News 12. 07. 2006 |
"Öffnung der Vatikan-Archive
wichtig für Österreich"
Der Grazer Kirchenhistoriker Liebmann
erwartet von der Freigabe der Archivbestände aus der Zeit Pius XI. Klärung
offener Fragen zur Geschichte der Ersten Republik und des
"Anschlusses".
Der Vatikan hatte angekündigt,
Archivbestände über die Zeit Pius XI. (1922 – 1939) zu öffnen.
Geschehen soll dies am 18. September. Der Grazer Kirchenhistoriker em. Prof.
Maximilian Liebmann erhofft sich davon "äußerst wichtige Ergänzungen"
zu bis heute offenen historischen Fragestellungen. Neben der international
mit großer Aufmerksamkeit verfolgten Frage, inwiefern Pius XI. "die
Gefährlichkeit der Nationalsozialisten bereits früh erkannte", sei
die Öffnung der Archive auch für die österreichische Geschichte "von
größter Wichtigkeit", so Liebmann im "Kathpress"-Gespräch. „Bestände aufarbeiten“
Historisch verfüge man
zwar bereits über ein breites Wissen über die Zeit der Ersten Republik, für
ein ausgewogenes historisches Bild fehle es allerdings noch an "unter
Umständen äußerst wichtigen Ergänzungen" hinsichtlich der Einschätzungen
und Wertungen, die Rom im Blick auf die Zeit der Ersten Republik bis zum
"Anschluss" vorgenommen habe. Aus diesem Grund gelte es die Archivöffnung
im September sehr genau zu verfolgen und die Chance wahrzunehmen, um die
entsprechenden Bestände aufzuarbeiten. Vier Forschungsschwerpunkte
Konkret sieht Liebmann
aus österreichischer Sicht vier Forschungsschwerpunkte: die Frage, wie die
Unruhen im Anschluss an den Justizpalastbrand von 1927 in Rom aufgenommen
und beurteilt wurden; die Zeit des "christlichen Ständestaates"
von 1934; die Beurteilung der für die Entwicklung des österreichischen
Katholizismus so wichtigen Pastoralkonferenz von 1935; und letztlich die
Ereignisse rund um den "Anschluss". Rolle des damaligen Bundeskanzlers
Nicht völlig geklärt
sei bis heute die Rolle des damaligen Bundeskanzlers, Prälat Ignaz Seipel,
nach dem Justizpalastbrand vom Juli 1927. So stehe er bis heute im Verdacht,
den Schiessbefehl gegen die Demonstranten gegeben zu haben oder aktiv
beteiligt gewesen zu sein. Daraufhin sei Seipel "zum Blutprälaten
abgestempelt worden", so Liebmann. Dass diesbezüglich keine
Aufzeichnungen in den vatikanischen Archiven lagern, hält der Historiker für
"undenkbar". Interessant sei in diesem Fall insbesondere die
Frage, wie Seipel die Ereignisse rund um den Justizpalastbrand Rom gegenüber
erklärt habe. „Wissen um die Wertung“
Weiters sei die Zeit
des "Christlichen Ständesstaates" ab 1934 und des vorausgehenden
"partiellen Schutzbundaufstandes" von großem historischen
Interesse, so Liebmann. Im Zusammenhang mit dem 12. Februar 1934 gehe es
unter anderem um die acht Hinrichtungen von Schutzbündlern. Auch seien noch
einige Leerstellen zu den Konkordatsverhandlungen zwischen 1932 und 1934 zu
klären. Zwar sei der historische Ablauf auch hier zum größtenteils
bekannt, das Wissen sei jedoch um die Wertung Roms "ergänzungsbedürftig". Umstrukturierung des österreichischen
Katholizismus
Für die Entwicklung
des österreichischen Katholizismus "höchst gravierend" sei die
Pastoralkonferenz von 1935 gewesen. So brachte diese Konferenz das Ergebnis
einer Umstrukturierung des österreichischen Katholizismus, der fortan nicht
mehr auf Vereinsbasis organisiert wurde, sondern auf der Basis der
Katholischen Aktion. Auch diese Umstrukturierung sei von Rom genau
beobachtet worden und auch hier sei mit Spannung die Wertung dieser Maßnahmen
durch den Heiligen Stuhl zu erwarten. Vorgänge um den "Anschluss"
Sein eigenes Augenmerk
wird Liebmann jedoch auf die Vorgänge um den "Anschluss" legen,
also die Zeitspanne von März bis Oktober 1938. Dabei sei bis heute
weitgehend ungeklärt, inwiefern Rom informiert war bzw. bereits im
Hintergrund aktiv wurde. Diese Zeit sei unter anderem deswegen von
besonderer Bedeutung, da sie bereits als "Zeit Pius XII." zu
bewerten ist, der zu dieser Zeit Kardinalstaatssekretär war und über
dessen Schreibtisch ein Großteil der Papiere und Entscheidungen lief. Innitzer-Besuch bei Hitler
Im Mittelpunkt der Forschung steht dabei die bis heute in ihrer historischen Bewertung umstrittene Figur des damaligen Wiener Erzbischofs, Kardinal Theodor Innitzer. Der Kardinal hatte am 15. März 1938 Hitler in Wien besucht. Von der Öffnung der vatikanischen Archive erhofft sich Liebmann eine Antwort auf die Frage, wie es zu diesem Besuch kam. Derzeit gebe es in der wissenschaftlichen Literatur zwei Erklärungsmodelle: das eine besagt, dass Innitzer diesen Besuch aus eigenem Antrieb bzw. von seiner Umgebung und dem deutschen Botschafter Franz von Papen bedrängt als "Höflichkeitsbesuch" abstattete. Das zweite Modell vermutet, dass Innitzer "einem Wink aus Rom" gefolgt sei. Es gebe hier ein weites Feld der Spekulation, so Liebmann, "doch die Lösung dafür, der Schlüssel, kann nur im Vatikanischen Archiv liegen".
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