Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

von Pfarrerin Christine Hubka, Wien

 

 

 

Sonntag, 7. August 2005:

Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, haben wir als Kinder gespielt.

Die Bibel lockt uns, dieses Spiel auch als Erwachsene zu spielen.

 

Kinder kann man vielleicht übersehen. Überhören kann man sie nicht.

Sie laufen durch die Wohnung, sodass der untere Mieter das Tap-tap-tap der Schritte hört.

Wenn sie im Hof spielen, weiß der ganze Wohnblock, wann ein Tor geschossen wurde.

In der Kirche sitzen sie nicht still, sondern baumeln mit den Beinen.

Sie sind ungeduldig – alles muss jetzt und sofort sein.

Sie greifen alles an und fragen ununterbrochen: Mama, warum? Papa, wieso?

Darum gibt es an allen Ecken und Enden Verbote für Kinder:

Fußball spielen ist verboten.

Das Betreten des Rasens ist verboten.

Das Herumgehen in der Kirche ist verboten.

 

In der Bibel aber lese ich:

Kinder sind eine Gabe Gottes (Ps. 127,3)

 

Und so schaue ich die Kinder noch einmal an:

Sie sind neugierig auf diese Welt und freuen sich über Dinge, die mir selbstverständlich sind. Von ihnen kann ich lernen, den Augenblick zu genießen

und nicht immer schon meiner Zeit voraus zu sein und an das Übernächste zu denken. Statt fertiger Antworten haben sie Fragen über Fragen und wollen den Dingen wirklich auf den Grund gehen.

Ja, das ist es! Haben wir gesagt, wenn die Mitspielerin endlich auch gesehen hat,

was ich gesehen haben.

Ja, das ist es, freut sich meine Bibel.

jetzt siehst du es auch:

Kinder sind eine Gabe Gottes und die Welt wäre langweilige und leer ohne sie.

 

 

Montag, 8. August 2005:

Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, haben wir als Kinder gespielt.

Die Bibel lockt uns, dieses Spiel auch als Erwachsene zu spielen:

 

Da schau ich morgens in den Spiegel. Ich sehe ein noch müdes Gesicht.

Ergrauende Haare. Eine Haut, die weit davon entfernt ist, einem frischen Pfirsich zu gleichen. Und ich weiß, dass in einem Jahr die Haare noch grauer sein werden

und vom frischen Pfirsich noch weniger die Rede sein wird.

 

In der Bibel aber lese ich: (Ps. 139, 14):

Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin.

 

So bleibe ich diesmal länger vor dem Spiegel stehen, um zu sehen, was auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist: Die grauen Haare umrahmen das Gesicht

mit einer lichten und weichen Farbe. Sie machen es hell und freundlich.

Die Falten geben ihm Ausdruck und erzählen Geschichten vom  Lachen und Weinen.

Die Müdigkeit kommt von der Arbeit, die nun schon Jahrzehnte fordert aber auch befriedigt und mir und meinen Kindern den Lebensunterhalt gesichert hat.

Ja, das ist es! Haben wir gesagt, wenn die Mitspielerin endlich auch gesehen hat,

was ich gesehen habe.

Ja, das ist es, freut sich meine Bibel - jetzt siehst du es auch:

Du bist wunderbar gemacht, ganz gleich, was dein Spiegel heute früh sagt.

 

 

Dienstag, 9. August 2005:

Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, haben wir als Kinder gespielt.

Die Bibel lockt uns, dieses Spiel auch als Erwachsene zu spielen:

 

Das Leben ist gewöhnlich keine gemähte Wiese. Auch heute werden mir Schwierigkeiten begegnen. Wer weiß, ob ich das, was ich mir vorgenommen habe,

auch schaffen kann. Und die langfristigen Pläne  ….

Manchmal ist es schwer, auch nur einen Schritt weiter zu kommen. Manchmal scheint es, als wäre eine Mauer zwischen mir und meinem Ziel.

 

In der Bibel lese ich:

Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen (Ps 18,30)

 

Da setzte ich mich erst einmal nieder und betrachte das Hindernis in aller Ruhe.

Allein werde ich es nicht schaffen, das hab ich schon bemerkt.

Aber mit meinem Gott - und mit der Hilfe anderer Menschen, ist es wohl möglich es zu überwinden. Und ich suche im Geist Namen und Gesichter, Hände und Menschen, die mit mir das Hindernis angehen können. Ich schaue mich um und sehe, da sind welche, die haben schon Erfahrung. Und andere, die können den einen oder anderen Stein der Mauer abtragen. Und da gibt es welche, mit denen kann ich das Springen üben, die wissen Tipps und Tricks, wie es ein wenig leichter und ein wenig besser gehen kann.

Ja, das ist es! Haben wir gesagt, wenn die Mitspielerin endlich auch gesehen hat,

was ich gesehen habe.

Ja, das ist es, freut sich meine Bibel. Jetzt siehst du es auch: Du bist nicht allein, wenn du vor Schwierigkeiten stehst. Du kannst dich unterstützen lassen.

Von deinem Gott und von anderen Menschen.

 

 

Mittwoch, 10. August 2005:

Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, haben wir als Kinder gespielt.

Die Bibel lockt uns, dieses Spiel auch als Erwachsene zu spielen:

 

Ich höre den Kindern im Kindergarten zu, wie sie sich miteinander unterhalten:

„Größer bin ich und stärker bin ich auch als du. Meine Puppe ist schöner als deine und mehr gekostet hat sie auch.“

Wenn die Kinder erwachsen werden, scheint sich nicht viel zu ändern:

Menschen erzählen, wie erfolgreich sie sind. Wie großartig etwas gelungen ist.

Wie wunderbar alles läuft. Und ich glaub es ihnen.

Aber war da nicht auch noch etwas anderes?

 

In der Bibel lese ich, dass der Apostel Paulus schreibt:

Dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer. (2. Kor 11,25)

 

Dreimal Schiffbruch. Das ist drei Mal scheitern und das Ziel nicht erreichen.

Drei Mal mit leeren Händen dastehen. Drei Mal ohne Erfolg gerade noch irgendwie aus einer Situation heraus kommen.

Man könnte es verschweigen. Man könnte Gründe finden, warum das passiert ist.

Man könnte sich rechtfertigen und auf die vielen Male verweisen, wo alles ganz nach Plan gelaufen ist.

Aber Paulus schreibt ganz ungeniert - ganz ohne sich zu genieren:

Dreimal habe ich Schiffbruch erlitten.

Offensichtlich hat er keine Sorge, dass das seinem Ansehen schaden könnte.

Ja, das ist es! Haben wir gesagt, wenn die Mitspielerin endlich auch gesehen hat,

was ich gesehen habe.

Ja, das ist es, freut sich meine Bibel. Jetzt siehst du es auch: Es ist keine Schande, Schiffbruch zu erleiden. Sondern ein Segen, danach wieder neu beginnen zu können.

 

 

Donnerstag, 11. August 2005:

Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, haben wir als Kinder gespielt.

Die Bibel lockt uns, dieses Spiel auch als Erwachsene zu spielen:

 

Ich finde eine Todesanzeige in der Post: Plötzlich und unerwartet ist jemand verstorben. Mitten aus dem Leben gerissen. Ein furchtbarer Schock für alle,

die ihn geliebt haben. Aber Menschen, die ihn gekannt haben, sagen: Ja, für die Hinterbliebenen ist es schlimm. Aber eigentlich möchte ich auch so sterben:

So schnell. So schmerzlos. Am besten im Schlaf. Am Abend einschlafen und nicht mehr aufwachen. Das wäre ein schöner Tod.

 

In der Bibel werden auch Geschichten vom Sterben erzählt:

Und Jakob berief seine Söhne … und sprach: Ich werde sterben… (Gen. 49, 1. 29)

 

Dann gibt er genaue Anweisungen für sein Begräbnis. Zum Schluss segnet er jeden seiner Söhne mit einem ganz besonderen Segen.

Ich weiß nicht, wie es einmal sein wird. Und ich werde es mir nicht aussuchen können. Aber ich wünsche mir Zeit zum Sterben, um auch denen Zeit zu geben, die um mich sind.

Ja, das ist es! Haben wir gesagt, wenn die Mitspielerin endlich auch gesehen hat,

was ich gesehen habe.

Ja, das ist es, freut sich meine Bibel. Jetzt siehst du es auch.

Die Kunst des Sterbens kannst du nur erlernen, wenn du mitten im Leben bist.

 

 

Freitag, 12. August 2005:

Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, haben wir als Kinder gespielt.

Die Bibel lockt uns, dieses Spiel auch als Erwachsene zu spielen:

 

Ich gehe einkaufen. Bei den Drogeriewaren bleibe ich stehen und schaue mir an,

was da alles im Regal steht: Ameisentod. Ameisenfalle. Ameisenköder. Ameisenspray. Ungeziefer Vernichter.

Oja, ich weiß, dass die Bisse von Ameisen scheußlich brennen.

O nein, ich liebe es gar nicht, wenn Ameisen ihre Straßen und Wege durch meine Küche leiten.

 

In der Bibel aber lese ich:

Die Kleinsten auf Erden sind doch klüger als die Weisen: die Ameisen sind ein schwaches Volk, dennoch schaffen sie im Sommer ihre Speise; (Sprüche 30,25).

 

Vorsorgen und vorausschauend handeln, das kann man von den Ameisen lernen.

Denn sie sagen nicht nur: Der nächste Winter kommt bestimmt. Sondern sie bereiten sich auf das, was kommen wird, in der guten Zeit langfristig vor.

Ja, das ist es! Haben wir gesagt, wenn die Mitspielerin endlich auch gesehen hat,

was ich gesehen haben.

Ja, das ist es, freut sich meine Bibel jetzt siehst du es auch:

Die Unterscheidung zwischen Ungeziefer und Geziefer hat keinen Sinn.

Denn jedes Lebewesen hat seine ganz besondere Gabe und Weisheit.

 

 

Samstag, 13. August 2005:

Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, haben wir als Kinder gespielt.

Die Bibel lockt uns, dieses Spiel auch als Erwachsene zu spielen.

 

„Treffen wir uns kommende Woche?“, frage ich einen Freund.

„Leider - nächste Woche hab ich gar keine Zeit. Die Firma, die Familie, der Verein, dieses neue Projekt .... Du weißt wie das ist.“ Er klingt gehetzt. „Weißt was, ich ruf dich an, wenn es wieder geht.“

Aus Erfahrung weiß ich, dass dieser Anruf nie kommen wird - und ich fürchte bedauernd, dass diese Freundschaft sich zu einer losen Bekanntschaft verflüchtigen wird.

Nachdenklich lege ich auf: Wem gehört meine Zeit: Der Firma? Der Familie?

Dem humanitären Projekt, an dem ich mitarbeite? Den ganzen dringlichen und wichtigen Dingen, die unerledigt auf meinem Tisch liegen? Den E-mails, die unbeantwortet im Computer warten?

 

In der Bibel lese ich:

Meine Zeit steht in deinen Händen, Gott. (Ps 31, 16)

 

Da hat einer also die Zeit in seinen Händen. Während sie mir zwischen den Fingern zerrinnt, hält er sie fest in der Hand. Und täglich teilt er mir eine Portion davon zu -

Mit sicherer Hand - Täglich die gleiche Anzahl von Stunden. Und am nächsten Tag wieder. Und am nächsten Tag wieder…

Ja, das ist es, haben wir gesagt, wenn die Mitspielerin endlich auch gesehen hat,

was ich gesehen habe.

Ja, das ist es, freut sich meine Bibel. Jetzt siehst du es auch:

Deine Zeit wird nicht verschlungen von gefräßigen Ungeheuern, die nie genug davon kriegen können. Deine Zeit ist in Gottes Hand und er geht sorgsam damit um.