Morgengedanken

Sonntag, 11. 11. 200, 6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
ORF Regionalradios
Montag 12. 11. 2001 bis Samstag, 17.11. 2001, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios

 

 

von Bischof Egon Kapellari (Graz-Seckau)

 

 

Gott suchen im Alltag (11.11.2001)

 

Spuren im Sand, im Lehm oder im Schnee sind für viele Menschen faszinierend.

Um das Suchen und Finden einer Spur geht es auch im religiösen Leben. Gemeint ist damit die Spur Gottes, die sich durch den Alltag zieht. Ein glaubender Mensch wird mit dem Suchen nach ihr ein Leben lang nicht aufhören. Gott ist ihm viele Male begegnet. Dann aber verbirgt er sich wieder. Im Herzen des Menschen bleibt eine Unruhe, die ihn zu geduldigem Suchen bewegt.

 

Aus der Wolke, die uns die Sonne Gott verdeckt, dringt aber immer wieder mindestens ein Strahl von Licht in unseren Alltag. Es ist erhellendes und wärmendes Licht, zugleich aber eine Flamme, die in sanfter Unerbittlichkeit das was Schlacke ist, ausfällen will.

 

Die Welt ist voll Licht, aber der Mensch verdeckt es mit seiner kleinen Hand, sagt ein altes Wort religiöser Weisheit. Je mehr ein Mensch von den Höhen und Tiefen des Lebens weiß, umso achtsamer wird er für die Spuren dieses göttlichen Lichtes in der Welt. Jeder Tag ohne sie wird ihm zur verlorenen Zeit.

Eine Spur dieses göttlichen Lichtes kann ein Wort sein – Wort der Heiligen Schrift oder gutes Wort eines Menschen -, kann auch der Blick oder die Gebärde eines Menschen sein, in welchen uns Gott berührt. Eine solche Spur geht auch durch den heutigen Tag.

 

 

Lebendiges Wasser (12.11.2001)

 

Irgendwo in der Wüste ist ein "Brunnen", Antoine des Saint Exupéry – in einem seiner Bücher. Wasser garantiert Leben. Nirgends wird dies deutlicher als in der Wüste.

Jesus hat einer Frau, die müde am Rande eines Brunnens saß, gesagt, er könne ihr lebendiges Wasser geben. Sie glaubte, er wolle ihr ersparen, immer wieder zum Brunnen zu kommen und aus seiner Tiefe mühsam Wasser zu schöpfen. Er meinte aber den Heiligen Geist.

 

Menschen, die müde und verdrossen sind, sagen manchmal: Ich habe keinen Geist. Sie meinen damit: Ich fühle mich leer wie eine rissige Zisterne: Ich suche eine Kraft, die mich zur Quelle werden lässt.

 

Wenn aber Christen sagen, "ich habe keinen Geist," dann ist das schon eine Art von Gebet um den Heiligen Geist. Er kann versiegte Quellen wieder zum Fließen bringen; er kann Flügel geben gegen seelische Schwerkraft; er kann bewirken, dass geistige Wüste blüht. Er ist die Energie gegen Resignation.

 

Komm, Heiliger Geist, du schöpferisch! – mit diesen Worten beginnt ein alter Hymnus der Kirche. Das ist ein Gebet besonders für den Morgen eines Tages: auch für den heutigen Morgen.

 

 

Hören und Reden (13.11.2001)

 

Bei der Taufe eines Kindes werden dessen Ohren und Zunge berührt. Dabei wird das aramäische Wort Effata gesprochen. Das heißt: Öffne dich! Man ahmt so Jesus nach, der dies getan und gesagt hat, als er einen taubstummen Mann heilte. Er hat es unter Seufzen getan.

 

Unsere Gesellschaft ist sehr geschwätzig. Viel Wichtiges bleibt dennoch ungesagt. Die Bibel spricht von einem Mann, der von sich sagt: "Gott gab mir den Mund eines Jüngers, dass ich verstehe, den Müden zu stärken durch ein gutes Wort. Er öffnet mir an jedem Morgen das Ohr, damit ich höre, wie ein Jünger hört."

 

Man braucht die Ohren des Jüngers, um die Herztöne der Menschen zu hören und die leise Stimme Gottes inmitten der Geräusche des Alltags. Man braucht den Mund des Jüngers, um Worte zu sagen, die trösten und heilen.

Viel Schwerhörigkeit und viel Sprachlosigkeit ist in der Welt. Viele Worte werden gesagt, die zerstören. Es gibt aber auch das Wort, das leben lässt. Von solcher Art sind das erste Wort eines Kindes und das letzte Wort eines Sterbenden. Und auch zwischen diesem Anfang und Ende wird vieles gesagt, von dem Menschen leben können. Das muss kein langes Wort sein. Das kürzeste Wort unserer Sprache, das Ja, kann alles sagen, was wir zu verschenken haben.

 

 

Leben unter einem Blick (14.11.2001)

 

Viele Menschen tragen in der Brieftasche ein Bild von Angehörigen oder Freunden mit sich. Ein Blick darauf – etwa in einer Arbeitspause, ist wie ein Atemholen, gibt neue Kraft.

 

Wie ein Atemholen ist für glaubende Menschen auch der Blick auf eine Ikone Christi oder auf andere religiöse Bilder. Vor einem solchen Bild fallen die Masken ab. Der Blick Christi ist zugleich reinigend und heilend; er fixiert nicht, sondern ist eine Sonne, unter der Leben gedeiht.

 

Der Mensch, zumal das Kind, entfaltet sich nicht nur im Hören und Sprechen, sondern auch im Schauen und Angeschaut werden. Das Kind gedeiht unter dem Wort und dem Blick der Mutter.

 

Viele Menschen entfalten sich nicht, weil niemand oder kaum jemand sie mit einem solchen schöpferischen Blick anschaut. Sie blühen nicht recht und sie kommen nicht zur Reife.

 

Heute werden wir wieder vielen Menschen begegnen. Viele gleichgültige Blicke werden uns treffen und vielleicht auch manch böser Blick. Wir können trotzdem freundlich zurückblicken. Vielleicht kommt dann unter unserem Blick einiges zum Blühen.

 

 

Gut wie Brot (15.11.2001)

 

Bei einigen slawischen Völkern gibt es die Redensart: Dieser Mensch ist gut wie Brot. Das Lebensmittel Brot wird so zum Symbol für einen Menschen, der wirklich Mitmensch ist; der nicht nur von dem etwas gibt, was er hat, sondern auch von dem, was er ist.

 

Unser tägliches Brot gib uns heute, beten wir im Vater unser. Wir bitten da nicht nur um die Mindestration an Nahrung die wir zum Leben brauchen, sondern auch um das Weißbrot der Gemeinschaft mit Menschen und mit Gott, um Freundschaft und um Liebe.

 

Die Erfüllung dieser Vater unser-Bitte hängt davon ab, ob viele, die so beten bereit sind, selber zu Brot für andere zu werden.

Brot für andere sein, das heißt Zeit haben für sie; einen Blick und ein Ohr haben für ihre Freuden und Leiden; mitgehen auf ihrem Weg. Brot für andere, das sind Menschen wie Mutter Teresa es gewesen ist. Von dieser Art gibt es gewiss Zehntausende inmitten der Kirche und inmitten der Menschheit überhaupt: Menschen, die an Bruchlinien der Gesellschaft stehen und von dort nicht davonlaufen, Helferinnen und Helfer für kranke alte und behinderte junge Menschen, Pioniere gegen Droge und Gewalt; Stille im Lande, die täglich die kleine Münze der Treue der Menschenfreundlichkeit neu prägen und in Umlauf bringen.

 

Wenn man Mutter Teresa gefragt hat woher ihr die Kraft zukomme, so geduldig Brot für andere nicht nur auszuteilen, sondern selbst zu sein, dann hat sie gesagt: "aus der Kommunion mit Christus, der sich in der Gestalt des Brotes gibt."

 

 

Wohnen (16.11.2001)

 

Wo wohnst du? – haben junge Menschen Jesus gefragt. Wohnen ist ein Urbedürfnis des Menschen. Ich möchte einen Ort haben, wohin ich meinen Kopf legen kann, singt ein amerikanisches Negerlied, das vielen jungen Leuten vertraut ist und ihren Wunsch nach Bergung, nach Heimat ausdrückt.

 

Wo sind wir daheim? Diese Frage zielt zuletzt nicht auf einen Ort, sondern auf Menschen, bei denen wir wohnen können. Daheim bin ich dort, wo ich verstanden werde, hat mir ein Jugendlicher gesagt.

 

Manche Menschen verstehen es, um sich herum Heimat zu schaffen. Andere leiden darunter, dass sie zu oft allein sind. Wer Menschen Heimat geben will, der muss sich zurücknehmen, der muss aufhören, sich zum Mittelpunkt seiner kleinen Welt zu machen. Er muss relativ werden.

 

Wo wohnst du? Wer Christus so fragt, dem antwortet er: Ich wohne in deinen Mitmenschen, wenn sie mir Herberge geben. Ich wohne auch bei dir, wenn du mich einlässt in deinen Lebensraum. Und ich wohne zwischen dir und den anderen. Ich bin die Brücke zwischen euch, die Klammer, die euch verbindet.

 

Wer Christus bei sich einlassen will, der muss auf ein leises Anklopfen achten können.

 

 

Geduld (17.11.2001)

"Ich wünsche Ihnen einen langen Atem," sagen wir manchmal zu Menschen, denen moralisch-spirituell die Luft auszugehen droht.

Langer Atem, das ist auch die Kraft zur Geduld.

 

Sie ist eine Frucht der Weisheit, die vertraut ist mit dem Rhythmus von Aussaat und Ernte, von Einatmen und Ausatmen.

 

Der lange Atem der Geduld – das ist für den christlichen Glauben eine Gabe des Heiligen Geistes. Sei du mein Atem, Heiliger Geist, hat Augustinus gebetet.

 

Zahlreich sind alle Tage die Herausforderungen an die menschliche Kraft zur Geduld. Eben- falls Augustinus hat litaneiartig aufgezählt, was ihn als Bischof täglich zur Geduld herausforderte: "Unruhestifter zurechtweisen, Kleinmütige trösten, sich der Schwachen annehmen, Gegner widerlegen, sich vor Nachstellern hüten, Träge wachrütteln, Eingebildeten den rechten Platz anweisen, Streitende besänftigen, Gute ermutigen, Böse ertragen und – ach – alle lieben."

 

Mit einem Seufzer also schließt diese Aufzählung von Versuchungen zur Ungeduld.

Geduld kriecht nicht. Sie lehrt zu sitzen; lehrt kleine Schritte zu tun und auch vor Gott zu knien. Im Leben ist beides nötig: das ungeduldige, entschlossene Zugreifen und das geduldige Erwarten. Beides hat seine Zeit – auch am heutigen Tag.