News 15. 09. 2006

Kardinal Jean-Marie Lustiger wird 80

"Ich bin Kardinal, Jude, Sohn eines Einwanderers", brachte er einmal auf den Punkt, was andere immer wieder zum Widerspruch reizte: Jean-Marie Lustiger, der langjährige Erzbischof von Paris, wird am Sonntag 80 Jahre alt. Ein Korrespondentenbericht von Christoph Lennert / "Kathpress".

Lustiger ist das Kind polnisch-jüdischer Immigranten, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Frankreich gekommen waren. Während der deutschen Besatzung wurden seine Eltern deportiert, seine Mutter wurde 1943 im Konzentrationslager Auschwitz umgebracht. Lustiger überlebte, da er von einer Familie in Orleans aufgenommen wurde. Er ist der Cousin des Schriftstellers und Philosophen Arno Lustiger. Er studierte am "Lycee Montaigne" in Paris, dann in Orleans und später an der Sorbonne. In seinen Studienjahren war er aktiv in der christlichen Studentengemeinde. Nachdem er ein Jahr als Mechaniker in Decazeville im Aveyron in Südwestfrankreich gearbeitet hatte, trat er in das Seminar der Karmeliten in Paris ein. Er schloss sein Theologiestudium am "Institut Catholique" ab und erwarb das Lizenziat in Philosophie an der Sorbonne. Am 17. April 1954 wurde er zum Priester geweiht.

Seit 1979 Bischof

Als Studentenkaplan arbeitete er am "Centre Richelieu" in der spirituellen Erneuerung. 1969 wurde er Pfarrer von Sainte-Jeanne-de- Chantal, wo er mit seiner Dynamik und seinen pastoralen Initiativen von jungen und alten Menschen geschätzt wurde. Seine Predigten waren bekannt und wurden teilweise in Buchform herausgegeben. Am 10. November 1979 ernannte Papst Johannes Paul II. Lustiger zum Bischof von Orleans. Die Bischofsweihe erfolgte am 18. Dezember 1979 durch Kardinal Francois Marty. Am 2. Februar 1981 trat er die Nachfolge von Kardinal Marty als Erzbischof von Paris an.

"Das Tragen der Bürde der Gesamtkirche"

Als ein steter Verfechter der Menschenrechte sagte Lustiger 1983 anlässlich seiner Ernennung zum Kardinal, dass er diese Würde mehr als Verantwortung denn als Ehre sehe, da sie noch mehr "das Tragen der Bürde der Gesamtkirche" bedeute. 1995 wurde Lustiger als Nachfolger von Kardinal Albert Decourtray in die "Academie Francaise" gewählt. Am 11. Februar 2005 legte Jean-Marie Lustiger aus Krankheitsgründen die Leitung der Erzdiözese Paris nieder. Zu seinem Nachfolger ernannte Johannes Paul II. den Erzbischof von Tours, Andre Armand Vingt-Trois.

"Nicht wirklich französischer Herkunft"

Als Lustiger das Amt des Erzbischofs von Paris antrat, gab es Reaktionen, die den Abgrund der europäischen Verirrungen des 20. Jahrhunderts offenbarten. "Man kann nur staunen, dass an der Spitze der größten französischen Diözese einer steht, der nicht wirklich französischer Herkunft ist", so formulierte etwa der traditionalistische Erzbischof Marcel Lefebvre. Und er fügte noch spitz hinzu: "Aber das ist noch gar nichts im Vergleich zu dem, was er tun und sagen wird".

Die jüdische Herkunft

Seine jüdische Herkunft hat der 1926 als Sohn eines Strickwaren-Händlers in Paris geborene Lustiger nie verleugnet. Mit 14 Jahren ließ sich Aaron taufen und nahm den Namen Jean-Marie an. Die Eltern begegneten dem Plan der Kinder - denn auch die vier Jahre jüngere Arlette trat zur katholischen Kirche über - mit Skepsis. Zwei Jahre sprachen Vater und Sohn nicht miteinander, als Lustiger nach Kriegsende verkündete, Priester werden zu wollen. Die jüdische Herkunft - das bedeutet in Lustigers Leben auch Auschwitz, die nie vernarbende Wunde: Im September 1942 wurde seine Mutter (wie so viele jüdische Menschen) ins französische Abschiebelager Drancy gebracht; die Sicherheitsbehörden des Vichy-Frankreich kooperierten mit den rassistischen Wahnvorstellungen der Deutschen. Einige Monate später starb sie wie hunderttausende andere im Gas von Auschwitz. Schon in den dreißiger Jahren hatte der junge Lustiger bei Sprachreisen nach Deutschland erlebt, welcher Geist dort herrschte.

"Wer von ihnen ist schuldig?"

Bevor er 1982 zum Katholikentag nach Düsseldorf fuhr, erinnerte der Erzbischof seine deutschen Zuhörer in einer Rundfunkansprache an eine seiner ersten Nachkriegsreisen nach Deutschland: "Wer von ihnen ist schuldig?", habe er sich gefragt, als er in den fünfziger Jahren auf dem Münchner Bahnhof die Passanten beobachtete. Folgerichtig war Lustigers letzter internationaler Auftritt als Erzbischof die Teilnahme an den Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, wo er im Jänner 2005 Papst Johannes Paul II. vertrat.

Ein "Bulldozer"

Biografen beschreiben Lustiger als "Bulldozer", als impulsiv, mitunter sogar autoritär. Gepaart sind diese Eigenschaften mit Arbeitseifer und tiefer Frömmigkeit. Auf ihn gehen zahlreiche Neubauten von Kirchen in Paris zurück. Und der auch von Bischofskollegen zunächst kritisch beäugte katholische Fernsehsender KTO, der über Kabel, Satellit und Internet zu empfangen ist, wurde zu einem viel beachteten, wenngleich auch finanziell wackeligen Medium der katholischen Kirche.

Eine prägende Gestalt

Lustiger machte sprunghaft Karriere: 1979 war der ehemalige Studentenseelsorger vom Pfarrer in Paris zum Bischof von Orleans geworden. Schon ein Jahr später aber wurde er zur Überraschung vieler Erzbischof von Paris. Obwohl der Titel des Primas aus historischen Gründen mit Lyon verknüpft ist, kann der Einfluss des Pariser Erzbischofs nicht hoch genug eingeschätzt werden, auch im laizistischen Frankreich, das doch zugleich "die älteste Tochter der Kirche" ist. Lustiger verstand es, diesen Einfluss bis auf internationale Ebene zu nutzen - so etwa, als er im Konflikt um das Karmelitinnenkloster beim ehemaligen KZ Auschwitz vermittelte. Sein Rücktritt als Pariser Erzbischof wurde 2005 angenommen - fast ein Vierteljahrhundert hatte Lustiger die Erzdiözese geprägt. Als Abschiedsgeschenk überreichten Vertreter seiner Erzdiözese ihm ein Blanko-Ticket, mit dem er zwei Jahre lang unbegrenzt Flüge in die ganze Welt unternehmen kann. Öffentliche Auftritte scheut er nicht. Betritt Lustiger einen Raum, so füllt er ihn aus, auch wenn seine Stimme krankheitsbedingt geschwächt ist. Er verschafft sich Gehör und braucht dafür keine laute Stimme. Seine leisen Worte, etwa beim Trauergottesdienst für Francois Mitterrand, bleiben den Hörern in Erinnerung.

 

 

 

 

 
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