News 12. 03. 2008

Türkei - Ein Islam für das 21. Jahrhundert

Hinter den Mauern eines modernen Verwaltungsgebäudes am Stadtrand von Ankara tut sich Unerhörtes. Experten des staatlichen Religionsamtes der Türkei arbeiten gemeinsam mit Islamwissenschaftlern daran, einen Islam für das 21. Jahrhundert zu formen.

Das Religionsamt lässt die in Jahrhunderten überlieferten Taten und Anweisungen des Propheten Mohammed durchforsten. Ziel ist ein zeitgemäßes Verständnis der Religion - und das Aussieben von frauenfeindlichen, gewaltverherrlichenden oder rassistischen Passagen.

Keine „Reformation wie im Christentum“

Das Reformprojekt, das vor zwei Jahren begann und im Laufe des Jahres abgeschlossen werden soll, wird den Islam für das 21. Jahrhundert aufbereiten, sagt die Religionsbehörde. Eine Reformation wie im Christentum stehe aber nicht bevor. Trotzdem sorgt das Projekt schon jetzt für Aufregung. Behördenchef Ali Bardakoglu musste bereits Presseberichte dementieren, sein Amt wolle den Islam grundlegend ummodeln.

Verständnis der „Hadithe“

Bei dem Reformprojekt geht es um die so genannten Hadithe, den Kanon überlieferter Aussagen, Befehle, Verbote und Taten von Mohammed selbst. Neben dem Koran selbst sind die Hadithe, deren Aufzeichnung erst im neunten Jahrhundert und damit rund 200 Jahre nach dem Tod Mohammeds begann, das zweite wichtige Fundament des Islam. So bilden die Hadithe die Grundlage für die Scharia, das islamische Rechtssystem. Die Frage sei nun, wie die teils über tausend Jahr alten Hadithe "von uns Muslimen im 21. Jahrhundert verstanden werden müssen", sagt Bardakoglu.

Religionsbehörde schreibt Freitagspredigten

In der säkulären türkischen Republik ist die Religionsbehörde für die Auslegung des Islam zuständig. Bardakoglus Amt bezahlt alle Imame und Muezzine in den rund 80.000 Moscheen der Türkei, schreibt die Freitagspredigten, berechnet die Gebetszeiten und stellt sogar islamische Rechtsgutachten aus, in denen es häufig um die Verbindung islamischer Glaubenssätze mit dem modernen Alltag geht. So stellte die Behörde fest, dass ein gläubiger Muslim ein Opfertier beim traditionellen Opferfest mit seiner Kreditkarte bezahlen darf, sofern sein Konto nicht überzogen ist.

Löschung frauenfeindlicher Aussagen

Weniger auskunftsfreudig ist die Behörde beim Hadith-Projekt. Offiziell bewahrt die Behörde Stillschweigen über die Arbeit der rund 40 beteiligten Experten. Nach Presseberichten sollen alle Hadithe aus dem Kanon gelöscht werden, die nicht eindeutig auf Mohammed zurückgehen - zum Beispiel frauenfeindliche Aussagen wie jene, dass die meisten Menschen in der Hölle Frauen sind oder dass Frauen den Männern geistig unterlegen sind. Behördenchef Bardakoglu ist als Reformer bekannt. Erst vor einigen Monaten kündigte er an, dass alle 81 Provinzen der Türkei weibliche Geistliche erhalten sollen.

Erläuterung im historischen Kontext

Auch Hadith-Passagen, in denen es um die angebliche Überlegenheit der Araber geht, sollen aus dem Kanon entfernt werden, berichten die Zeitungen. Hauptziel sei es, die verschiedenen Hadithe in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu erläutern, sagt der Istanbuler Islamwissenschaftler Mustafa Ertürk: "Wie waren sie damals, wie sind sie heute zu verstehen?"

Probleme mit „kulturellem Gepäck“

In der islamischen Welt, die den Koran als unveränderliches Gotteswort versteht, ist die Hadith-Revision von Ankara ein sehr heikles Thema. Dass die Religionsbehörde und die beteiligten Experten nicht gerne von einer Reform sprechen, ist deshalb kein Wunder, sagt der Journalist und Islam-Kenner Mustafa Akyol. Das Wort "Reform" suggeriere, dass es Probleme mit den göttlichen Quellen des Islam gebe und dass diese Probleme jetzt von Menschen gerichtet werden müssten. Kein richtiger Muslim würde so etwas auch nur denken. "Aber ein Gläubiger kann sehr wohl akzeptieren, dass es Probleme mit dem 'kulturellen Gepäck' des Islam gibt, und dass es Zeit ist, sich dieser Probleme anzunehmen." Bis die Ergebnisse der Hadith-Revision veröffentlicht werden, kann niemand wissen, ob die Muslime in der Türkei und anderswo die Arbeit der Ankaraner Experten gutheißen - oder vielleicht als Diktat einer säkulären Behörde zurückweisen. Für Akyol und viele andere steht aber schon jetzt fest: Das Hadith-Projekt ist für den Islam "ein großer Schritt".

 
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