Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Pfarrer Christian Öhler (Linz, OÖ)

 

Sonntag, 8.5.2005

Barmherzigkeit ist eine wichtige, ja eine göttliche Eigenschaft. Gott ist barmherzig – sagt die Bibel. Im Hebräischen ist das Wort „barmherzig“ mit einem anderen verwandt: nämlich mit dem Wort „Mutterschoss“ oder auch „Gebärmutter“. Mütterlichkeit ist also eine göttliche Eigenschaft. Weil jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist, hat sie auch jeder Mensch – der Mann genauso wie die Frau – und kann und soll sie entfalten.

 

Mütterlich sein bedeutet, einen anderen Menschen bedingungslos anzunehmen. Das tut Gott mit uns – immer wieder. Für ihn passen wir, so wie wir sind. Er nimmt uns an, ohne Vorleistungen zu verlangen, ohne Bedingungen zu stellen. Und diese Großzügigkeit, diese Unvoreingenommenheit – die sollten wir uns von ihm abschauen.

 

Mütterlich sein bedeutet, andere zu ernähren und zu tragen. Andere ernähren, dass ihnen nichts abgeht. Nicht dem Leib und auch nicht der Seele. Also Zuwendung schenken. Ein offenes Ohr, ein aufbauendes Wort, eine helfende Hand. Mittragen in Krisen, im Leid, auch wenn es mich etwas kostet.

 

„Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln“, sagt Jesus mit Blick auf Jerusalem, „so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; ihr aber habt nicht gewollt.“ Und er weint über der Stadt. Der Sohn Gottes zeigt uns das mütterliche Gesicht seines Vaters im Himmel.

 

Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir legen heute den Mutter- und den Vatertag zusammen und machen Halbe-Halbe in Sachen „Mütterlichkeit“.

 

 

Montag, 9. 5.2005

Ich betrachte meine Elefantensammlung. Den ersten haben mir vor vielen Jahren Kinder geschenkt. Ich halte ihn besonders in Ehren. Er ist aus Gips. Mit der Zeit sind viele dazu gekommen: große und kleine, aus Holz, Glas, Ton, rote, weiße und solche mit Herzen darauf. Manchmal nehme ich einen in die Hand und dann erzählt er mir von sich und ich lerne dabei auch allerhand über mich und überhaupt übers Leben.

 

Der Elefant lebt in Familienverbänden, die sich zu Herden zusammenschließen. Er lebt nicht allein, sondern in Gemeinschaft. 22 Monate trägt die Elefantenmutter das Kleine in ihrem Bauch. Nach seiner Geburt hilft sie ihm mit ihrem Rüssel auf die Beine. Das Elefantenbaby beginnt sofort bei ihr zu trinken, damit es zu Kräften kommt.

 

Die Herde aus Elefantenmüttern und Jungen wird von der Großmutter angeführt. Wenn Gefahr droht stellt die Elefantenoma die Ohren auf und stürmt auf den Feind los. Die Stoßzähne sind wichtig für die Verteidigung. Wie alle Waffen machen sie aber auch Probleme. Wegen des kostbaren Elfenbeins machen Menschen Jagd auf Elefanten.

 

Ein Elefant hat eine dicke Haut und ist doch sehr sensibel. Er nimmt Rücksicht auf die Schwächeren in seiner Herde. Er wirkt behäbig, ist aber unglaublich wendig und trotz seines Gewichtes sehr schnell. Nachtragend ist er auch und vergisst 20 Jahre lang nicht, wenn ihm jemand etwas angetan hat. Manchmal haut er über die Stränge: Er isst von vergorenen Früchten und dann legt er sich nieder – stundenlang – obwohl er das sonst nie tut.

 

Heute ist Montag. Mein freier Tag. Ich dreh mich auf die andere Seite und schlaf weiter. Obwohl ich das sonst nie tu.

 

 

Dienstag, 10.5.2005

Ich bin eingeladen. Die Gastgeberin macht die Tür auf. Ich überreiche einen Blumenstrauß und sie sagt: „Das ist aber eigentlich nicht nötig". Sind Blumen nötig? Mancher denkt: sie kosten viel und bringen wenig. Wenn schon ein Geschenk, dann etwas Praktisches, Zweckdienliches.

 

Haben wir Gott nötig? Mancher denkt: Eigentlich nicht nötig. Die Sonne scheint auch ohne Gott, das Bier schmeckt auch ohne Gott und der Euro rollt auch ohne ihn.In der Tat. Gott ist nicht nötig wie Geld und Bier.

 

Meister Eckehart schreibt: „Manche Menschen wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten es alle jene Leute, die Gott um des äußeren Reichtums oder des inneren Trostes willen lieben“.

 

Gott lässt sich nicht gebrauchen wie Käse und Milch. Er möchte uns auf einer anderen Ebene begegnen, dort, wo jemand sagt: Ohne dich will ich nicht leben, nicht weil ich etwas von dir haben muss, sondern weil du DU bist. So ist das, von dem wir sagen „eigentlich nicht nötig“, das Allernötigste. Sein statt haben, geben statt besitzen, kommunizieren statt herrschen. „Gott suchen“ nennt das die Tradition. Versuchsweise lässt sich das Wort Gott durch ein anderes ersetzen, etwa durch das Wort „Liebe“.

 

 

Mittwoch, 11.5.2005

Er hat Mauthausen mit Gusen I und II nicht überlebt. Für ihn ist die Befreiung am 5. Mai 1945 zu spät gekommen. Der junge Franzose, der unserer Pfarre seinen Namen gegeben hat: Marcel Callo. Häftlingsnummer 108 548. Knapp 24 Jahre alt. Gestorben ein paar Wochen vor Kriegsende im Krankenrevier, nur noch Haut und Knochen, von Misshandlungen und Ödemen entstellt. „Durch seine katholische Aktion unter seinen französischen Kameraden während des Arbeitsdienstes in Deutschland hat er dem nationalsozialistischen Regime und dem Heil des deutschen Volkes geschadet.“ – so die Anklage.

 

Marcel Callo – ein unverbesserlicher, konsequenter und andere ansteckender Christ. Der Stimme kaum mehr mächtig betet er heimlich mit Mithäftlingen, um sie aufzurichten. „Habt Vertrauen! Christus ist bei uns. Wir dürfen uns nicht gehen lassen, nicht aufgeben. Gott steht uns bei.“ Und flüsternd – für Sprechen gibt es mörderische Schläge – betet er mit ihnen so manches „Ave Maria“.

Marcel Callo – einer, der sich nicht beugt. Er setzt Kreuz gegen Hakenkreuz. Sogar der allzu verständlichen Versuchung widersteht er, die Deutschen zu hassen, seine Peiniger zu verfluchen. Ein Überlebender bezeugt: „Als ich einmal ein sehr ordinäres Wort für diese verwendete, hat er mich zurechtgewiesen.“ Nicht zuletzt durch dieses Widerstehen, diesen Widerstand hat er in seiner Person die Aussöhnung der einstigen Feinde nach 1945 grundgelegt.

 

Oberösterreich wird heute Abend einen ökumenischen Dankgottesdienst im Neuen Linzer Dom feiern. 60 Jahre Zweite Republik, 50 Jahre Staatsvertrag und 10 Jahre Beitritt zur Europäischen Union. Wir tun gut daran, dabei an das mutige christliche Zeugnis von Menschen wie Marcel Callo zu erinnern – gegen das Vergessen und für eine bessere Welt, die viele Marcel Callos nötig hat: Gott treu und jeden Menschen achtend als sein Ebenbild.

 

 

Donnerstag, 12.5.2005

90 junge Menschen haben wir heuer wieder auf die Firmung vorbereitet. 14, 15 Jahre sind sie alt und nach außen hin machen sie ganz auf cool. Weder Worte vom Leben, noch von der Liebe, und schon gar nicht vom hl. Geist scheinen sie zu beeindrucken. Und dann schaust ihnen ins Gesicht; wenn ihnen der Bischof die Hand auf den Kopf legt und mit dem Heiligen Chrisam ein Kreuz auf die Stirn zeichnet. Wie sie diese kurze persönliche Begegnung berührt, wie angeregt sie sich anschließend darüber austauschen, was der Firmspender jedem persönlich gesagt hat.

 

Der Glaube der jungen Generation verdunstet, andere Einflüsse sind übermächtig – höre ich klagen. So viele Stunden Religionsunterricht, Sakramentenvorbereitung, aufwändig gestaltete Feste. So viel vergebliche Liebesmühe. Und dann entdeckt eine Mutter im Zimmer ihres jugendlichen Sohnes, vollgestopft mit Posters, Popstars ein kleines Eckerl: mit dem Kreuz, das er bei der Erstkommunion geschenkt bekommen hat, mit einem Gebet aus dem Religionsbuch und dem Sterbebild von der Oma.

Ein anderer hat auf dem Display seines Handys das Foto von seinem verstorbenen Opa. Auch wenn das alles doch total uncool ist in dem Alter.

 

Ein Papst stirbt und tausende junge Menschen versammeln sich unter seinem Fenster und begleiten ihn mit ihren Gebeten. „Ich habe euch gesucht und ihr seid gekommen. Ich danke euch dafür!“ Diese Worte des sterbenden Papstes, gerichtet an die Jugendlichen draußen unter seinem Fenster klingen noch immer in uns nach.

 

 

Freitag, 13.5.2005

Thomas hat sich um einen Posten beworben. Wenn er unter 140 BewerberInnen ausgewählt wird, will er dankbar den Kreuzweg auf den Pöstlingberg gehen. Er hat es geschafft und ich begleite ihn. Vor seinem Studium noch ein hervorragender Sportler, ist er heute ziemlich beleibt und bewältigt den steilen Weg nur unter großen Mühen.

 

„Für mich ist es wirklich spürbar ein Kreuzweg“ erklärt er in einer Verschnaufpause. Dann läutet sein Handy und er muss einem seiner jungen Freunde erklären, wo er gerade ist. Wie erklärt man den Begriff „Kreuzweg“?

 

Endlich oben. Nach einem Gebet in der Basilika schließen wir unsere Wallfahrt traditionsgemäß mit einem guten Glas Wein beim Kirchenwirt ab. Wieder im Tal überreicht mir Thomas einen grünen Euroschein als Kirchenspende, „der Teil meines Gelübdes, der noch gefehlt hat.“

 

Thomas bezieht sich in seinen großen und kleinen Entscheidungen auf Gott, auf eine völlig unfromme Weise. Aber er steht dazu – auch vor seinen Freunden. Wir können ohne Gott nicht leben. Wie der Fisch nicht ohne Wasser, wie der Vogel nicht ohne Flug, sagt Mechthild von Magdeburg. Der Fisch denkt nicht über das Wasser nach. Der Vogel nicht über die Luft. Der Liebende nicht über die Liebe. Erst wenn all das nicht mehr selbstverständlich ist, wird er nachdenklich. An Land springt der Fisch in die Höhe – nach Wasser. Der Vogel im Käfig verkümmert. Der Verlassene klagt über die verlorene Liebe.

 

Der Vogel schwingt sich in die Luft. Der Liebhaber genießt die Liebe. Wer in Gott schwimmt wie ein Fisch im Wasser hat das Leben gewählt und glaubt, dass es ihm in Fülle geschenkt wird.

 

 

Samstag, 14.5.2005

Endlich wieder Pfingsten. Türen, vorher fest verschlossen aus Furcht und Mutlosigkeit, springen auf. Die Glut wird unter der Asche hervorgeholt. Das Feuer von gestern neu angeblasen. Der Atem und das Feuer begleiten den heiligen Geist. Menschen werden von ihm angesteckt. Sie entwickeln Phantasie und neue Ideen. Sie wagen mutig Schritte nach außen und nach vorwärts. Das Neue, von oben geistvoll angeschoben, breitet sich aus.

 

Schlafhauben sind sie nicht, die ersten Christen, vielmehr begeisterte Unruhestifter. In der Apostelgeschichte heißt es, sie bilden eine Gemeinschaft und haben alles gemeinsam. Sie verkaufen Hab und Gut und geben davon allen, jedem soviel wie er nötig hat. Das hat man bei Karl Marx wieder gelesen. Christlicher Urkommunismus.

 

Für mich sind das keine Ereignisse aus grauer Vorzeit. Die Glut glost noch unter der Asche. Das Feuer kann jederzeit wieder angeblasen werden.

 

Das Begräbnis von Papst Johannes Paul II. war ein Zeichen. Kräftige Windstöße haben die versammelte Gemeinde ganz schön durchgebeutelt, am augenfälligsten die Kardinäle in ihren feuerroten Roben. Manchem hat es seinen Pileolus vom Kopf geblasen. Könnte es sein, dass der Hl. Geist daran geht, die kirchlichen Entscheidungsträger wieder einmal aus ihren gewohnten Geleisen zu heben, ihnen neue Ideen ins Ohr zu blasen?! Der Wind hat im Evangelienbuch auf dem Sarg geblättert.

 

Ich bin mit meinen MitarbeiterInnen vor dem Fernseher dabei gewesen. Einer hat gesagt: Es wäre interessant, welche Seite er aufschlägt.

 

Vielleicht hat er ja längst schon eine neue Seite aufgeschlagen der Hl. Geist und es beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte unserer Kirchen. Ein neues Pfingsten.