Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Helga Kohler-Spiegel
Sonntag,
3. Juli 2005
Vor kurzem ist mir ein Text von Papst Johannes
XXIII. in die Hände gefallen.
„Nur für heute“ – so heißt sein Text, aus
dem ich Ihnen gerne ein paar Abschnitte vorlesen möchte:
„Nur für heute werde ich mich bemühen, den Tag
zu erleben, ohne das Problem meines Lebens auf einmal lösen zu
wollen. Nur für heute werde ich nicht danach streben, die anderen
zu kritisieren oder zu verbessern – nur mich selbst. Nur für
heute werde ich in der Gewissheit glücklich sein, dass ich für das
Glück geschaffen bin. ... Nur für heute werde ich glauben, auch
wenn die Umstände das Gegenteil zeigen sollten, dass Gott für mich
da ist, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt. Nur für heute
werde ich keine Angst haben. … Ich will mich nicht entmutigen
lassen durch den Gedanken, ich müsste dies alles mein ganzes Leben
durchhalten. Nur für heute…!
„Nur für heute“ – mich hat der Gedanke
angesprochen. So leben, auch so beten zu können, nimmt viel Druck
und lässt uns atmen. Das war auch das Anliegen dieses Papstes
Johannes des XXIII.: „Nur für heute werde ich keine Angst haben.
Nur für heute…“
Montag,
4. Juli 2005
Ich bin mir sicher, wir können bereits in jüngeren
Jahren dazu beitragen, wie wir altern werden. Also – vielleicht
schon heute: weise möchte ich sein, unerschrocken, eigensinnig –
und Lachfalten möchte ich haben. Ganz viele.
Dienstag,
5. Juli 2005
In den vergangenen Wochen habe ich viel über „das
Wunder Mensch“ gelesen. Der Mensch besteht, so habe ich erfahren,
aus bis zu 100 Billionen Zellen – etwa 1000-mal mehr, als die
Milchstraße Sterne hat. Ich habe Bilder gesehen, welche Muskeln wie
zusammenspielen, damit wir gehen und sitzen können, uns bewegen und
springen können. Die Nervenfasern des Menschen sind 780000
Kilometer lang. Über das Nervensystem und mithilfe der chemischen
Botenstoffe, der Hormone, kommuniziert das Gehirn mit dem Körper.
Das heißt, wir lernen Sprachen, sammeln Erinnerungen, speichern
Erfahrungen, wir können kreativ sein und unser Leben planen. Und es
heißt, wir können über uns nachdenken, über unseren Anfang, über
unser Ende.
„Das Wunder Mensch“ – es ist für mich ein
faszinierendes Zusammenspiel von Herz und Kreislauf, von Muskeln und
Sehnen, von Haut und Nervenzellen. Und es erschreckt mich, wie
achtlos ich oft mit diesem „Wunder“ umgehe – mit mir selbst
und mit anderen Menschen. Nur für heute möchte ich nicht
vergessen, dass ich „ein Wunder“ bin, dass die Menschen, denen
ich begegnen werde, „ein Wunder“ sind.
Mittwoch,
6. Juli 2005
Noch hängen mir die Traum-Bilder der vergangenen
Nacht nach, noch bestimmen sie meine Stimmung.
Nach dem Tod ihres Mannes schreibt die jüdische
Lyrikerin Mascha Kaleko:
„Ich träume nicht mehr,
Seit du nicht mehr aufwachst am Morgen ....
Kann keiner meine Träume deuten.
Nur der das Lächeln aufkeimen sah
In meinem Herzen
Und die Tränen reifen
Hinter meinem Auge. ...
Ich träume nicht mehr.
Wem sollte ich meine Träume erzählen?“
Im Alltag zusammen zu leben, bringt manchmal Ärger
und Ungeduld miteinander. Dennoch: Ich denke oft, ich möchte die
paar Menschen, die mein Lächeln und meine Tränen kennen, hüten
und mich um diese Beziehungen sorgen. Auch heute.
Donnerstag,
7. Juli 2005
Ich war bei einem wunderschönen
Sommer-Geburtstagsfest eingeladen. Alles war vorbereitet, viel
Zuwendung wurde in der Art des Festes spürbar. Dann – ganz viele
bunte Luftballons für zwei Frauen, die ihren Geburtstag feierten,
mit Karten daran und Wünschen, die vielleicht zurück geschickt
werden.
Ich habe noch nie erlebt, wie ganz viele bunte
Luftballons in den Himmel fliegen, wie der Wind sie aufnimmt und
fort trägt. Die Luftballons müssen zum Himmel steigen.
Festgehalten blieben sie im Zimmer an der Decke kleben, bis sie
schrumpeln und zu Boden fallen. Luftballons müssen losgelassen
werden, sie müssen fliegen dürfen.
Mich hat es angerührt, nachdenklich gemacht…. –
wahrscheinlich, weil ich es kenne, dass wir manchmal etwas so Schönes
loslassen müssen, damit es so schön bleiben kann. Luftballons müssen
losgelassen werden, Kinder auch, Wünsche manchmal.
Zumindest haben mich die Luftballons daran erinnert:
Festhalten lässt die Ballons schrumpelig werden. Und den Weg
erzwingen können wir schon gar nicht. Denn ihren Weg bestimmen
nicht wir. Aber ich habe sie fliegen gesehen, diese vielen bunten
Luftballons im blauen Himmel…
Freitag,
8. Juli 2005
Heute ist auch im Westen Österreichs der letzte
Schultag. Ich erinnere mich noch gut an den Stolz, wenn ich mit dem
Zeugnis in der Hand nach Hause kam und die Großeltern – ebenso
stolz – die Noten bewundert haben, obwohl sie längst wussten,
dass es ein gutes Zeugnis sein wird. Natürlich, es gab auch Jahre,
da war anderes ebenso wichtig, manchmal wichtiger für mich als zu
lernen.
Aber immer – mit dem Jahreszeugnis kamen die
Ferien – und mit ihnen kam ein Gefühl, das vielleicht nur Kinder
kennen. Es waren für mich als Kind diese unendlich langen Tage und
Wochen, in denen es nichts anderes zu tun gab als zu spielen. Von
morgens bis abends – nur spielen.
Wenn ich Sie heute morgen an eigene letzte Schultage
erinnere, dann möchte ich Sie an das Gefühl von Sommer erinnern,
an die Gerüche der Pflanzen, die reifen Beeren und das Summen von
Insekten. Und an das Gefühl, unbegrenzt Zeit zu haben. Als
Erwachsene wissen wir ja längst, dass wir nicht unbegrenzt Zeit
haben. Aber dennoch – manchmal können wir, für einen Moment, das
Gefühl aus Kinderzeit erinnern: unbegrenzt Zeit haben, unendlich
lange Tage und Wochen – Ferien.
Samstag,
9. Juli 2005
Christopherus will dem Mächtigsten dienen. Sein
erster Weg führt ihn an den Hof des mächtigsten Königs, doch als
er sieht, wie sich dieser bei der Nennung des Namens des Teufels
bekreuzigt, macht er sich auf die Suche nach dem Teufel und
verspricht ihm ewige Treue. Doch an einer Wegkreuzung sieht der
Teufel ein Kreuz und flieht von der Straße, um das Kreuz zu
umgehen. So verlässt Christopherus den Teufel, um Christus zu
suchen. Es wird eine lange Suche, bis er zu einer Einsiedelei kommt
und im Glauben unterwiesen wird. „Der König, dem du dienen
willst, begehrt, dass du viel fastest.“ Antwortet Christopherus:
„Er fordere von mir ein ander Ding, denn dies vermag ich nicht zu
tun.“ Sprach der Einsiedel: Es ist not, dass du viel zu ihm
betest.“ Antwortet Christopherus: „Ich weiß nicht, was das ist,
und kann ihm darin nicht folgen.“ Da sprach der Einsiedel: „Weißt
du den Fluss, darin viel Menschen umkommen, so sie hinüber wollen
fahren?“ Antwortet Christopherus: „Ja, ich weiß ihn.“ Und der
Einsiedel sprach: „Du bist groß und stark: Setze dich an den
Fluss und trage die Menschen hinüber. So dienst Du Christus.“
Christopherus zeigt uns: Was wir tun, soll unserem
Wesen entsprechen. Wir müssen uns nicht verbiegen, wir müssen auch
im Religiösen nicht Dinge tun, die uns nicht entsprechen. Was wir
tun, sollen wir ganz tun – mit Leib und Seele. Dann ist es gut.
|