Religiosität in Europa ist "stabil in Veränderung"
Gott und Gebet blieben wichtig, jedoch verändere sich, was die Menschen
mit Gott und Religiosität in ihren Sinnkonzepten und ihrer Lebenspraxis
verbinden, sagt die Wiener Theologin Regina Polak.
Als "stabil in Veränderung" lässt sich laut Polak die
Religiosität in Europa umschreiben. Am Donnerstag fand die Präsentation des
von ihr herausgegebenen Buches "Zukunft.Werte.Europa" in Wien statt. Darin
sind die Ergebnisse der von 2008 bis 2010 durchgeführten Europäischen
Wertestudie zusammenfasst und wissenschaftlich-interdisziplinär gedeutet.
Sozioreligiöser Wandel
Die am Wiener Institut für Praktische Theologie
lehrende Polak erteilt in dem von ihr gemeinsam mit Christoph Schachinger
verantworteten Religionsteil einer eng gefassten Säkularisierungsthese eine
Absage: Ein kontinuierlich voranschreitender Bedeutungsverlust von Religion
in modernen Gesellschaften sei aus den Daten nicht ableitbar. Die Werte beim
Gottesglauben, der Gebetshäufigkeit und beim Kirchgang seien in den
vergangenen 20 Jahren in Europa relativ konstant geblieben, so die
Theologin. Freilich zeige sich auch ein sozioreligiöser Wandel: In einzelnen
Ländern gibt es größere Gruppen religiöser Menschen ohne konfessionelles
Selbstverständnis; ebenso gibt es innerhalb der Konfessionellen auch
nicht-religiöse Personen.
"Hochreligiöse, mittelreligiöse und niedrigreligiöse Länder"
Markant ist laut dem Buch die hohe Bedeutung der
Kirchenzugehörigkeit für das religiöse Leben in Europa: "In der Intensität
von Glaube, Kirchgang und Gebet differenziert sich das Feld in hochreligiöse
Länder orthodoxer und national-katholischer Tradition, mittelreligiöse
Länder katholischer und katholisch-protestantischer Tradition und
niedrigreligiöse Länder protestantischer Tradition". Das heißt: In Bezug auf
Gottgläubigkeit, Kirchgang und Gebetspraxis "top" sind Länder wie Rumänien,
Polen, Griechenland, Italien und Kroatien, ganz hinten rangieren die schon
in vorkommunistischer Zeit säkularisierten Länder Tschechien und
Ostdeutschland sowie die protestantisch geprägten skandinavischen Staaten.
Grad der Religiosität an verschiedene Faktoren gekoppelt
Als Faktoren, die ausdrückliche Religiosität
begünstigen, nannte Polak höheres Alter, Migrationshintergrund und der
Wohnort ländliche Region oder Großstadt. So seien die Über-60-Jährigen die
"frömmsten" Europäer und Migranten der ersten Generation stimmten "1,6 Mal
wahrscheinlicher dem Glauben an Gott zu als die ansässige Bevölkerung".
Weiters: Mit steigender Bildung nimmt die Wahrscheinlichkeit des
Gottglaubens ab. Außerdem kommt "auf jeden Mann, der an Gott glaubt, 1,5
Frauen", so Polak.
Orthodoxe Europäer sind am "frömmsten"
Am deutlichsten jedoch wirkt sich laut Polak die
Konfessionszugehörigkeit der Befragten aus. Sie sei der tragfähigsten
Erklärungsfaktor für den Glauben: "Auf einen Katholiken, der an Gott glaubt,
kommen 0,25 Prozent Protestanten und 2,5 Orthodoxe." Am wichtigsten sei Gott
für Muslime, die als untersuchte Gruppe in der Wertestudie jedoch
zahlenmäßig zu gering für seriöse Interpretationen waren. Mit
"konfessionsnaher Religiosität" werde gesellschaftlich auch in Zukunft zu
rechnen sein, so Polak. "Religion bildet in vielen Ländern für viele
Menschen einen wichtigen Lebensbereich."
Österreich: Bedeutung der Religion im mittleren Bereich
Österreich befindet sich in Bezug auf die Bedeutung der
Religion im mittleren Bereich. Österreich sticht laut der Theologin jedoch
unter zwei altersbezogenen Aspekten heraus: In allen untersuchten Ländern
weist demnach die Gruppe der 30- bis 44-Jährigen eine ähnliche Nähe zu
Religion auf wie jene der 45- bis 59-Jährigen - aber nicht so in Österreich:
Hier sind die Jüngeren deutlich distanzierter, was Polak mit der
spezifischen Kirchenkrise in Österreich in Verbindung bringt.
Kirchenskepsis besonders ausgeprägt
Die Gruppe der Unter-30-Jährigen sei hierzulande im
Europavergleich religiös "überdurchschnittlich distanziert". Das heißt laut
Polak nicht, dass die jungen Österreicher nicht an Gott glauben - mehr als
zwei Drittel bekennen sich dazu. Aber die Kirchenskepsis sei, etwa gemessen
an Deutschland oder der Schweiz, besonders ausgeprägt. Dies mache religiöse
Bildung zum entscheidenden Zukunftsfaktor, meinte Polak. Weiteres Ergebnis
der Wertestudie: Hinsichtlich ihrer politischen Einstellungen unterscheiden
sich die explizit Religiösen nicht vom Rest der Bevölkerung; lediglich das
soziale Engagement in Institutionen ist bei der - in der Minderheit
befindlichen - Gruppe der betenden Kirchgänger deutlich höher.
"Konfessionelle Religiosität kann auch marginal werden."
Für Polak ergeben sich aus den Ergebnissen der
Wertestudie Anfragen an die Kirchen: Noch könnten sie sich in vielen Ländern
- auch in Österreich - auf eine tiefe kulturelle Verankerung von
Konfessionalität stützen. Aber die sich vor allem bei den Jüngeren
beschleunigenden Entkoppelungen zwischen Konfessionalität und Religiosität
zeigten, "dass konfessionelle Religiosität - wie in den protestantischen
Ländern - auch marginal werden kann". Die Kirchen stünden vor der
Notwendigkeit schlüssiger Antworten auf Fragen wie: Was tragen sie zukünftig
zur Unterstützung der Lebensgestaltung einzelner und zur Gestaltung der
Gesellschaft bei?
Vertrauen in die Demokratie schwindet
Gemäß den Kapiteln des neuen Buches
"Zukunft.Werte.Europa" wurden am Donnerstag in einer
"Open-House-Buchpräsentation" in der Wiener Technischen Universität einzelne
Forschungsbereiche von den jeweiligen Autoren vorgestellt, u. a. die
Einstellungen der Europäer zur Religion, Politik, Arbeit, zu Familie und
Beziehungen, weiters die Themen Migration und Urbanität. Die
Politikwissenschaftlerin Sieglinde Rosenberger erläuterte dabei das
schwindende Vertrauen der Österreicher in die Demokratie und die Parteien
sowie die wachsende Zustimmung zu einem "Führer".
Ehe als "überholte Einrichtung"?
Die Theologin Elisabeth Kropf belegte den in Europa
trotz steigender Formenvielfalt immer noch höchsten Stellenwert der Familie
im Vergleich mit anderen Lebensbereichen. In Bezug auf die Einschätzung der
Ehe als "überholte Einrichtung" sei Österreich mit 30 Prozent Zustimmung
Europa-Spitze. Zugleich stimmten die Hälfte der Befragten der Aussage zu,
Ehe bzw. eine feste Beziehung seien für das Lebensglück unabdingbar.
Der Band "Zukunft.Werte.Europa. Die europäische
Wertestudie 1990-2010. Österreich im Vergleich", erschienen im Böhlau
Verlag, kostet 35 Euro.
(KAP) |