Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Martin Schenk, Wien
Harry
Potter und…
Sonntag, 4. September 2005
…die Narbe
Eine blitzförmige Narbe
steht auf Harry Potters Stirn. Die Verletzung wurde ihm als Baby
zugefügt, als Voldemort, der böse und mächtige dunkle Lord, ihn
zu töten versuchte. Diese Narbe schmerzt Harry noch immer, und sie
erinnert ihn beständig an seine Mutter, die starb als sie sich schützend
vor ihr Baby warf, aus Liebe.
Die Narbe sagt, du bist
verletzlich. Kein unverwundbarer Held, kein Panzer auf zwei Beinen.
„Du brauchst dich für
das, was du fühlst nicht zu schämen, Harry. Im Gegenteil, die
Tatsache, dass du Schmerz wie diesen empfindest, ist deine größte
Stärke.“, so versucht der Leiter der Schule in Hogwarts,
Professor Dumbledore, Harry zu ermutigen, seinen Schmerz zuzulassen.
Harry ist kein unverwundbarer, guter Superheld, sondern verletzlich.
Und was er schafft, erringt er mit der Hilfe anderer.
Da sind seine Freunde Ron und Hermine, da ist Professor
Dumbledore, der in letzter Minute Unterstützung bringt, da ist der
tiefe Gedanke an seinen Vater, der ihm einen Beschützer gegen die
todbringenden Dementoren schickt, da ist
Harrys Mutter, die ihn vor Voldemort bewahrt und deren
liebendes Vermächtnis Harry stark macht. Es ist die Qualität von
Harrys persönlichen Beziehungen, denen er seine Fähigkeiten
verdankt. Niemand kommt alleine auf die Welt, von Geburt an sind wir
auf Unterstützung und Fürsorge anderer angewiesen.
„Jeder kann gewinnen, wenn
er nur will“ oder „Jeder ist seines Glückes Schmied“ - das
sind die Parolen der vermeintlich unverwundbaren Superhelden. Die
Narbe aber sagt, du bist Mensch, du bist verletzlich.
Montag, 5. September 2005
…und „Er, dessen Namen man nicht nennt“
Voldemort, so heißt der böse
und mächtige Zauberer, der nach Harry Potters Leben trachtet und
die Welt beherrschen will. Die Bewohner der Zauberwelt wagen es gar
nicht, Voldemorts Namen auszusprechen. Stattdessen sagen sie: „Er,
dessen Namen man nicht
nennt“ oder „Du weißt schon wer“. Nur wenige, unter ihnen
Harry Potter und der Direktor der Zauberschule Hogwarts, Professor
Dumbledore nennen Voldemort so, wie er nun mal heißt. „Nenn ihn
Voldemort“, rät ihm Professor Dumbledore. „Nenn die Dinge immer
beim richtigen Namen. Die Angst vor einem Namen steigert nur die
Angst vor der Sache selbst“.
Unsere Angst vor der Sache
hat eine Gehilfin: die Sprache. Sie sagt zu Entlassungen
„Freistellungen“, zu Zwangernährung
„Heilbehandlung“, zu Arbeitslosen „Ich-AG“,
zum Tod von Embryonen „verbrauchende Embryonenforschung“,
zu Pensionsminderung „Pensionssicherung“, zur Kürzung
von Sozialhilfe „Erhöhung der Treffsicherheit“, zu
Schutzsuchenden „Schübling“,
zur massenhaften Tötung von Menschen „Kollateralschaden“,
der Abbau solidarischer Formen der Risikosicherung bei
Krankheit oder im Alter heißt „Reform“, das Absacken von
Aktienkursen „Gewinnwarnung“.
Der erste Schritt dem Überwältigenden,
dem Beängstigenden, dem Beherrschenden, und dem Unfreimachenden ein
wenig seiner Macht zu nehmen, ist es beim Namen zu nennen.
Dienstag, 6. September 2005
…die aufgeblasene treue Fleur
Fleur ist in Bill verliebt,
Bill in Fleur. Bill ist der Bruder von Harry Potters bestem Freund
Ron. Fleur ist wunderschön und bildet sich auch viel auf ihre Schönheit
ein. Aufgeblasen und eitel, lässt sie alle wissen, wie toll sie
aussieht. Doch ihre Schönheit ist bezaubernd, und so sehr sie alle
damit nervt, so eingenommen sind viele von ihrer Ausstrahlung.
Bill passiert nun etwas
Schreckliches. Im Zusammenstoß mit einem Werwolf ist sein Gesicht
brutal entstellt worden. Alle erwarten
nun, dass die schöne Fleur sich von Bill abwenden wird, das
Interesse langsam an ihm verliert, sich einen anderen findet.
Doch allen Vorurteilen zum Trotz, was niemand gedacht hat,
sie entpuppt sich als unverbrüchlich treu. „Ich bin hübsch genug
für beide“, behauptet sie schnippisch.
Das ist das
Feine an den Geschichten um Harry Potter. Es gibt keine nur
Guten und nur Bösen, oder nur Sympathischen, oder nur
Unsympathischen. Das Leben spielt dazwischen. Fleur bleibt
aufgeblasen, aber in ihrer Liebe zum entstellten Bill treu. Es gibt
keine einfachen Erklärungen. Ganz weiß, ganz schwarz oder ganz gut
oder ganz böse, ganz hell, ganz dunkel, Achse des Bösen, Träger
des Guten, Herr des Lichts und wie all die Bilder von Heldenmythen
heißen.
„Hübsch genug für
beide“, befindet Fleur. Und beschämt alle, die es immer schon
gewusst zu haben glauben. Sie beschämt alle in ihrem vorschnellen
Urteil.
Mittwoch, 7. September 2005
…die Dementoren
Kommst du einem Dementor zu
Nahe wird jedes gute Gefühl, jede Erinnerung an Glück aus dir
heraus gesogen. Und dir wird nichts mehr bleiben als die schlimmsten
Erfahrungen deines Lebens. Dementoren sind dunkle Wesen, die
geisterhaft alles erkalten lassen, was mit ihnen in Berührung
kommt, sie vereisen dich und erfrieren alles, was lebendig ist an
dir.
Harry Potter hat das erleben
müssen. Nur die Freundschaft zu Ron und Hermine, die starken
Erinnerungen an seinen Vater, die Liebe seiner Mutter konnten Harry
vor den Dementoren schützen.
Dementoren lassen dich die
Welt verlieren. Das ist eine Todeserfahrung ohne wirklich tot zu
sein. So geht es Menschen, die Schrecklichstes erleben mussten:
Folter, Bürgerkrieg, Verfolgung. Die Überlebenden verlieren den
Boden unter den Füßen, den Stand in der Welt. Es ist das Gefühl,
verloren zu gehen, den Kontakt mit der umgebenden Welt zu verlieren.
Alles Schöne ist ausgesaugt, wie von Dementoren.
Die häufigste
Reaktion, die dieser Erfahrung folgt, sind Depressionen, Angst,
Panikattacken, Essstörungen, Schlafstörungen, starke körperliche
Schmerzen. 5 - 30% der Flüchtlinge, je nach Herkunftsregion, leiden
darunter. Sie kommen auch nach Österreich.
Und was ihnen, den wie von
Dementoren Ausgesaugten, wieder Leben gibt, ist das Selbe wie bei
Harry: Freundschaften und Vertrauen, die guten Erinnerungen an
Menschen von früher und die Liebe, die sie in der Welt hält.
Donnerstag, 8. September 2005
... das Schlammblut
Die
Menschen in der Welt Harry Potters heißen Muggle. Viele
Zaubererkinder stammen von Muggle-Eltern ab. Die Gruppe rund um den
dunklen Lord Voldemort will das Land aber in eine reinrassige
Magiergesellschaft verwandeln. Kinder mit gemischter Abstammung,
einem Elternteil Muggle, dem anderen Zauberer, sollen aus Schule und
Gesellschaft ausgeschlossen werden. Kinder, deren beide Eltern
Muggle sind wie Harrys Freundin Hermine, haben wegen ihrer Herkunft
schon gar nichts bei den reinen Zauberern zu suchen. Diese nennen
sie verächtlich Schlammblütler.
„Du
sollst dich nicht vermischen“, lautet das Hauptgebot des
Rassismus. So werden Menschen benachteiligt, diskriminiert und
ausgeschlossen.
„Wenn
die nicht wären, wäre alles besser“, so dröhnt das Gebot des Sündenbocks,
das wichtigste Werkzeug des Rassismus. Eine kleine Gruppe finden,
die an allem und jedem schuld ist. Schuld an dem, was schief läuft
in einem Gemeinwesen. Und sich dann vorstellen, dass alles viel
besser wäre, wenn die nicht mehr da wären.
Harrys
Freundin Hermine hat ein feines Gespür für Ungerechtigkeiten, die
sich auf Herkunft berufen. Sie sieht die Hauselfen, kleine Geschöpfe,
die als Sklaven in den Haushalten der Magier arbeiten, sie sieht
deren bedrückende Situation und gründet einen Verein, um Rechte für
sie zu erkämpfen. Alle sollen Zukunft haben- trotz ihrer Herkunft.
Freitag, 9. September 2005
...die Kraft der Sorge &
die Kraft der Vernunft
Harry
Potter ist zornig, verletzt, verzweifelt, begeistert. Gefühle sind
wichtig, weil sie Menschen Ungerechtigkeiten erkennen lassen und Türen
öffnen, die dem Kopf verschlossen bleiben. Sie sind Schutz und
Schild gegen die Waffen des dunklen Lord Voldemort, der selbst keine
Gefühle kennt außer der Angst vor dem Tod. Ohne die Kraft des
Zorns und ohne die Kraft der Liebe geht gar nichts bei Harry. So
sind Zorn und Liebe zwei Seiten derselben Medaille: der Sorge um
andere Menschen.
Aber
auch ohne Vernunft und Intellekt geht gar nichts. Hermine, die
Freundin Harrys, ist eine hervorragende Zauberin mit scharfem und
wachem Geist. Sie zieht die richtigen Schlüsse und kombiniert klug.
Männer weinen und Mädchen denken in der Zauberschule in Hogwarts.
Erfolgreich
ist Harry nur dann, wenn er beides vereint. Das Fühlen und das
Denken. Das Herz und das Hirn - Die Balance macht es aus. Wenn er
sich in seine Gefühle verbeißt, gelingt nichts. Erst das kurze
Innehalten, die kritische Anfrage macht ihn stark.
Ohne
die Kraft der Sorge um andere und ohne die Kraft der Vernunft geht
gar nichts.
Wie
eine Gärtnerin, ein Gärtner, der, damit die Blumen wachsen, ihnen
gute, nährstoffreiche Erde gibt, die Pflänzchen gießt, die Sonne
auf sie scheinen lässt – und weiß, sie wachsen nicht schneller,
wenn man an den Pflänzchen zieht.
Samstag, 10. September 2005
...die dunkle Ähnlichkeit
Harry
Potter und der böse Lord Voldemort sind sich auf geheimnisvolle
Weise sehr nahe. Beide haben früh ihre Eltern verloren, beide
besitzen außergewöhnliche Fähigkeiten, wie das Sprechen der
Schlangensprache Parsel, und beide werden deshalb von anderen gefürchtet,
beide haben in ihrem Zauberstab eine Phönixfeder desselben Vogels.
Harry merkt wie nahe Hass und Liebe bei einander liegen. Wie schnell
er dem dunklen Lord ähnlich werden kann.
„Viel mehr als unsere Fähigkeiten
sind es unsere Entscheidungen, Harry, die zeigen, wer wir wirklich
sind.“, sagt der Schulleiter Professor Dumbledore zu ihm. Und
diese Entscheidungen
kommen nicht von ungefähr.
Harry merkt, wie stark die Qualität seiner persönlichen
Beziehungen zu seinen Freunden Ron und Hermine, das liebende Vermächtnis
seiner Eltern ihn davor bewahren, den negativen Anlagen in seiner
Geschichte nachzugeben.
Alle rund um Harry haben mit
Verletzungen in ihrem Leben zu kämpfen. Verletzungen können durch
Hass weiter getragen werden, wodurch sie noch mehr Schaden
verursachen. Sie können unterdrückt werden und so den Fluss des
Lebens zum Stillstand bringen. Oder sie können angenommen werden
und so für die Herausforderungen des Lebens frei machen.
Bis jetzt hat sich Harry
nicht für die Vergeltung entschieden, nicht für den blinden Hass,
nicht für all das, was ihn seinem größten Feind ähnlich machen würde.
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