Jesus auf der Zielgerade: Erfolgreiche Passionsspiele in Oberammergau
Ein Gelöbnis aus dem Jahr 1633 verpflichtet die Oberammergauer alle zehn
Jahre die Passion aufzuführen. Dieses Jahr wird noch bis 3. Oktober
gespielt, trotz kalter Witterung. Nach 104 Vorstellungen werden 30 Millionen
Euro Reingewinn in der Ortskassa über bleiben.
Das Wetter kannte kein Erbarmen - oft musste Jesus bei
den diesjährigen Oberammergauer Passionsspielen frieren. Selbst an manchen
Sommerabenden fegte ein empfindlich kalter Wind über die riesige
Freilichtbühne des Passionsspielhauses. Und der ließ die beiden sich
abwechselnden Christus-Darsteller mit nichts als einem Lendenschurz am Leib
bei der Kreuzigungsszene vor Kälte bibbern. Für die restlichen knapp 20
Aufführungen im kühlen Herbst sind Christus und Co. jedenfalls abgehärtet.
Bilanz am 3. Oktober
Erst wenn am 3. Oktober der Vorhang zum letzten Mal
fällt, wird Bilanz gezogen. Doch schon jetzt steht fest: Die 104
Vorstellungen sind zu 99,8 Prozent ausgebucht, wie Verkaufsleiter Werner
Herrlinger ausgerechnet hat. Zusammen macht das rund eine halbe Million
Besucher aus aller Herren Länder.
Das hätten sich die Dorfbewohner nicht träumen lassen,
als sie im Pestjahr 1633 gelobten, alle zehn Jahre die Passion zu spielen,
wenn sie fortan von der Seuche verschont blieben. Der Überlieferung nach
raffte der "schwarze Tod" von da an keine Menschenseele im Ort der
Herrgottschnitzer mehr dahin. Premiere für die Einlösung des Versprechens im
Jahr 2010 war am 15. Mai. Das halbe Dorf mit seinen gut 5000 Einwohnern ist
fünfmal pro Woche auf oder hinter der Bühne aktiv.
150 Euro für eine Kreuzigung
Die fast hundertprozentige Auslastung der Vorstellungen
wiegt umso schwerer als USA-Reiseveranstalter vom Rückgaberecht für
Arrangements mit ein oder zwei Übernachtungen rege Gebrauch machten. Die
Angst der Amerikaner vor neuen Terroranschlägen auf Flugzeuge ist nur einer
der Gründe. Ihre Karten gingen in den deutschen Markt, wo eine große
Nachfrage nach Tickets bestand - und das bei Preisen zwischen knapp 50 und
gut 150 Euro für einen Spitzenplatz.
Großes Interesse in Neuseeland und Japan
"Nach wie vor kommt aber fast die Hälfte aller
Zuschauer aus dem englischsprachigen Raum", weiß Frederik Mayet, in
Personalunion einer der beiden Christus-Darsteller und Sprecher der
Passionsspiele. Steigendes Interesse wird in Neuseeland und Japan
registriert. Für die Gemeinde als Veranstalter hat sich der jahrelange
Aufwand allemal gelohnt. Der Reingewinn dürfte an die 30 Millionen Euro
betragen. Davon muss der Ferienort unweit von Garmisch-Partenkirchen
freilich zehn Jahre zehren, die nächsten Passionsspiele sind schließlich
erst wieder 2020.
Nur Einheimische dürfen mitmachen
Um auf der Bühne eine der begehrten Hauptrollen spielen
zu können, haben sich mehrere Oberammergauer - nur Einheimische dürfen
mitmachen - ein halbes Jahr unbezahlten Urlaub genommen. Als Ausgleich
bekommen die Laiendarsteller von der Gemeinde eine Gage. Von wegen aber
"Jesus Christ Superstar": "Ein Jesus verdient nicht wesentlich mehr als ein
Techniker hinter der Bühne", verrät Mayet, der für seinen "Kollegen" Andreas
Richter gleich mitspricht.
800 Mitwirkende
Freuen dürfen sich auch die vielen im Volk
mitspielenden Kinder. Pro Vorstellung gibt es fünf Euro. "Da kann sich einer
am Ende ein schönes neues Fahrrad kaufen", meint Mayet. Bis zu 800
Mitwirkende - vom Säugling im Tragetuch der Mutter bis zum Greis - stehen
bei den Massenszenen wie dem Einzug in Jerusalem auf der Bühne. Mayet:
"Jeder vom Volk muss an mindestens 80 Tagen da sein, das wird auch
kontrolliert, allein schon wegen der Honorare."
Auf der Bühne und hinter der Bühne weht ein guter Geist"
Positiv fällt die Bilanz auch bei Spielleiter Christian
Stückl aus. "Ich war noch nie so zufrieden wie dieses Mal", sagt der
Regisseur. Er muss es wissen, denn er leitet die Passion nach 1990 und dem
Millennium 2000 nun zum dritten Mal und hat manchen Streit um eine
zeitgemäße Inszenierung vom Zaun gebrochen. "Auf der Bühne und hinter der
Bühne weht ein guter Geist", meint der 48-Jährige, der aus einer typischen
Oberammergauer Laienschauspielerfamilie stammt und schon als Kind mitwirkte.
"Worüber lacht Gott?"
"Die Leute sind noch immer voll konzentriert und haben
ihren Spaß", sagt Stückl im oberbayerischen Dialekt. Den legt der
Kettenraucher auch in Fernsehinterviews nicht ab oder im Gespräch mit
Prominenten wie etwa vor einigen Wochen, als Bundespräsident Christian Wulff
eine Aufführung im Schnitzerdorf sah. Voll eingeschlagen hat nach
Überzeugung Stückls auch die Verlegung des zweiten Passionsspielteils in den
Abend. Damit nutzt der Regisseur die Abenddämmerung für stimmungsvolle
Effekte auf der Bühne. Er wagt die Prognose: "Das wird nie mehr anders
sein." Bei der Frage nach seiner eigenen Zukunft als Chef der Passionsspiele
im Jahr 2020 gibt sich Stückl zunächst bedeckt. Er fragt zurück: "Worüber
lacht Gott?" und liefert die Antwort augenzwinkernd gleich mit: "Über
Planung." Dann sagt er: "Ich weiß es wirklich nicht. Bis dahin ist noch eine
lange Zeit." Nach einer Atempause fügt er aber gleich hinzu: "Andererseits
kann ich mir nicht vorstellen, es nicht mehr zu machen. Was tu' ich denn
dann?"
"Traditionell wird nach der letzten Vorstellung viel geweint"
Diese Frage werden sich auch viele Mitwirkende stellen,
wenn am Abend des 3. Oktober die letzte Vorstellung der Passion 2010 vorüber
ist. Sie fallen schon am nächsten Tag in ein tiefes Loch. Von der
Nominierung über das Textstudium und die monatelange Probenarbeit bis hin zu
20 Wochen Aufführungen am Stück hat "der Passion", wie die Einheimischen
ihre Leidenschaft männlich statt weiblich aussprechen, eineinhalb Jahre lang
ihr Leben geprägt. Mancher Darsteller hat seine Mitspieler in dieser Zeit
öfter gesehen als seinen Lebenspartner. "Traditionell wird nach der letzten
Vorstellung viel geweint", verrät Christus-Darsteller Mayet. "Die Leute
liegen sich schluchzend in den Armen, denn es wird ihnen plötzlich bewusst,
dass mit einem Mal alles vorbei ist."
Friseure haben einige Tage viel Arbeit
Vorbei ist es nach der letzten Vorstellung auch mit den
langen Haaren und den Rauschebärten der Männer. Oberammergaus Friseure haben
dann einige Tage viel Arbeit. Erst am Aschermittwoch des Jahres 2019, gut
ein Jahr vor der Premiere der Spiele 2020, heißt es in Oberammergau wieder:
Haare und Bart wachsen lassen.
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