Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

Pfarrer Jürgen Öllinger (Villach, Ktn.) von der Evangelischen Kirche

 

 

Sonntag, 20. Februar 2005

Rattengift

 

Guten Morgen! Vor kurzem lese ich: Menschen, die nicht vergeben können sind mit Menschen zu vergleichen, die selbst Rattengift trinken und sich wundern, dass die Ratten nicht sterben.

Es ist schon eine eigenartige Sache mit der Vergebung. Sie gehört zum Kern des christlichen Glaubens. Christinnen und Christen wissen, wohin sie mit ihrer Schuld gehen können. Zu Gott und zu den Menschen, denen sie Unrecht getan haben.

Aber damit ist es nicht getan. Es ist gar nicht so einfach, einem Menschen zu vergeben. Es ist nicht einfach, weil das Vergessen meistens nicht inkludiert wird. Wir vergessen nicht, wenn Menschen uns beleidigt und verletzt haben.

Es ist eine eigenartige Sache mit der Vergebung. Die Schuld liegt wie ein giftiger Stein in der Gegend unseres Lebens herum. Wenn wir es nicht schaffen, zu vergeben, ketten wir uns fest an den Stein. Und wir wundern uns dann, wenn wir Dinge durch die Gegend schleifen und das Gefühl haben, nicht weiterzukommen in unserer Entwicklung, in unserer Spiritualität und in unseren Beziehungen.

Ratten sind unangenehme und gefährliche Tiere. Schuld ist viel gefährlicher, weil sie uns daran hindert, offen und fröhlich auf die Menschen zuzugehen. Schuld geschieht meistens bei den Menschen, die uns umgeben.

Gott hat uns einen Weg gezeigt, denn er wirft unsere Schuld ins äußerste Meer. Aber natürlich vergeben wir uns damit etwas, wenn wir einem anderen vergeben. Wir geben die Macht aus der Hand, etwas in der Hand zu haben gegen den anderen, der uns weh getan hat.

 

 

Montag, 21. Februar 2005

Prädestination

 

Guten Morgen! Auch heute haben wir wieder eine Menge Pläne für unser Leben auf der Liste. Von klein auf werden wir so erzogen, dass wir unser Leben im Griff haben, dass unsere Pläne auch so funktionieren, wie wir uns das vorstellen.

Wenn wir dann zum ersten Mal damit konfrontiert werden, dass nicht alles so läuft wie wir das möchten, sind wir erstaunt und verstört. Entscheidungen anderer Menschen über uns oder aber Eingriffe des Schicksals und der Natur zeigen dann heftig auf, wie wenig wir in Wirklichkeit in Händen halten können.

In der Bibel wird davon gesprochen, dass Gott allmächtig und allwissend ist. Kluge Menschen haben daraus den Schluss gezogen, dass Gott deshalb alles vorherbestimmt hat. Wenn also etwas im Leben geschieht, das nicht geplant und vorhersehbar war, dann wird Gott bemüht.

Warum hat er das zugelassen, warum hat das geschehen müssen, warum passiert das mir. Und wenn es nicht Gott ist, der zur Verantwortung gezogen wird, dann ist es eben das Schicksal, der so genannte Schicksalsschlag.

Diese klugen Menschen haben aber noch etwas daraus gelernt. Sie haben gesagt: wenn Gott alles weiß und bestimmt, dann hat alles, was mir geschieht – auch das vermeintlich schlechte und böse und furchtbare – einen tieferen Sinn.

Diesen Sinn kann ich nur für mich selbst finden. Niemand darf mir das als billigen Trost auf die Nase binden. In einer Selbsthilfegruppe erzählte eine 50jährige Frau: ich habe fast 50 Jahre lang leben müssen, damit mir die Krebserkrankung endlich zeigt, was Leben wirklich bedeutet. Ich bin dankbar für meine Krankheit. Das kann nur die Frau sagen, niemand anderer darf ihr diesen Trost anbieten.

 

 

Dienstag, 22. Februar 2005

Tabu

 

Guten Morgen! Das Gesellschaftsspiel Tabu ist sehr beliebt. Keine Angst, es wird nicht peinlich bei diesem Spiel. Man muss nicht Fragen beantworten, die tabu sind in unserer Gesellschaft: Macht, Sex, Geld. Bei diesem Spiel soll man nur einen Begriff erklären, ohne dafür typische Umschreibungen zu verwenden. Z. B. Mittelmeer ohne Meer, ohne Italien, ohne ...

Eines der größten Tabus unserer Zeit ist noch immer der Tod. Regelmäßig bei Beerdigungsvorbereitungen erzählen Angehörige, dass sie sich mit dem Tod nie auseinander gesetzt hätten. Die meisten sagen das mit einem großen Bedauern. Das Leben nach dem Tod wird nicht bei gemütlichen Familienfeiern oder späten Stammtischen ernsthaft erwähnt und durchdacht.

Wir haben es durch unsere christliche Tradition leider nicht geschafft, dem Tod seine furcht erregende Macht zu nehmen. Niemand wagt zu sagen: Tod? Na und? Das Schönste fängt ja jetzt erst an! Gestorben? Ja, fein, der weiß jetzt mehr und besseres als wir.

Ich habe eine kleine Ahnung, warum das so sein kann. Ähnlich wie bei dem Spiel Tabu reden wir schon darüber, ohne die Kernbegriffe zu verwenden. Wenn ein alter Mensch sagt: ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich wäre froh, wenn ich einschlafen könnte – er spricht also von seinem eigenen Tod – dann verwenden wir Sätze, die das Thema nicht berühren: Geh, was du schon wieder redest, das wird schon wieder, du wirst wieder gesund, solche Gedanken darfst du dir gar nicht machen. Ob es dann dem Betroffenen besser geht oder uns selbst – das mag jeder selbst überlegen, der schon in solch einer Situation gewesen ist.

Tabus bringen uns dem Leben näher. Über den Tod und das Sterben zu reden, bringt uns pures Leben.

 

 

Mittwoch, 23. Februar 2005

Engel

 

Guten Morgen! Rainer M. Rilke schreibt in einem Gedicht mit dem Titel: Engellieder: Ich ließ meinen Engel lange nicht los und er verarmte mir in den Armen und wurde klein und ich wurde groß. Und plötzlich war ich das Erbarmen und er eine zitternde Bitte bloß.

Mich hat es nicht mehr losgelassen, wovon Rilke hier erzählt. Ähnlich wie bei Bildern ist es nicht so interessant, was der Künstler gemeint hat, sondern was mich daran so trifft oder anspricht. Bei diesem Gedicht kommt es mir so vor, als hätte Gott uns Menschen einen Engel anvertraut, der uns durchs Leben begleitet.

Er schenkt uns Schutz, er schenkt uns Begabungen, er schenkt uns die Weite des Horizonts, wenn wir uns am Leben erfreuen können. Kinder haben mich auf diese Idee gebracht, weil sie diesen Engel noch so groß sein lassen, so einzigartig und so lebendig. Im Laufe des Lebens geht aber dieser Engel den Weg, den Rilke beschrieben hat.

Wir halten ihn fest, er soll uns gehören, wir zapfen ihm Energie ab und tun so, als hätten wir die Gaben und Begabungen verdient, als würden sie uns gehören.

Bei Rilke gibt der Mensch, als er diesen Irrtum erkennt, dem Engel den Himmel zurück. Er lernte das Schweben, ich lernte das Leben, heißt es dort. Der Engel, der uns begleitet, in der Bibel wird auch vom Geist Gottes gesprochen, muss schweben, er muss leicht sein und uns heben können. Damit wir das Leben erkennen und lernen können. Nur mit diesem Engel werden wir unseren Horizont so erweitern, dass wir mehr tun als unsere eigenartigen Pflichten. Auch heute an diesem Tag lasse ich meinen Engel wieder einmal los.

 

Donnerstag, 24. Februar 2005

Transit

 

Guten Morgen! Wenn Sie heute Nacht geschlafen haben, haben sie einen Wandlungsprozess durchgemacht. Sie haben losgelassen, Gedanken, Gefühle, Willen und sind eingetaucht in die Welt der Träume. Dann sind sie aufgewacht und bemächtigen sich wieder dieser Welt.

Ein philosophischer Gedanke ist das natürlich, denn wir Menschen machen das tagtäglich. Was sich hier im Kleinen zeigt, ist Bild für die Existenz des Menschen im Ganzen. Alles wandelt sich. Alles ist in einem Durchgangsstadium. Und aus diesem Grund möchten wir Fixpunkte wie Fixsterne haben für unser Leben. Manche Menschen sind durch das Leben hart geworden. Sie können sich nicht biegen, sie sind nicht flexibel, sie wollen sich auf das Leben nicht mehr einlassen, weil ihnen so viele Schmerzen zugefügt wurden. Sie sind misstrauisch und mürrisch. Sie brauchen keine anderen Menschen, um selbst existieren zu können.

Einerseits heißt es aber, dass der Mensch mit seinen körperlichen Grenzen und auch Beschwerden einen lebendigen Geist braucht, der ihn über seinen Horizont hinaus hebt.

Kleine alltägliche Rituale sind dabei von großer Hilfe. Wenn man mit Gott spricht, also betet, wird der eigene Horizont weit geöffnet. Ich bin nicht mehr in meiner kleinen Kammer, in meiner kleinen Kirche, in meinem kleinen Leben, sondern ich trete hinaus in die Welt der anderen Menschen, die ich berühren möchte und schützen mit meinen Gebeten.

Eine Möglichkeit bietet sich durch die Fastenzeit. Ich merke, dass mein Leben eine Phase durchläuft, wo ich wieder an mich denken darf. An meine Seele und an die Übergänge, denen ich immer ausgeliefert bin.

 

Freitag, 25. Februar 2005

Fastensuppe

 

Guten Morgen! Fasten und Fastensuppe, Entschlackung und Therapien sind in diesen Wochen des Übergangs sehr beliebt. Und wir sind in einer Welt, die ein Wettrennen veranstaltet: Fast-Essen gegen Fastenessen. Fast-Food gegen Fastensuppe.

Das Rennen hat eine Zeit lang schlecht ausgesehen für die Fastensuppe. Niemand wollte und brauchte verzichten. Niemand wollte diese Übung des Verzichts auf sich nehmen. Schnell alles in sich hineinstopfen, am besten mit den Fingern und möglichst ungesund. Ich will alles und das sofort. Es ist ein tolles Lebensgefühl, wenn man alles bekommen kann, wonach einem gelüstet.

Fast-Food contra Fastensuppe. Schon zur Zeit der Bibel hat man davon geredet, dass Menschen, die gefastet haben, traurig und mürrisch durch die Stadt gelaufen sind. Oder sie haben sich darauf etwas eingebildet, dass sie Verzicht geübt haben. Jesus von Nazareth hat mit dieser Art des Fastens nichts anfangen können. Wenn einer fastet, ob es nun Nikotin, Alkohol, Medien oder Essen betrifft, sollen sie den Menschen weiter bringen.

Aber selbst das ist noch zu kurz gegriffen. Es ist zwar nett und spannend durch die Fastenzeit weiter zu kommen, reifer zu werden, vielleicht sogar spirituell neue Erfahrungen gewinnen zu können. Aber das Fasten hatte ein noch höheres Ziel: durch den Verzicht komme ich näher zu Gott. Oder besser gesagt: Gott kommt näher zu mir. Er schafft es, durch die Fast-Food-Mentalität durch zu dringen; zu mir, in mein Herz, meine Seele, in meinen Geist zu kommen, der sonst so beschäftigt ist, die hohe Geschwindigkeit unserer Zeit zu bewältigen.

 

 

Samstag, 26. Februar 2005

Verdächtiger

 

Guten Morgen! Der österreichische Schriftsteller Peter Turrini hat vor kurzem in einer Tageszeitung geschrieben: Wir leben in ängstlichen Zeiten, die Verdächtigen gewinnen an Macht. Ich denke mir, so Turrini, dass wir uns gegenseitig nicht mehr wahrnehmen, sondern einander nur noch verdächtigen können. Jeder verdächtigt jeden. Junge verdächtigen Alte, Alte verdächtigen Junge. Frauen verdächtigen Männer. Männer verdächtigen Männer.

Turrini macht nach dieser Analyse unserer Gesellschaft einen interessanten Vorschlag: Verfallen Sie Ihrem Mitmenschen gegenüber – ab und zu – in allerplumpstes Vertrauen.

Ich denke mir, dass das gar nicht so einfach ist, weil wir oft genug enttäuscht wurden in unserer Liebe anderen Menschen gegenüber.

Denn die Leute, denen wir naiv vertrauen, die wir von Herzen lieben, verhalten sich nicht so, wie dieses Vertrauen dann eigentlich verdient hätte. Und doch ist es so herrlich, Menschen zu lieben und ihnen zu vertrauen. Natürlich können sie uns dadurch leicht ausnutzen. Sie haben Macht über uns, wenn wir dieses Vertrauen zeigen. Natürlich ist es gefährlich, zu lieben. Aber ich denke mir, dass wir nur auf diesem Weg beschenkt werden können.

Und wenn sich Männer und Frauen nicht so verhalten, wie wir das gerne hätten; wenn sie zu feige, zu oberflächlich, zu egoistisch sind, um liebevoll genug mit uns umzugehen, können wir nur durch diese Haltung Neues erleben und kennen lernen.

Wenn wir die Ohnmacht und das Ausgeliefert Sein ausprobieren, werden wir feststellen, dass die Welt mit neuen Augen zu sehen ist.

Denn: ist es nicht die Liebe und das Vertrauen, die unsere Zeit und unsere Gesellschaft so notwendig braucht?