Ali ibn Abu-Talib ist zweifellos eine der geschichtsträchtigsten
Persönlichkeiten des frühen Islam. Er lebte im Haushalt des Propheten und
nahm schon als Knabe den Islam an. Als sich Muhammad entschloss, Mekka zu
verlassen, blieb Ali in seinem Hause zurück. Um die Verfolger zu täuschen,
legte er sich auf das Nachtlager des Propheten und zog eine Decke über
sich. Als Späher Nachschau hielten, dachten sie, Muhammad schliefe. Dies
verschaffte dem Propheten einen rettenden Vorsprung auf dem Weg nach Medina.
Ali nahm Fatima, die jüngste Tochter des Propheten, zur Frau. Bekannt
ist er für sein asketisches Leben und für seine Tapferkeit. Zumindest in
seinen späteren Lebensjahren soll er sich vegetarisch ernährt haben.
Kalifat mit Hindernissen
Nach der Ermordung Osmans herrschte tagelang Aufruhr in Medina. Sowohl
die Rebellen wie auch jene Prophetengefährten, die in Medina verblieben
waren, schlugen ihm vor, das Kalifat zu übernehmen. Ali lehnte zunächst
ab, doch es galt, die Ruhe wieder herzustellen. So stimmte er der
Amtsübernahme zu und ließ sich vom Volk bestätigen.
Schon bald forderten ihn die alten Gefährten des Propheten auf, Osmans
Mörder zur Verantwortung zu ziehen. Aber noch immer herrschte Unruhe im
Land, die Menschen waren unzufrieden und Medina war teils in der Hand von
Aufrührern. Ali wollte zunächst die sozialen Missstände beseitigen,
Sicherheit schaffen und dann dem Recht zur Geltung verhelfen. Es kam zu
Meinungsverschiedenheiten und Aischa, die Witwe des Propheten, setzte sich
an die Spitze seiner Kritiker.
Reformen
Ali führte eine umfassende Reform der Verwaltung und der Streitkräfte
durch. Er ersetzte die ehrgeizigen Provinz-Gouverneure, die ihre Macht
missbraucht hatten. Die Prinzipien der Regierung sind in seinem berühmten
Brief an Malik al-Aschtar niedergelegt, den er zum Gouverneur von Ägypten
bestimmt hatte. In vieler Hinsicht hat dieses bemerkenswerte Dokument bis
heute nicht an Aktualität verloren.
Der neue Kalif erleichterte die Steuerlasten und kümmerte sich
persönlich um die Fürsorge für Bedürftige. Niemand durfte sich
bereichern, die Budget-Überschüsse wurden dazu verwendet, soziale Härten
auszugleichen.
Widerstand gegen Alis Regierung
Bereits unter Osman hatten sich im Kalifat lokale Machtzentren gebildet.
Der Omaiyade Mu'awiya, Gouverneur von Syrien, erkannte Ali nicht als Kalif
an und forderte Rache für seinen Verwandten Osman.
Aischa und die "Kamelschlacht"
Mittlerweile hielt Aischa, die Witwe des Propheten, in Medina
öffentliche Versammlungen ab. In ihren Reden forderte sie Vergeltung für
Osman. Obwohl namhafte Prophetengefährten sich weigerten, einen
Bürgerkrieg anzuzetteln, wurde eine große Streitmacht zusammengestellt. An
ihrer Spitze zog Aischa nach Basra; 656 besetzte sie die Stadt. Ali brach
nach Basra auf und die beiden Parteien führten zunächst
Friedensgespräche. Diese blieben jedoch erfolglos. Die folgende Schlacht
ging als "Kamelschlacht" in die Geschichte ein, weil Aischa in
einer Sänfte von ihrem Kamel aus die Truppen gegen Ali führte. Sie
unterlag jedoch und nach ihrer Niederlage sandte Ali sie nach Medina
zurück. Bevor sie sich trennten, hielten beide Kontrahenten eine Rede, in
der sie betonten, dass es zwischen ihnen keine persönliche Feindschaft
gebe.
Der Aufstieg des Omaiyaden-Kalifats
Alle Länder mit Ausnahme von Syrien erkannten nun Alis Kalifat an. In
Damaskus rüstete Mu'awiya eine starke Armee, die gegen Ali zog. Als sie
sich bei Siffin gegenüber standen, wurden monatelange Verhandlungen
geführt, die jedoch zu keinem Ergebnis führten. Schließlich wollte Ali
eine Entscheidung herbeiführen und griff an. Nach langem Kampf befand er
sich im Vorteil. Um der Niederlage zu entgehen, hefteten die syrischen
Truppen den Koran an ihre Lanzen, worauf sich Alis Männer weigerten, gegen
sie zu kämpfen. Es kam zu einem Schiedsspruch, der sich als Täuschung
erwies: indirekt wurde Mu'awiya zum Kalifen erklärt.
Bald hatte Ali gegen anarchistische Tendenzen zu kämpfen. Nach und nach
wandten sich einige Provinzen von ihm ab und Mu'awiya weitete seinen
Machtbereich aus. 561 wurde Ali während des Gebets von einem Mann ermordet,
welcher der Gruppe der Charidschiten angehörte - so genannt, weil
sie aus dem Staatsgefüge austraten und keine weltliche Macht anerkannten
(heute leben die Nachkommen dieser Gruppierung friedlich in verschiedenen
muslimischen Ländern verstreut). Das Kalifat fiel an Mu'awiya, der eine
dynastische Erbfolge einführte und die Herrschaft der Omaiyaden
begründete. Fast ein Jahrhundert hindurch sollten sie die Geschicke der
muslimischen Welt bestimmen.
Ali und die Schia
Ali hatte offenbar immer Anhänger, die der Meinung waren, er hätte der
erste Nachfolger des Propheten sein sollen. Diese "Partei" (Schia)
stützte sich dabei auf Äußerungen Muhammads, die von anderen Muslimen
nicht in dieser Weise verstanden wurden. Nach Alis Tod scharte sich diese
Gruppe um seine Söhne Hassan und Hussein. Um weiteres Blutvergießen zu
vermeiden, verzichtete Hassan auf das Kalifat. Hussein führte jedoch einen
Aufstand gegen die weltlich orientierte Herrschaft der Omaiyaden. Seine
Bewegung wurde nahe der Stadt Karbala im Irak blutig niedergeschlagen.
Besonders die schiitischen Muslime gedenken dieses Ereignisses am 10. Tag
des arabischen Monats Muharram (Aschura). Typisch dafür sind die
schiitischen Trauerzeremonien. Auch in weiterer Folge befand sich die Schia
immer wieder in Opposition zu den Herrschenden - sie ist daher reich an
Märtyrern.
Die Schia spaltete sich in mehrere Untergruppen. Die bedeutendsten von
ihnen sind die "Zwölfer-Schiiten", die an eine Folge von 12
Imamen, Nachkommen Fatimas und Alis, glauben. Sie sind vor allem im Iran
verbreitet. Die Ismailiten erkennen sieben, die Zaiditen im Jemen fünf
Imame an.
Alis Gottesliebe gilt auch vielen Sufis als mystisches Vorbild; seine
überlieferten Predigten und Schriften wurden in einem Buch gesammelt.