Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Pater Berthold Mayr CMM (Wels, OÖ)

 

Sonntag, 31.7.2005

Schon als junger Mensch fiel mir das in den Kirchen auf: die Menschen waren im Gottesdienst besonders fromm. Sie waren so ganz anders in der Kirche. Sie schauten anders aus. Anders als im Gasthaus, oder wenn sie ihre Späße machten. Auch mein Vater schaute anders aus, auch meine Mutter.

Mit unseren Gottesdiensten dürfte irgendetwas nicht in Ordnung sein. Die fromme Gemeinschaft im Gottesdienst erlaubt es keinem ein Sünder zu sein. Erlaubt es keinem, nicht fromm zu sein. Natürlich bekennen wir, dass wir Sünder sind, dass wir schuldig geworden sind. Aber das bekennen wir nur so allgemein.

Christen haben zwar als fromme Gemeinschaft miteinander. Aber sie haben keine Gemeinschaft als die Unfrommen, als die Sünder. Darum muss jeder seine Sünde vor sich selbst und vor der Gemeinschaft verbergen. Unausdenkbar, wenn auf einmal ein wirklicher Sünder unter die Frommen geraten wäre.

So bleiben wir mit unserer Schuld allein. Trotz aller Gottesdienste. Es sind eben Gottesdienste der Frommen.

 

 

Montag, 1.8.2005

„Das kann doch kein Glaube sein, der ständig vom Zweifel bedroht ist“ und er fügte das noch hinzu, was ich als Kind gelernt habe: der Glaube muss standhaft, sicher und fest sein.

Für mich gehört der Zweifel zum Glauben wie der Tod zum Leben. Es gibt keinen Glauben, der nicht die Erfahrung des Zweifels machen müsste. Anlass zum Zweifel habe ich täglich. Ist wirklich alles so sinnvoll, so umgeben von einer göttlichen Liebe, wie es religiöse Bücher darstellen? Mein Denken stellt täglich den Glauben in Frage, mein Denken zerpflückt den Glauben und gibt ihn oft der Lächerlichkeit preis.

Aber – der Zweifel gehört zum Glauben, weil Glauben niemals ein lückenloses Verstehen ist. Weltanschauungen lassen keinen Zweifel zu. Es kommt ihnen auf eine lückenlose Erklärung des Weltganzen an.

Der Glaube dagegen glaubt, was nicht bewiesen werden kann. Möglicherweise, was auch nicht verstanden werden kann. Und darauf immer wieder hinzuweisen – diesen Dienst tut der Zweifel.

 

 

Dienstag, 2.8.2005

Ich bete zu einem Gott, der nicht hilft. Jedenfalls nicht dort, wo es nötig wäre. Das ist der Maulwurf, der unter jedem Glauben wühlt. Ist Gott bis zur Unkenntlichkeit aus der Welt verschwunden? Manchmal habe ich den Eindruck, Gott selbst möchte, dass wir unseren Glauben verlieren.

Für unsere Vorfahren ist die Welt voll von Gott gewesen. Nicht, dass die Menschen besonders gut gewesen wären; es hat Unrecht und Sünde gegeben wie heute. Trotzdem war wohl etwas anders.

Uns aber ist oft die selbstverständliche Nähe Gottes entschwunden. Die Welt wird immer voller von Sachen, die Herzen kühlen ab, das Dasein wird leerer. Aber kann darin nicht auch eine Chance stecken: die Nähe des verborgenen Gottes? Gott durch die Ferne die Treue halten könnte ein religiöses Programm in unserer Armut sein. Wir sind Gläubige, die kaum Glauben haben und die zu Gott sagen: „wir fühlen keine Nähe“. Aber, wir sind noch nicht verstummt. Wir sprechen und beten noch.

 

 

Mittwoch, 3.8.2005

„Nicht einmal der Teufel kann so scharfe Augen haben wie die Nachbarn“. So heißt es in Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“. Nicht einmal der Teufel kann so scharfe Augen haben wie die Nachbarn. Menschen schauen einander zu. Sie bekommen – oft ganz unfreiwillig – mit, was im Leben des Mitmenschen geschieht. Und sie neigen dazu, vom Sehen zum Urteilen, nicht selten zum Verurteilen zu schreiten. Aber Zuschauen ist nicht herabschauen, es geschieht auf Augenhöhe. Wer seinen Mitmenschen zuschaut und das, was er dort sieht, beurteilt und so über den anderen zu Gericht sitzt, muss sich fragen, ob er dieses Urteil dem anderen auch ins Angesicht zu sagen vermag. Jeder Mensch braucht einen Blick, der ihm und seiner speziellen Lebenssituation gerecht wird.

Er braucht einen Menschen, der mit ihm auf Augenhöhe geht. Manchmal hilft es, sich daran zu erinnern, dass wir an demselben Maßstab gemessen werden, mit dem wir messen.

 

 

Donnerstag, 4.8.2005

Es gibt eine lange Liste aus der hervorgeht, für was die Menschen vor mehr als 2000 Jahren Zeit haben mussten. Liest man diese Liste, so kann man nicht sagen, die Menschen früher hätten gelassener gelebt. Diese Liste stammt aus der Bibel. „Es hat alles seine Zeit, das Pflanzen und Ausreißen, das Töten und Heilen, das Weinen und Lachen, das Klagen und Tanzen.“ usw.

Die Bibel will damit sagen: gegen die Zeit ist nichts zu erzwingen. Die Zeit dreht sich nicht um den Menschen. Sie dreht sich um Gott.

Wenn ein Hamster im Käfig merkt, dass es Nacht wird, tritt er in seine Drahtrolle und wandert. Er läuft und läuft seine lange Strecke. Er läuft unter der Achse.

Diese Achse sorgt dafür, dass er eigentlich immer auf der Stelle bleibt. Menschen leben wie Hamster. Sie jagen hinter der Zeit her und sie treten doch immer auf der Stelle.

Die Bibel sagt: Ein jedes hat seine Zeit. Das Säen und das auf die Ernte Warten. Das Jungsein und das Altwerden. Für die Bibel ist der Mensch nicht ein Gefangener der Zeit, ein Gefangener seiner wenigen Jahre. Der biblische Mensch ist befreit, weil jede Stunde zur Ewigkeit hin offen ist.

 

 

Freitag, 5.8.2005

Für viele ist der Glaube wie ein Irrgarten. In ihm kann man sich verlaufen. Und wenn man nicht hinausfindet, beginnt man den Garten abzuholzen. So holzen Christen den Irrgarten ab. Einen Baum lassen sie stehen, den Baum der Nächstenliebe. Diese Wahrheit ist konkret und handlich. Sich sozial zu engagieren. So kann dann jeder die Plakette „Christ“ erhalten. Gutes tun und Gutes denken ist menschlich. Und weil alle die Plakette Christ tragen können, sind die Christen wieder in der Mehrheit. Christ sein ist wieder „in“.

Bei aller Nächstenliebe wird immer ein Berg von Leid übrig bleiben, der nicht abgetragen werden kann. Und es gibt die Erfahrung, dass einem die ganze Welt mit allem drum und dran zu eng ist. Der Glaube ist vom Kopf in die Hände gerutscht. Und die Hände wissen eines Tages nicht mehr, warum sie Gutes tun sollen.

Den Irrgarten des christlichen Glaubens so gründlich zu bearbeiten, dass nur noch ein Baum übrig bleibt, finde ich gefährlich. Vielleicht müsste man den Garten übersichtlicher anlegen. Ausforsten, dass man darin die Spuren des eigenen Lebens wieder findet.

 

 

Samstag, 6.8.2005

Im Judentum gibt es eine alte Überlieferung. Es soll in Israel immer 36 verborgene Gerechte geben. Niemand weiß, wer sie seien. Aber durch ihre geistige Kraft tragen sie das ganze Volk. Also, nicht die im Vordergrund stehenden Gestalten sind die Träger und Bewahrer der heiligen Tradition. Es sind diese geheimen Repräsentanten. Sie treten gar nicht in Erscheinung, aber durch ihren Glauben und ihre Gebete garantieren sie den Bund mit Gott.

Gibt es nicht auch im Christentum solche Gestalten, die durch die Treue und ihre geistige Kraft zur Glaubwürdigkeit des Glaubens beitragen. Gewöhnlich schauen wir nach den großen Persönlichkeiten aus, die wortgewaltig die Kirchen repräsentieren. Vielleicht sind aber auch im Raum der Kirchen andere Gestalten eine unbedingte Voraussetzung, wie die 36 Gerechten in Israel. Natürlich hat die öffentliche Wirksamkeit von Bischöfen seine Bedeutung. Sie können jedoch nur deshalb etwas bewirken, weil es da ein Netz von Betern und Mitdenkern gibt, von Leidenden und Hoffenden, die sich zwar selten zu Wort melden und dennoch zu den Tragenden gehören.