News 02. 05. 2006

Chef des deutschen Juden-Zentralrats Paul Spiegel gestorben

Der langjährige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, ist tot. Zahlreiche Religionsvertreter und Politiker würdigten am Wochenende Spiegels Einsatz gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit.

Wie der Zentralrat am Sonntag bekannt gab, ist der 68-Jährige nach langer, schwerer Krankheit in Düsseldorf gestorben. Spiegel befand sich seit mehreren Wochen nach Herzproblemen im Krankenhaus. Zudem war eine Vorstufe von Leukämie festgestellt worden. Mitte April hatte der Zentralrat mitgeteilt, es gehe Spiegel wieder besser. Er sei nach einem längeren Koma wieder zu Bewusstsein gekommen.

KZ-Überlebender

Mit Spiegel starb der möglicherweise letzte Zentralratspräsident, der ein Überlebender des Holocaust war. Am 31. Dezember 1937 wurde er in Warendorf im Münsterland geboren. 1939 floh die Familie vor dem Naziterror nach Belgien, Bauern versteckten den kleinen Jungen in der Nähe von Namur. Sein Vater überlebte die Konzentrationslager Buchenwald, Auschwitz und Dachau, er kehrte 1945 nach Warendorf zurück. Paul Spiegel kam mit seiner Mutter kurz nach Kriegsende aus Belgien in seine Heimatstadt zurück. Die Spuren seiner Schwester Rosa, die 1942 von den Nazis verschleppt wurde, verloren sich im KZ Bergen-Belsen.

Seit 2000 Vorsitzender des Zentralrats

Seine berufliche Laufbahn begann er 1958 als Redakteur bei der "Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung", später arbeitete Spiegel als politischer Korrespondent bei verschiedenen Zeitungen. 1986 eröffnete er in Düsseldorf eine internationale Künstler-Agentur. Schon früh begann sein Engagement im Zentralrat der Juden. Seit den 60er Jahren übernahm er verschiedene Ämter im Dachverband der jüdischen Gemeinden in Deutschland, bis er 1993 einer der zwei stellvertretenden Präsidenten des Zentralrats wurde. Nach dem Tod des von ihm hoch verehrten Ignatz Bubis im August 1999 trat er dessen Nachfolge an. Am 9. Januar 2000 wählte ihn das Zentralratspräsidium zum neuen Präsidenten. Die Integration der jüdischen Neueinwanderer, die vor allem aus der früheren Sowjetunion und Osteuropa nach Deutschland kamen, nannte er damals als seine vorrangige Aufgabe.

"Der zornige Versöhner"

Unermüdlich warnte Spiegel vor Gleichgültigkeit angesichts der Zunahme von rechtsextremen Gewalttaten und Antisemitismus in Deutschland. Große Aufmerksamkeit erregte der "zornige Versöhner", wie ihn eine Zeitung betitelte, am 9. November 2000 auf einer Kundgebung in Berlin anlässlich des Jahrestags der Pogromnacht 1938. Er forderte deutliche Signale der nichtjüdischen Bevölkerung, dass sie "uns und unsere jüdischen Gemeinden in diesem Land haben wollen". Gleichzeitig übte er scharfe Kritik an der von der CDU in Gang gebrachten Diskussion über die "deutsche Leitkultur". In seine Amtszeit fielen die Aushandlung der Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter durch die Wirtschaft und die Unterzeichnung eines Staatsvertrags, der der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland eine jährliche Unterstützung von drei Millionen Euro zusicherte.

Warnung vor neuen Rechten

Das "braune Gedankengut" sei "längst wieder salonfähig" geworden, warnte Spiegel 2004 nach den Wahlerfolgen von DVU und NPD in Brandenburg und Sachsen.  Es gebe überall in der Gesellschaft Sympathisanten, "bis hinein in die vermeintlich demokratische Mitte der etablierten Parteien". Seine Aufgabe im Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus sah der Vater von zwei Töchtern noch lange nicht als erfüllt an: Bis zuletzt hatte er vorgehabt, im November für eine weitere Amtszeit an der Spitze des Zentralrats anzutreten.

Israel würdigt Spiegel

Die Aufgaben Spiegels im Zentralrat wurden von seinen Stellvertretern Charlotte Knobloch und Salomon Korn übernommen. Der Generalsekretär des Gremiums, Stephan Kramer sagte, die Nachfolgefrage werde erst nach der einmonatigen Trauerzeit geklärt. Kramer ging davon aus, dass noch vor den turnusmäßig anstehenden Vorstandswahlen im November ein Nachfolger gewählt wird.  Die Beerdigung Spiegels soll im engsten Kreis auf dem jüdischen Friedhof in Düsseldorf stattfinden. Zu der zentralen Trauerfeier am 21. Mai werden dann mehr als tausend Gästen erwartet, neben Merkel und Köhler auch namhafte Vertreter der israelischen Regierung. Israels Staatspräsident Moshe Katzav nannte Spiegel einen "großen Patrioten", der sein Leben dem "Kampf für das jüdische Volk" gewidmet habe. Israels Botschafter in Deutschland, Schimon Stein, betonte, Spiegel habe stets die deutsche Öffentlichkeit über die israelische Politik zu informieren versucht und vor einseitiger Kritik gewarnt.

Merkel: "Er mahnte, wo viele stumm blieben"

Führende Vertreter von Politik und Kirchen in Deutschland Paul Spiegel am Wochenende als große Persönlichkeit und Brückenbauer zwischen den Religionen gewürdigt. Bundespräsident Horst Köhler und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hoben Spiegels Verdienste im Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus hervor. "Er mahnte, wo viele stumm blieben", erklärte Merkel. "Sein Einsatz für Zivilcourage, für Toleranz und gegenseitigen Respekt und gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus hat Maßstäbe gesetzt." Köhler betonte, Spiegel habe sich nicht von Deutschland abgewandt, sondern sich dafür eingesetzt, "dass wir Deutsche die richtigen Lehren aus den Nazi-Verbrechen ziehen".

Beck betont die "große moralische Autorität"

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) würdigte Spiegels Engagement für die deutsch-israelische Verständigung. Der Verstorbene habe auch geholfen, "Deutschlands Ansehen in der Welt entscheidend zu fördern." Der designierte SPD-Vorsitzende Kurt Beck hob die "große moralische Autorität" Spiegels hervor. CSU-Chef Edmund Stoiber betonte im ZDF, dass Spiegel "für Deutschland und die deutsch-israelische Aussöhnung alles tat, was er nur tun konnte".  FDP-Chef Guido Westerwelle erklärte: "Er war ein Mann des Dialogs, der den Gesprächsfaden auch über Meinungsunterschiede hinweg nie abreißen ließ." Die Grünen hoben hervor, Spiegel habe immer gewusst, "wann er seine mahnende Stimme erheben musste, um Missstände anzuprangern". Auf dem Linkspartei-Parteitag in Halle erhoben sich die Delegierten zu einer Schweigeminute.

Huber: Ein "bewundernswerter deutscher Patrioten"

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Bischof Wolfgang Huber, würdigte den Verstorbenen als einen "bewundernswerten deutschen Patrioten". Huber erinnerte am Sonntag in Berlin an die gute Zusammenarbeit und die offenen Dialoge mit dem Verstorbenen. "Paul Spiegel war ein wichtiger Gesprächspartner im gemeinsamen Engagement für eine freiheitliche Gesellschaft, in der diese Freiheit in Verantwortung gelebt werden kann", sagte Huber.

Lehmann: "Ein hoch geschätzter Partner"

Mit Trauer hat die katholische Kirche in Deutschland auf den Tod des Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, reagiert. "Wir haben in Paul Spiegel immer einen offenen und glaubwürdigen, menschlich überzeugenden und versöhnungsbereiten Repräsentanten des Judentums in unserem Land gefunden und bedauern aus ganzem Herzen seinen Verlust", hieß es am Sonntag in einer Erklärung von Karl Kardinal Lehmann, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz. "Er war auch deswegen ein hoch geschätzter Partner, weil er seine Überzeugungen als Jude unbeirrt ins Spiel brachte und dennoch zutiefst ein Mann der Offenheit und der Toleranz war, mit großem Verständnis auch für die Christen", sagte Lehmann in Mainz. Die Bischöfe sprachen Spiegels Witwe, seiner Familie und dem Zentralrat der Juden in Deutschland ihre Anteilnahme aus.

Muslime würdigen Spiegel als Anwalt "auch gegen Islamfeindlichkeit"

Spiegel wäre in seinem Engagement gegen Antisemtismus und Rassismus auch entschieden gegen jede Islamfeindlichkeit in Deutschland aufgetreten, erklärte der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD), Ayyub Axel Köhler, am Sonntag in Köln. "In den vielen Begegnungen und Gesprächen erlebten wir Paul Spiegel als führenden jüdischen Repräsentanten, dem der Schutz und die Integrität aller Minderheiten in Deutschland ein zentrales Anliegen war", betonte Köhler. Dafür habe Spiegel in der Öffentlichkeit immer wieder deutlich Position bezogen, sagte der Vorsitzende des ZMD. Zuletzt sei dies beim so genannten Muslim-Test des Landes Baden-Württemberg der Fall gewesen.

 
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