News 17. 12. 2007

"Wie eine Heimkehr" - Einige Polen entdecken ihre jüdischen Wurzeln

Für die Polin Agnieszka Kwasniewska war es ein Erweckungserlebnis: "Als ich die Synagoge betrat, war das so, als hätte ich schon immer hierher gehört", sagt die 37-Jährige über ihren Übertritt zum Judentum: "Es war, als käme ich nach Hause."

In Polen, wo einst Millionen von Juden lebten, führte das Judentum nach dem Holocaust und dem Antisemitismus unter kommunistischer Herrschaft Jahrzehnte ein Schattendasein. Erst seit kurzem begeben sich immer mehr Polen auf die Suche nach ihren jüdischen Wurzeln - in einem Land, in dem weit über 90 Prozent der Bewohner Katholiken sind.

Familiengeschichte

Wie bei vielen Gleichgesinnten begann auch für Kwasniewska der Weg zum Judentum mit Fragen an ihre Familiengeschichte: "Wir haben nie über meine Vorfahren gesprochen", erinnert sie sich: "Ganz so, als ob da etwas zerbrochen war." Als sie zwölf war, erzählte ihr die Großmutter, dass sie sich während des Zweiten Weltkriegs verstecken musste, weil sie "wie eine Jüdin aussah". Später fragte sie ihren Vater, doch der antwortete bloß: "Das sind alte Geschichten - wir sind Katholiken." Schätzungen zufolge gibt es in der polnischen Bevölkerung von rund 38 Millionen Menschen derzeit nur noch zwischen 3500 und 15.000 Juden. Fast unmöglich einzuschätzen ist es, wie viele Polen jüdische Wurzeln haben.

Jüdisches Zentrum Warschau

Im elften Jahrhundert kamen die Juden nach Polen, um vor den Pogromen in Westeuropa zu fliehen - vor Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten rund dreieinhalb Millionen im Land. Allein in der Hauptstadt Warschau gab es 400.000 Juden. Warschau hatte damit den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil sämtlicher europäischer Städte und war nach New York das größte jüdische Zentrum weltweit. Nach ihrem Einmarsch in Polen 1939 jedoch machten die Nazis aus dem jüdischen Viertel Warschaus ein Ghetto, isolierten die Bewohner und brachten sie schließlich um.

Nur 10% überlebten

Die Hälfte der sechs Millionen von den Nationalsozialisten ermordeten Juden stammte aus Polen. Die meisten von ihnen kamen in den NS-Konzentrationslagern in dem besetzten Land ums Leben. 1945 belief sich die Zahl der überlebenden Juden in Polen auf nur noch 280.000 Menschen. Viele von ihnen emigrierten in die USA oder nach Israel, entweder gleich nach Kriegsende oder zu den Hochzeiten des Antisemitismus im Polen der 50er und 60er Jahre. Wer seine jüdische Herkunft während des Holocaust geheim halten konnte und in Polen blieb, der bekannte sich oft auch nach Kriegsende nicht offen zu den Wurzeln, um die Nachkommen vor Verfolgung zu schützen. Wieder andere entstammten Familien mit einem jüdischen und einem katholischen Elternteil und hatten sich nie ganz für eine religiöse Identität entschieden.

Coming Out

Er habe mit 13 von seiner Abstammung erfahren, sagt der 20-jährige Maciej Krasniewski. Damals habe er die Herkunft seines Familiennamens erforscht: "Wenn ein polnischer Nachname auf '-ski' endet, kann das auf eine adlige Abstammung hindeuten, deshalb habe ich nach meinen Wurzeln gesucht." Als er seinen Vater fragte, habe dieser ihn über den wahren Familiennamen aufgeklärt: Kirschenbaum. Krasniewskis Großvater überlebte die Judenverfolgung, 1954 nahm die Familie einen polnischen Namen an. Krasniewski sagt, es habe fünf Jahre gedauert, bis er zum Judentum übergetreten sei - auch aus Angst vor Anfeindungen. Erst bei einer Reise nach Prag sprang bei ihm und seinem Zwillingsbruder der Funke über: "Wir standen mitten im jüdischen Viertel von Prag und entschlossen uns zum Übertritt." Anfangs habe es deshalb Familienzwist gegeben - ältere Angehörige hätten sie vor einem Schicksal bewahren wollen, dem sie selbst nur knapp entronnen seien. Der Großvater habe sich dann für den Plan der Enkel erwärmt und ihnen von seinen im Holocaust umgekommenen Brüdern und Schwestern erzählt. Krasniewski hat noch immer Hemmungen, sich öffentlich mit der Kippa zu zeigen - aber demnächst will er den Schritt wagen: "Das ist wie ein Coming Out - wir sind da und werden auch nicht weggehen - also gewöhnt euch besser daran."

 
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