News 12. 04. 2012

Liberale Juden wollen
eigene Kultusgemeinde

Die reformjüdische Gemeinde „Or Chadasch“ hat, wie die „Wiener Zeitung“ vergangene Woche berichtete, beim Kultusamt einen Antrag auf die Einrichtung einer eigenen Kultusgemeinde eingebracht. Die liberalen Juden fühlen sich in der bestehenden Wiener Kultusgemeinde diskriminiert. Der Zeitpunkt des Antrags ist keineswegs zufällig: „Or Chadasch“ hofft auf eine Bearbeitung, bevor das neue Israelitengesetz in Kraft tritt.

Die derzeit als Verein organisierte jüdische Gemeinde „Or Chadasch“ (hebräisch: Neues Licht) möchte ihre rechtliche Stellung innerhalb des österreichischen Judentums gesichert wissen. Nach mehreren Monaten ergebnisloser Verhandlungen mit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien habe man sich deshalb entschlossen, einen Antrag auf die Errichtung einer eigenen Kultusgemeinde beim zuständigen Kultusamt im Bildungsministerium einzureichen, erklärt der Präsident von „Or Chadasch“ Theodor Much, im Gespräch mit religion.orf.at.

Much: „Gravierende Nachteile“

Obwohl international die zahlenmäßig größte Gruppe des Judentums, werde das liberale Judentum in Österreich von der orthodox dominierten Wiener Kultusgemeinde benachteiligt, meint Much. Zwar habe es unter dem vor kurzem zurückgetretenen Präsidenten der IKG Wien, Ariel Muzicant, entscheidende Fortschritte gegeben, aber dennoch fühle man sich nach wie vor diskriminiert. Neben der Verteilung von Subventionsgeldern geht es hier vor allem um die Frage, wer überhaupt Mitglied ist und daher Rechte, die nur Mitgliedern zustehen, in Anspruch nehmen darf.

Unterschiedliche Übertritte

Der Übertritt zum Judentum geschieht sowohl bei den orthodoxen als auch bei den liberalen Juden durch eine Vorsprache bei einem Rabbinatsgericht. Da dieses bei den liberalen aber auch von Frauen besetzt sein kann, werden liberale Übertritte von den Orthodoxen nicht anerkannt. „Or Chadasch“ hat dementsprechend einige Mitglieder, die nicht Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG Wien) sind. Diese Gruppe hat zum Beispiel kein Wahlrecht bei den Wahlen zum Vorstand der Kultusgemeinde, und auch die jüdische Schule in Wien ist Mitgliedern der IKG vorbehalten. Unter anderem über diese Frage diskutierten Vertreter beider Seiten, „Or Chadasch“ und IKG Wien, in den vergangenen Monaten – ohne brauchbares Ergebnis für die Liberalen, wie es scheint.

Mitgliedschaft als Streitpunkt

Die Frage der Mitgliedschaft ist auch für Paul Chaim Eisenberg, Oberrabbiner der IKG Wien, entscheidend. „Wir sind eine Einheitsgemeinde und als solche eine Gemeinde von Einzelmitgliedern und nicht von Gruppierungen“, erklärt er im Gespräch mit religion.ORF.at. Die IKG Wien komme mit „Or Chadasch“ grundsätzlich gut aus, könne sich aber nicht über die religiösen Regeln, die den Übertritt zum Judentum betreffen, hinwegsetzen. „Wir können uns nicht nach den Regeln einer kleinen Minderheit deren Regeln aufzwingen lassen“, so Eisenberg. Außerdem säßen die entscheidenden Gremien in dieser Frage nicht nur in Österreich. Das Oberrabbinat in Israel würde beispielsweise eine zu offene Haltung gegenüber den Liberalen nicht gutheißen. „Das würde eine internationale Schwächung des guten Images unseres Rabbinats bedeuten“, so Eisenberg.

Altes oder neues Gesetz?

Der Zeitpunkt des Antrags auf eine eigene Kultusgemeinde hängt aber nicht nur von den Verhandlungen mit der IKG Wien ab. „Or Chadasch“ hofft, dass er noch vor dem Inkrafttreten des neuen Israelitengesetzes bearbeitet wird, weil man sich unter dem derzeit geltenden Gesetz bessere Chancen ausrechnet als unter dem neuen. Die Novelle des Israelitengesetzes wird am 16. April im Unterrichtsausschuss des Nationalrats behandelt und muss dann noch den weiteren Gesetzgebungsprozess durchlaufen. Das Kultusamt hat indes für die Bearbeitung des Antrags von „Or Chadasch“ sechs Monate Zeit. Je nach dem, wann schlussendlich über den Antrag entschieden wird, hat entweder das alte oder das neue Israelitengesetz Gültigkeit.

Dachverband mit weitreichenden Kompetenzen

Für „Or Chadasch“ macht das einen großen Unterschied: Dort geht man gehen davon aus, dass man unter dem neuen Gesetz kaum eine Chance auf eine eigene Kultusgemeinde haben wird. Mit der neuen rechtlichen Grundlage bekommt der neue, den Kultusgemeinden übergeordnete Dachverband, die „Israelitische Religionsgesellschaft“, weitreichenden Einfluss darauf, ob sich eine Kultusgemeinde neu gründen darf oder nicht. Die „Israelitische Religionsgesellschaft“ war zwar auch schon im alten Gesetz vorgesehen, aber nicht ausreichend geregelt. Lange Zeit existierte sie überhaupt nicht, 2005 wurde von den bestehenden Kultusgemeinden eine Verfassung für die Religionsgesellschaft vorgelegt und vom Ministerium per Bescheid genehmigt. Das neue Israelitengesetz regelt nun unter anderem die Aufgaben und Rechte dieses Dachverbands.

„Verkirchlichung des Judentums“

Genau in dieser neuen Struktur, die mit dem neuen Israelitengesetz präzisiert wird, liegt der eigentliche Grund für den Antrag von „Or Chadasch“. Durch die neue Regelung, so heißt es auf der neu eingerichteten Webseite, „würde der Fortbestand des nichtorthodoxen Judentums in Österreich gefährdet“. Die neue Religionsgesellschaft sei ein Gebilde, das dem Judentum historisch gesehen auch überhaupt nicht entspreche und alle kleinen Strömungen zugunsten der Mehrheit bevormunde, sagt „Or Chadasch“-Präsident Much. Und auch Richard Potz, Leiter des Instituts für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht, meint gegenüber religion.ORF.at, dass die neue hierarchische Struktur eine „Verkirchlichung des Judentums“ darstelle.

Komplizierte Rechtslage

Ob der Antrag von „Or Chadasch“ auf eine eigene Kultusgemeinde Erfolg haben kann, darüber will Potz keine Prognose abgeben. Allerdings, meint er, sei die Bearbeitung des Antrags auch nach der derzeit noch geltenden Fassung des Israelitengesetzes schwierig. Diese schreibt nämlich vor, dass jede Kultusgemeinde genau festgelegte territoriale Grenzen haben muss, die sich nicht mit jenen einer anderen Kultusgemeinde überschneiden dürfen. Noch komplizierter wird die Angelegenheit durch ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 1981. Damals wollte ein ultra-orthodoxer Jude eine zweite Kultusgemeinde auf dem Gebiet der IKG Wien gründen, was ihm vom VfGh erlaubt wurde. Es kam nur nie dazu, weil sich der Kläger mit der IKG einigen konnte. Genau auf diesen Fall beruft sich jetzt auch „Or Chadasch“.

Verhandlungen noch nicht abgeschlossen

Abgesehen von der Frage nach einer eigenen Kultusgemeinde für die liberalen Juden, sagt Potz, sei die „Israelitische Religionsgesellschaft“ vor allem im Hinblick auf die international sehr große liberale Gemeinde gut beraten, eine Lösung zu finden . „Wenn sich die Religionsgesellschaft als Verband für alle Juden versteht, sollte sie auch dafür Platz haben“, sagt Potz im Interview mit religion.ORF.at. In welcher Form das passiert, ist nach wie vor offen. Theodor Much kann sich vorstellen, den Antrag an das Kultusamt wieder zurückzuziehen, wenn die IKG Wien weitere Zugeständnisse an die „Or Chadasch“-Mitglieder macht. „Falls man uns im Sinne einer Einheitsgemeinde entgegenkommt, können wir das noch stoppen“, so Much im Gespräch mit religion.ORF.at. Auch der Oberrabbiner der Kultusgemeinde, Paul Chaim Eisenberg, zeigt sich optimistisch, dass die Verhandlungen mit „Or Chadasch“ noch Früchte tragen können: „Ich bin sehr betrübt über den derzeitigen Stand der Dinge. Ich möchte nicht gern der Oberrabbiner sein, unter dessen Ägide die Einheitsgemeinde auseinanderbricht.“

Eigene Bekenntnisgemeinschaft „kommt nicht in Frage“

Jedenfalls möchte „Or Chadasch“ innerhalb der „Israelitischen Religionsgesellschaft“ bleiben. Ein weiterer Antrag auf eine eigene „eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinde“ ist keine Option. „Das kommt überhaupt nicht in Frage, weil das bedeuten würde, dass wir eine andere Religion sind“, sagt Much. Zunächst werden also beide Parteien auf die Antwort aus dem Ministerium warten und weiter verhandeln.

 

(Michael Weiß, religion.ORF.at)

 

 

Mehr Dazu

„Or Chadasch“ und das neue Israelitengesetz – ein Überblick

  • Das neue Isrealitengesetz wird voraussichtlich noch dieses Jahr beschlossen. Die größte Änderung, die es vornimmt, ist die wichtigere Rolle der so genannten „Israelitischen Religionsgesellschaft“. Diese wird ein Dachverband über den bisher fünf bestehenden Kultusgemeinden sein  und weitreichende Kompetenzen haben.

  • Nach dem neuen Gesetz hat die „Israelitische Religionsgesellschaft“ weitreichende Kompetenzen bei der Neugründung von Kultusgemeinden. Nach dem alten ist dafür das Kultusamt im Bildungsministerium zuständig.

  • „Or Chadasch“ fühlt sich derzeit von der Kultusgemeinde Wien benachteiligt und hat deshalb einen Antrag auf eine eigene Kultusgemeinde gestellt.

  • Für die Bearbeitung des Antrags (innerhalb von sechs Monaten) gilt jene Version des Israelitengesetzes, die zum Zeitpunkt der Antwort in Kraft ist.

  • „Or Chadasch“ hofft, dass der Antrag noch nach dem alten Gesetz bearbeitet wird. Nach dem neuen Gesetz sieht man – wegen des großen Einflusses der „Israelitischen Religionsgemeinschaft“ – keine Chance auf eine eigene Kultusgemeinde.

  • Neben der Einrichtung einer eigenen Kultusgemeinde hätte „Or Chadasch“ theoretisch die Möglichkeit, die Einrichtung einer eigenen „eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft“ zu beantragen. Genau auf diesem Weg haben sich im Jahr 2010 die Aleviten aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft herausgelöst. Das würde aber bedeuten, dass sich „Or Chadasch“ als eigenständige Religion sieht – was die liberalen Juden vehement verweigern.

  

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