Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

„1938 bis 1945 – Erinnerungen…“

von Gertrud Piesch-Köchl

 

 

Sonntag, 1.5.2005

Meine Erinnerungen an die Zeit 1938 bis 1945 möchte ich mit einem Ereignis gegen Ende des Krieges beginnen. Lange Zeit hatten die Bewohner der Kleinstadt damit gerechnet, dass sie von Bombenangriffen verschont bleiben würden. Dem war nicht so. Als eines Tages wieder die Alarmsirenen heulten, sind die Eltern sofort mit uns Kindern in den Keller gerannt. Wir haben die Flugzeuge heranbrummen gehört und gleich danach die Einschläge ganz in unserer Nähe. Rund um uns drohte die Erde zu bersten. Und unser kleines Haus war gewiss kein wirklicher Schutz.

In meiner Todesangst hab’ ich mich krampfhaft an meinem Halsketterl mit Marienbild-Anhänger festgehalten und versprochen, nie mehr einen anderen Halsschmuck zu tragen, wenn wir nur am Leben bleiben könnten.

Marienketterl gegen Leben-dürfen? Ein Gedanke nahe dem Aberglauben? Vielleicht. Heute würde ich – so hoffe ich wenigstens – eher sagen: „Gott, wenn’s jetzt sein muss, fang’ uns bitte auf!“

Gehalten habe ich mein Versprechen trotzdem. Denn – was immer es war – versprochen ist versprochen, denke ich. Und so ganz kindisch war es ja vielleicht doch nicht, Maria – die Magna Mater Austriae – um ihre Fürsprache in dieser tödlichen Gefahr zu bitten.

 

 

Montag, 2.5.2005

In den Tagen, bevor Hitler Österreich an sich riss, haben die Kinder in meiner 4. Volksschulklasse schon recht ungeniert vom „Dritten Reich“, von „Großdeutschland“ geredet und „die Schiller“, ein jüdisches Mädchen, angestänkert. Worauf ich mehrmals – durchaus demonstrativ – mit ihr nach Hause gegangen bin. Dann hab’ ich das daheim erzählt. Es kam kein Lob, wie erhofft, sondern meine erste  „politische Enttäuschung“. Mein Vater, zwar Nazigegner seit Anfang der 30er Jahre, verbot mir strikt, das Mädchen zu begleiten. Ich solle meinen gewohnten Heimweg gehen.

Dann – der 11. März. Die spannungsgeladene Atmosphäre in der Familie und Schuschniggs „Gott schütze Österreich!“, ging tief.

Der Vater sagte: „Jetzt haben wir bald einen Krieg!“

Und ich hasste den Weg in den Turnsaal, wenn wir in der Hauptschule zu einer Hitlerrede antreten mussten.

An die kleine Schiller denke ich oft. Ich wünsche ihr, dass sie damals davongekommen ist und Kinder und Enkelkinder hat, wie ich.

Pauschalurteile über Juden und andere ausgegrenzte Menschengruppen vertrage ich seit Hitler nicht. Auf Lebensrecht und Menschenwürde hat jeder Anspruch, der in diese Welt hineingeboren wird.

 

 

Dienstag, 3.5.2005

Mein Vater hörte den ganzen Krieg hindurch Auslands-Nachrichten. Uns Kindern war es streng verboten, in Abwesenheit der Eltern eigenständig am Radio herumzudrehen. Wir haben es trotzdem getan. Die Fenster zu, den Vorhang so drapiert, dass wir mit einem Auge die Straße beobachten konnten und mit einem Ohr am möglichst leise eingestellten Gerät hingen. Auf diese Weise sind schlimme Grausamkeiten über die Konzentrationslager an unsere Kinderohren gedrungen.

In unserem Schrecken haben wir – trotz Angst vor Strafe – dem Vater davon erzählt. Er schimpfte erstaunlicherweise nicht mit uns, sondern sagte – und seine Worte klingen heute noch in mir nach: „Kinder, ihr dürft’s das nicht alles glauben. Auch die anderen machen Propaganda. Solche Sachen tut ein Mensch einem anderen nicht an.“

Nach dem Krieg ist uns schrecklich klar geworden, dass wir nur einen Bruchteil der Scheußlichkeiten gehört hatten, die Menschen sehr wohl Menschen angetan haben.

Dass der Vater nach dem unerlaubten Radiohören begann, mit uns Kindern über Politik zu reden, hat mich tiefgehend für mein ganzes Leben geprägt. Freilich tat er es immer mit dem Hinweis, dass jedes nach außen dringende Wort KZ und Tod bringen konnte.

Wir haben uns daran gehalten. Es ist uns nichts geschehen – Gott sei Dank dafür!

 

Mittwoch, 4.5.2005

In der Hauptschule haben wir während des Krieges Lehrer gehabt, die aus irgendeinem Grund nicht eingerückt waren. Zu alt, vielleicht mit einem Gebrechen behaftet, vielleicht auch, weil sie sich mit dem Regime gut standen.

Einer davon hat in jeder Biologiestunde die so genannte „rassische Reinheit“ gepredigt. Und selbstverständlich mussten wir alle Merkmale lernen, die nicht „germanisch“ waren.

Eines Tages kommt er zu meiner Bank, fasst mich an Stirn und Hinterkopf und stellt mich als Kind mit einem typisch „ostischen Schädel“ vor. Zornig und den Tränen nahe, wäre ich am liebsten unter meinem Pult verschwunden. Meine von daheim genährte Abneigung gegen Hitler und seine Nazis hat er damit bestärkt.

Viele Jahre später, in einem Kurhaus der Krankenkasse, habe ich gehört, dass dieses Haus seinerzeit Zeugungsort für „Germanennachwuchs“ war. Blonde Männer und Frauen – mit dem richtigen Schädelmaß, vermute ich – durften hier ihrem geliebten Führer als Samenspender und Ei-Lieferantinnen für das kommende „Tausendjährige Reich“ dienen.

Arme junge Menschen! Wie ihnen wohl zumute war, als der Krieg zu Ende und ihr Traum, Stammeltern einer neuen Rasse zu sein, nur mehr eine schreckliche Lächerlichkeit war?!

 

 

Donnerstag, 5.5.2005

HJ und BDM waren für Buben und Mädchen Pflicht. Und wer nicht von selber kam, wurde sehr bestimmt zur so genannten Pflicht-HJ eingeladen. Ich hab so ein Brieferl bekommen. Mit damals knapp 16 habe ich natürlich gewusst, so eine Einladung nimmt man besser an, wenn nicht die ganze Familie Schwierigkeiten haben soll.

Der Raum, wo die „Pflichtvergessenen“ zusammenkommen sollten, war in einem stillgelegten Kloster. Ein Mädchen entdeckte ein hängen gebliebenes Kreuz an der Wand. Eilfertig – wenn man einen schlechten Ruf hat, sucht man ihn vielleicht irgendwie zu verbessern – eilfertig also nahm es das Kreuz herunter und inszenierte eine Art Prozession. Die anderen waren sofort lachend und spottend dabei. Ich ging wütend zur Tür. Mit der Hand auf der Klinke sagte ich: „Der Führer hat Religionsfreiheit zugesagt und was ihr da tut, ist gegen den Willen des Führers. Da mache ich nicht mit!“ Die Tür hinter mir zugeknallt und weg war ich.

Nie wieder habe ich etwas von HJ oder gar Pflicht-HJ gehört. Aber dass ich sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen habe, freut mich heute noch.

 

 

Freitag, 6.5.2005

In politisch schwierigen Zeiten machen sich die Menschen Luft mit Witzen. Hitlerzeit war Witzezeit. Es verging kaum ein Tag, an dem einem nicht Witze zugeflüstert wurden. Der z. B.: Valentin, ein Münchner Kabarett-Künstler, kam eines Tages mit 3 Schweinen auf die Bühne und stellte die Tiere dem Publikum vor: „Das ist Frau Mann, das kleine hier ist das Kind Mann und das dicke, das ist Herr Mann.“ Lachstürme folgten, hat doch jeder gewusst, dass Hermann Göring gemeint war, ein großer, dicker Mensch.

Nicht immer endeten Witze mit Gelächter. Manchmal war das Weitererzählen tödlich. Meldete jemand der Gestapo den Erzähler solch schamloser Sticheleien am großartigen Werk des von der Vorsehung bestimmten, größten Führers aller Zeiten, waren Verhöre, die nicht gerade zimperlich geführt wurden, das geringste Übel. Es gab aber auch KZ, Hängen oder Köpfen. Letzteres ist z. B. einer Klosterfrau aus Niederösterreich geschehen.

Heute können sich viele Menschen, besonders junge, gar nicht vorstellen, wie schlimm diese Zeit wirklich war. Und es wird notwendig sein, sich gelegentlich an Bert Brecht zu erinnern, der warnend geschrieben hatte „…der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“

 

Samstag, 7.5.2005

1940 war das Jahr meiner Firmung. Was der Bischof damals gepredigt hat, weiß ich nicht mehr. Ob ich etwas verstanden habe, auch nicht. Ich war erst zwölf. Aber etwas fällt mir immer ein, wenn ich an den Dom denke, der mit Kindern in weißen Kleidern, in festlichen Anzügen, mit Paten, Vätern, Müttern und Verwandten gestopft voll war.

Aus meiner Familiengeschichte mit einem politisch denkenden Vater habe ich gewusst, dass mit Hitler und seinen Nazis etwas Böses über die Welt gekommen ist. Und auch, dass viele Menschen ihm und seinen Ideen hinterher laufen – nicht immer aus Überzeugung, oft nur aus Angst um ihr Leben. Damit war nicht zu spaßen.

Wenn mir auch kein einziges Bischofswort in Erinnerung ist, so weiß ich doch genau, was ich an diesem Tag gedacht habe: „So wie die wollte ich nicht werden!“ Mit großem Ernst habe ich mir vorgenommen: „Nie werde ich einem Menschen so nachrennen, wie die. Du, Gott, wirst es für mich sein, kein anderer!“

Viele Jahrzehnte sind seither vergangen. Mit Höhen und Tiefen, wie sie zum Menschenleben gehören. Auf eine lebensbedrohende Probe bin ich freilich nicht gestellt worden. Aber die Kindergedanken von 1940 sind mir Richtschnur bis heute.