
Traum im Kopf noch ganz erfüllt ist. Der gefahrvolle Wüstenort, an
dem er unter freiem Himmel übernachtet hat, wird ihm zu einem
heiligen Ort. Die Angst und die Scham über das Geschehene weichen
einer neuen Zuversicht, dass Jakobs Geschichte doch noch einmal gut
enden wird.
Mittwoch,
26.1.2005
Manche
Träume verschwinden nicht mit dem Aufwachen. Sie setzen sich im
Kopf fest und müssen erzählt und mitgeteilt werden. So ist es
zumindest dem biblischen Josef ergangen. Als Siebzehnjähriger träumte
er von der Arbeit auf dem Kornfeld. Er und seine Brüder binden
Garben. Seine Garbe steht aufrecht und kerzengerade, die seiner Brüder
aber sind verbogen, so als ob sie sich vor Josefs Garbe verneigen würden.
Prompt erzählt Josef am nächsten Tag seinen Brüdern diesen Traum.
Manchmal führt „Tramhappert-sein“ anscheinend auch dazu, nicht
mehr zu merken, was andere denken und wie sie etwas aufnehmen. Vor
lauter Begeisterung über seinen Traum und all seine geheimen Wünsche,
die darin zum Ausdruck kommen, spürt Josef nicht, wie tief
betroffen und verletzt seine Brüder reagieren. Ja, er verhält sich
weiterhin so, als ob sein Traum schon Wirklichkeit wäre. Das sollte
ihn teuer zu stehen kommen. Aus der anfänglichen Betroffenheit der
Brüder wird schließlich blanker Hass, der so weit geht, dass Josef
als Sklave nach Ägypten verkauft wird.
Nicht
jeder Traum, weder ein Tagtraum noch einer aus der Nacht, eignet
sich zum Mitteilen, auch wenn Kopf und Herz noch ganz davon erfüllt
sind.
Donnerstag,
27.1.2005
„Tramhappert“
nennen die Österreicher verschlafen und müde wirkende Menschen.
Aber nicht jeder, der in seinen morgendlichen Gedanken noch im Traum
verhaftet ist, muss deswegen auch verschlafen sein. Der Traum kann
mitunter zur allerhöchster Aktivität herausfordern.
Von
Paulus, dem ersten großen Missionar der Christenheit, wird erzählt,
dass er im kleinasiatischen Troas einen ganz eindrücklichen Traum
hatte. Ein Mann in mazedonischer Kleidung winkt ihm mit den Worten:
Komm herüber und hilf uns! Dieser Traum wird für Paulus zu einem
Anruf Gottes. Er scheucht das Bild am Morgen nicht einfach weg,
sondern stellt sich dem, was sich im Traumbild in Kopf und Herz
verdichtet hat. Mit seinem Missionsteam wagt Paulus den Schritt in
Richtung Europa. Die erste christliche Gemeinde entsteht im antiken
Mazedonien. Von dort aber weitet sich die christliche Botschaft aus,
quer durch das römische Weltreich, letztendlich, weil einer seinen
Traum ernst nahm.
Freitag,
28.1.2005
Es
gibt Träume, die verschwinden nicht mit dem Aufwachen. Im Gegenteil
sie leben im Tagtraum weiter und verleiten zum „Tramhappert-sein“,
wie der Dialekt sagt, auch tagsüber. Das kann mitunter zu einer
bewussten Realitätsverweigerung führen, zur Flucht in eine Schein-
und Traumwelt. Der Tagtraum kann sich aber auch zu einer Vision
verdichten, die nicht traumverloren macht, sondern die ermutigt zum
ersten Schritt in Richtung Realisierung des Erträumten und
Erhofften. Das wohl bekannteste Beispiel für diese Form von
Tagtraum und Vision, ist der schwarze Baptistenpfarrer und Bürgerrechtskämpfer
Martin Luther King. 1963 beschwor er tausende Menschen schwarzer und
weißer Hautfarbe vor dem amerikanischen Capitol mit den Worten:
„Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den Hügeln von
Georgia die Söhne der ehemaligen Sklaven und die Söhne der
ehemaligen Sklavenhalter zusammen am Tisch der Brüderlichkeit
sitzen werden.“
Längst
vor dieser Rede waren er und seine Freunde in der Bürgerrechtsbewegung
schon dabei, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um diesen Traum
von den gleichen Rechten für alle Menschen, gleich welcher Rasse,
Religion oder Sprache sie auch seien, Wirklichkeit werden zu lassen.
Samstag,
29.01.2005
„Träume sind Schäume“, sagt das Sprichwort. Auch der
Dialektausdruck „tramhappert“ hat keinen guten Beigeschmack. Wer
noch dem Traum verhaftet ist, der hat seine fünf Sinne noch nicht
beim neuen Tag und all den Anforderungen, die er mit sich bringt.
Dass Träume eben keine Schäume sind, hat uns längst die Psychotherapie
gelehrt. Das Unterbewusstsein arbeitet in der Nacht weiter und
verarbeitet auf diese Weise auch alles das, was wir vielleicht am
helllichten Tag gerne von uns wegschieben.
Es kann aber auch einmal ganz anders sein: Mitten am Tag kommt etwas auf
mich zu, wo ich denke: Das ist doch ein Traum!
So muss es dem Volk Israel gegangen sein nach der Befreiung aus der
babylonischen Gefangenschaft, als es jubelte: „Wenn der Herr die
Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein, wie die Träumenden.“
Solche wunderbaren Traumerlebnisse – ob in der Nacht oder mitten am Tag
– wünsche ich uns allen, auch wenn so mancher oder manche dabei
ein wenig „tramhappert“ wirkt.
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