News 03. 11. 2009

EGMR: Kreuz im Klassenzimmer verletzt Religionsfreiheit

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am Dienstag festgestellt, dass Kruzifixe in Klassenzimmern öffentlicher Schulen nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar sind. In einem Verfahren gegen die Republik Italien stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Protokoll 1, Artikel 2 (Recht auf Bildung) in Verbindung mit Artikel 9 (Religionsfreiheit) der EMRK fest. Die Klage war von der aus Finnland stammenden italienischen Bürgerin Soile Lautsi eingereicht worden, die 2002 vom Gymnasium "Vittorino da Feltre" in Abano Terme - wo ihre beiden Kinder die Schule besuchten - verlangt hatte, dass die Kreuze aus den Klassenzimmern verschwinden müssten.

Das Urteil des EGMR sieht vor, dass die Republik Italien der Klägerin 5.000 Euro als Ausgleich für den "moralischen Schaden" zahlen muss. Die Pressestelle des Gerichtshofs betonte ausdrücklich, dass es sich um das erste Urteil im Hinblick auf die Anbringung religiöser Symbole in Klassenzimmern handle.

Recht auf Religionsfreiheit wird verletzt

Die Entscheidung des Menschenrechtsgerichtshofs erfolgte einstimmig. Die Richter erklärten, Kruzifixe seien eindeutig ein religiöses Symbol. Dies könne für Kinder, die anderen oder keiner Religion angehören, "verstörend" wirken. Das Recht, ohne Religion zu sein, gehöre zur Religionsfreiheit. Der Staat müsse dieses Recht besonders schützen. Besonders im Bereich von Bildung und Erziehung müsse der Staat auf die konfessionelle Neutralität achten, erläuterten die Richter. Mit dem Kreuz werde das Recht der Eltern eingeschränkt, ihre Kinder gemäß ihren Überzeugungen zu erziehen. Auch das Recht der Kinder, zu glauben oder nicht zu glauben, werde dadurch verletzt.

Der EGMR gab damit einstimmig einer Italienerin Recht, die bis in höchste Instanzen mit dem Versuch gescheitert war, ihre Kinder in Räumen ohne religiöse Symbole unterrichten zu lassen. Das Urteil löste in Italien Entrüstung aus. Die Regierung in Rom kündigte Beschwerde gegen die Entscheidung an.

Italienisches Gericht: Kreuz ist Symbol des Staates

Soile Lautsi hatte im Schuljahr 2001/02 von der Schule ihrer damals 11 und 13 Jahre alten Kinder in Abano Terme verlangt, die Kreuze im Klassenraum zu entfernen. Sie berief sich dabei auf ein Urteil des italienischen Kassationsgerichts, dem zufolge Kreuze in Wahlbüros gegen die religiöse Neutralität des Staates verstoßen. Die obersten Richter Italiens wiesen die Klage 2006 jedoch ab, weil das Kreuz ein Symbol der Geschichte und Identität des Landes sei. Der Staat argumentierte, das Kreuz sei als "Flagge" der einzigen in der Verfassung erwähnten Religion auch ein Symbol des Staates. Der EGMR wies dies zurück. Es sei nicht zu erkennen, wie das Zeigen eines "Symbols, das vernünftigerweise mit dem Katholizismus verbunden werden kann", dem für eine demokratische Gesellschaft wesentlichen Bildungspluralismus dienen könne.

Unterrichtsministerin Gelmini: "Ideologisch beeinflusstes Gericht"

Die italienische Regierung will laut Richter Nicola Lettieri, der Italien vor dem Straßburger Gericht verteidigte, Einspruch gegen das Kruzifixverbot erheben. Scharfe Kritik an dem Urteil übte Italiens Unterrichtsministerin Maria Stella Gelmini:"Das Kreuz in den italienischen Schulklassen ist ein Symbol unserer Tradition. Niemand, nicht einmal ein ideologisch beeinflusstes Gericht, wird uns unserer Traditionen berauben und unsere Identität auslöschen", so Gelmini.

Außenminister Frattini: "Schlechtestmöglicher Präzendenzfall"

Der italienische Außenminister Franco Frattini kommentierte den Richterspruch aus Straßburg als "schlechtestmöglichen Präzendenzfall für andere Religionen". Gerade in einem Augenblick, da die italienische Regierung um ein gutes Auskommen der verschiedenen Glaubensrichtungen bemüht sei, erhalte das Christentum einen "Hieb". Gleichstellungsministerin Mara Carfagna forderte die Regierung zum Einspruch gegen das Straßburger Urteil auf. Das Prinzip der Gleichberechtigung auch unter Religionen dürfe nicht dazu führen, die eigenen Wurzeln und die eigene Identität zu verneinen. Die "wahren Beschränkungen der individuellen Freiheit" lägen hingegen im islamischen Gesichtsschleier, sagte die Ministerin. "Ich erwarte, dass sich der Europäische Gerichtshof dazu ebenso klar und deutlich erklärt", sagte Mara Carfagna.

Buttiglione: Ein "skandalöses Urteil"

Der christdemokratische Politiker Rocco Buttiglione sprach von "skandalösem Urteil", das Italien entschieden ablehnen müsse. "Italien hat Recht auf seine Kultur, seine Tradition und seine Geschichte. Die Straßburger Richter wollen unsere kulturelle Identität ausradieren", so Buttiglione. Der Vorsitzende der altkommunistischen Partei "Rifondazione Comunista", Paolo Ferrero, begrüßte das Urteil aus Straßburg. "Ein laizistischer Staat muss alle Religionen respektieren und sich mit keiner identifizieren", erklärte Ferrero.

Vatikan will das Urteil prüfen

Der Vatikan will den Fall überprüfen. "Wir müssen noch das Urteil des Straßburger Gerichts überprüfen, bevor wir uns dazu äußern können", meinte der vatikanische Pressesprecher, Pater Federico Lombardi.

Gerichtssprecher: Auch für andere Länder interessant

Das EGMR-Urteil habe unmittelbar nur für Italien juristische Wirkung, sagte ein Gerichtssprecher in Straßburg auf Anfrage. Ein Urteil gelte immer nur für eine Person und ein Land. Allerdings sei die Feststellung der Prinzipien "auch für andere Staaten interessant". Wenn ein Bürger eines anderen Landes seine Rechte auf ähnliche Weise verletzt sehe, könne er ebenfalls den Rechtsweg beschreiten.

Verfassungsexperten: Urteil hat auch Auswirkungen für Österreich

Verfassungsexperten rechnen damit, dass das EGMR-Urteil auch Auswirkungen auf die österreichische Situation haben wird. Laut Bernd Christian Funk spricht "alles dafür, dass das auch für Österreich von Bedeutung ist". Sein Kollege Heinz Mayer betonte am Dienstag im Gespräch mit der APA, Kreuze hätten in Klassenzimmern nichts zu suchen."Ich habe das immer schon so gesehen", erinnerte Mayer an die Diskussion nach einem Spruch des deutschen Bundesverfassungsgerichtes bezüglich der Anbringung von Kreuzen in bayerischen Klassenzimmern 1995. Auch damals hatte es eine Debatte in Österreich gegeben, die aber wieder abgeflaut sei.

Schul-Konkordat regelt Anbringung von Kruzifixen

In Österreich ist die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern im sogenannten Schul-Konkordat zwischen Österreich und dem Vatikan aus dem Jahr 1962 geregelt und auch im Religionsunterrichtsgesetz fixiert. Schulkreuze sind demnach in allen Klassenzimmern anzubringen, in denen die Mehrzahl der Schüler einem christlichen Religionsbekenntnis angehört. Das Konkordat steht im Verfassungsrang und kann ohne Einverständnis des Heiligen Stuhls nicht geändert werden.

 

 

 

 

 

 
zum Seitenanfang Seitenanfang