News 21. 10. 2011

Religiosität in Europa ist "stabil in Veränderung"

Gott und Gebet blieben wichtig, jedoch verändere sich, was die Menschen mit Gott und Religiosität in ihren Sinnkonzepten und ihrer Lebenspraxis verbinden, sagt die Wiener Theologin Regina Polak.  

Als "stabil in Veränderung" lässt sich laut Polak die Religiosität in Europa umschreiben. Am Donnerstag fand die Präsentation des von ihr herausgegebenen Buches "Zukunft.Werte.Europa" in Wien statt. Darin sind die Ergebnisse der von 2008 bis 2010 durchgeführten Europäischen Wertestudie zusammenfasst und wissenschaftlich-interdisziplinär gedeutet.

Sozioreligiöser Wandel

Die am Wiener Institut für Praktische Theologie lehrende Polak erteilt in dem von ihr gemeinsam mit Christoph Schachinger verantworteten Religionsteil einer eng gefassten Säkularisierungsthese eine Absage: Ein kontinuierlich voranschreitender Bedeutungsverlust von Religion in modernen Gesellschaften sei aus den Daten nicht ableitbar. Die Werte beim Gottesglauben, der Gebetshäufigkeit und beim Kirchgang seien in den vergangenen 20 Jahren in Europa relativ konstant geblieben, so die Theologin. Freilich zeige sich auch ein sozioreligiöser Wandel: In einzelnen Ländern gibt es größere Gruppen religiöser Menschen ohne konfessionelles Selbstverständnis; ebenso gibt es innerhalb der Konfessionellen auch nicht-religiöse Personen.

"Hochreligiöse, mittelreligiöse und niedrigreligiöse Länder"

Markant ist laut dem Buch die hohe Bedeutung der Kirchenzugehörigkeit für das religiöse Leben in Europa: "In der Intensität von Glaube, Kirchgang und Gebet differenziert sich das Feld in hochreligiöse Länder orthodoxer und national-katholischer Tradition, mittelreligiöse Länder katholischer und katholisch-protestantischer Tradition und niedrigreligiöse Länder protestantischer Tradition". Das heißt: In Bezug auf Gottgläubigkeit, Kirchgang und Gebetspraxis "top" sind Länder wie Rumänien, Polen, Griechenland, Italien und Kroatien, ganz hinten rangieren die schon in vorkommunistischer Zeit säkularisierten Länder Tschechien und Ostdeutschland sowie die protestantisch geprägten skandinavischen Staaten.

Grad der Religiosität an verschiedene Faktoren gekoppelt

Als Faktoren, die ausdrückliche Religiosität begünstigen, nannte Polak höheres Alter, Migrationshintergrund und der Wohnort ländliche Region oder Großstadt. So seien die Über-60-Jährigen die "frömmsten" Europäer und Migranten der ersten Generation stimmten "1,6 Mal wahrscheinlicher dem Glauben an Gott zu als die ansässige Bevölkerung". Weiters: Mit steigender Bildung nimmt die Wahrscheinlichkeit des Gottglaubens ab. Außerdem kommt "auf jeden Mann, der an Gott glaubt, 1,5 Frauen", so Polak.

 

Orthodoxe Europäer sind am "frömmsten"

Am deutlichsten jedoch wirkt sich laut Polak die Konfessionszugehörigkeit der Befragten aus. Sie sei der tragfähigsten Erklärungsfaktor für den Glauben: "Auf einen Katholiken, der an Gott glaubt, kommen 0,25 Prozent Protestanten und 2,5 Orthodoxe." Am wichtigsten sei Gott für Muslime, die als untersuchte Gruppe in der Wertestudie jedoch zahlenmäßig zu gering für seriöse Interpretationen waren. Mit "konfessionsnaher Religiosität" werde gesellschaftlich auch in Zukunft zu rechnen sein, so Polak. "Religion bildet in vielen Ländern für viele Menschen einen wichtigen Lebensbereich."

Österreich: Bedeutung der Religion im mittleren Bereich

Österreich befindet sich in Bezug auf die Bedeutung der Religion im mittleren Bereich. Österreich sticht laut der Theologin jedoch unter zwei altersbezogenen Aspekten heraus: In allen untersuchten Ländern weist demnach die Gruppe der 30- bis 44-Jährigen eine ähnliche Nähe zu Religion auf wie jene der 45- bis 59-Jährigen - aber nicht so in Österreich: Hier sind die Jüngeren deutlich distanzierter, was Polak mit der spezifischen Kirchenkrise in Österreich in Verbindung bringt.

Kirchenskepsis besonders ausgeprägt

Die Gruppe der Unter-30-Jährigen sei hierzulande im Europavergleich religiös "überdurchschnittlich distanziert". Das heißt laut Polak nicht, dass die jungen Österreicher nicht an Gott glauben - mehr als zwei Drittel bekennen sich dazu. Aber die Kirchenskepsis sei, etwa gemessen an Deutschland oder der Schweiz, besonders ausgeprägt. Dies mache religiöse Bildung zum entscheidenden Zukunftsfaktor, meinte Polak. Weiteres Ergebnis der Wertestudie: Hinsichtlich ihrer politischen Einstellungen unterscheiden sich die explizit Religiösen nicht vom Rest der Bevölkerung; lediglich das soziale Engagement in Institutionen ist bei der - in der Minderheit befindlichen - Gruppe der betenden Kirchgänger deutlich höher.

"Konfessionelle Religiosität kann auch marginal werden."

Für Polak ergeben sich aus den Ergebnissen der Wertestudie Anfragen an die Kirchen: Noch könnten sie sich in vielen Ländern - auch in Österreich - auf eine tiefe kulturelle Verankerung von Konfessionalität stützen. Aber die sich vor allem bei den Jüngeren beschleunigenden Entkoppelungen zwischen Konfessionalität und Religiosität zeigten, "dass konfessionelle Religiosität - wie in den protestantischen Ländern - auch marginal werden kann". Die Kirchen stünden vor der Notwendigkeit schlüssiger Antworten auf Fragen wie: Was tragen sie zukünftig zur Unterstützung der Lebensgestaltung einzelner und zur Gestaltung der Gesellschaft bei?

Vertrauen in die Demokratie schwindet

Gemäß den Kapiteln des neuen Buches "Zukunft.Werte.Europa" wurden am Donnerstag in einer "Open-House-Buchpräsentation" in der Wiener Technischen Universität einzelne Forschungsbereiche von den jeweiligen Autoren vorgestellt, u. a. die Einstellungen der Europäer zur Religion, Politik, Arbeit, zu Familie und Beziehungen, weiters die Themen Migration und Urbanität. Die Politikwissenschaftlerin Sieglinde Rosenberger erläuterte dabei das schwindende Vertrauen der Österreicher in die Demokratie und die Parteien sowie die wachsende Zustimmung zu einem "Führer".

Ehe als "überholte Einrichtung"?

Die Theologin Elisabeth Kropf belegte den in Europa trotz steigender Formenvielfalt immer noch höchsten Stellenwert der Familie im Vergleich mit anderen Lebensbereichen. In Bezug auf die Einschätzung der Ehe als "überholte Einrichtung" sei Österreich mit 30 Prozent Zustimmung Europa-Spitze. Zugleich stimmten die Hälfte der Befragten der Aussage zu, Ehe bzw. eine feste Beziehung seien für das Lebensglück unabdingbar.

 

Der Band "Zukunft.Werte.Europa. Die europäische Wertestudie 1990-2010. Österreich im Vergleich", erschienen im Böhlau Verlag, kostet 35 Euro.

 

(KAP)

 
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