"Alles ist leer" - Zentrale Begriffe
buddhistischer Weltsicht
Von Hans-Jürgen Greschat (Biografie)
Im Buddhismus ist es von besonderer Bedeutung das Unwissen gegen
Wissen auszutauschen. Buddha Gautama geht nicht von einer
Offenbarung aus, sondern von dem, was er vorfindet. Das Erkennen von
Anatman ersetzt den vom Augenschein gelernten Glauben, der Mensch
sei ein "Ich" mit beständigem Wesenskern (Atman).
Erkennen die Buddhisten Leerheit (Shunyata) auch im Erlöschen (Nirvana)
von Verblendung, Gier und Hass, dann ist ihnen alles leer geworden.
Nichts ist beständig! So lehrt der Inder Gautama, genannt
Shakyamuni, der "Weise aus dem Shakya-Clan" 500 Jahre vor
Christus. Um die gleiche Zeit lebte in Griechenland Heraklit, den
man den "Weisen von Ephesos" nennt. Von ihm wird
berichtet, er habe gelehrt, dass "alles fließt". Der
Inder zieht die negative Formulierung vor, der Grieche die positive,
doch beide meinen dasselbe. Heraklit hat sich mit seiner Sicht im
Abendland nicht durchgesetzt. Um zu begreifen, wie Buddhisten sich
den Menschen, die Welt, die Erlösung vorstellen, sollten wir einmal
probieren, die Dinge aus jener anderen Perspektive zu betrachten.
Wir sind gewohnt, von seienden Dingen auszugehen. Aber wie die Inder
wissen auch wir, dass z.B. der Mensch nicht derselbe bleiben wird in
den Jahren zwischen Geburt und Tod, dass er sich anders erlebt mit
zwanzig als mit siebzig, dass sein Leib sich verändert, kurzum:
nichts bleibt, wie es war.
Zwei Fragen zum Begreifen der buddhistischen
Lehre
Diese andere Perspektive sollten wir nie aufgeben, wenn wir uns
bemühen, die buddhistischen Lehren von ANATMAN, NIRVANA und
SHUNYATA näher zu begreifen. Zunächst werden wir die Antwort des
Buddha Gautama auf zwei Fragen kennen lernen: (1) Wie soll man sich
einen "fließenden" Menschen vorstellen? Hierauf antwortet
seine Lehre von ANATMAN. Und (2): Was lenkt den Lauf des Fließens?
Danach gilt es zu verstehen, wie das Heilsziel NIRVANA für Menschen
"im Fluss" beschaffen sein kann. Schließlich wird uns
SHUNYATA, die "Leerheit", beschäftigen. Dem Fließen auf
der Prozessebene entspricht das Leere auf der Ebene des Seins.
Gott als Schöpfer oder Gott als gegenwärtig
Heraklit wollte niemanden als Lehrer anerkennen. Er begann
folglich bei sich selbst zu forschen. Auch Gautama wandte sich
enttäuscht von seinen Lehrern ab und begann, sich selbst zu
erkunden. Gewöhnlich sind es die Philosophen, die bei dem ansetzen,
was sie vorfinden und erkennen können. Hier stoßen wir auf einen
wichtigen Unterschied des frühen Buddhismus zu jenen Religionen,
die mit einer göttlichen Offenbarung anfangen. Erst unter dieser
Voraussetzung beginnen Theologen zu erforschen, wozu Gott den
Menschen geschaffen hat und wie Er ihn will. Zwei grundsätzliche
theologische Positionen zeigen sich, die einander ausschließen.
Für die eine steht Gott der Welt und dem Menschen gegenüber. Er
ist ihr Schöpfer, Er der Grund, d.h. die Ursache von Welt und
Mensch: Gott hat sie gemacht. Für die andere befindet sich Gott in
der Welt und im Menschen. Der Mensch wird gleichsam zu einem Kleide
Gottes. Ist Gott der Grund, d.h. die Basis, der Boden für alles
Seiende (in der ersten Position), so kommt man der zweiten nahe,
wenn man vom Menschen als dem "Ebenbild" Gottes spricht
oder wenn es heißt, der "Odem", also das Leben, der Geist
des Menschen, stamme von Gott und sei mithin göttlich.
Das indische Verständnis von Gott
Die erste Position passt kaum in den indischen Kontext. Dort
glaubt man an die Wiedergeburt der Wesen. Ein gegenwärtiger Mensch
hat bereits vielmals seine Gestalt gewechselt, war Tier und Gott und
Mensch. Hunderttausendmal Wiedergeborene und der Mensch als
Geschöpf Gottes, das passt nicht zusammen. Die zweite Position also
ist jene, die Gautama in Indien vorgefunden hat. Gott ist in allem,
was existiert. Der göttliche Teil im Menschen heißt Atman. Wer ihn
in sich entdeckt, ist erlöst. Göttliches ist unvergänglich,
Weltliches vergeht. Dieser Lehre widerspricht Gautama Buddha, indem
er Atman leugnet und lehrt, dass alles unbeständig sei. Wenn das
stimmt, dann kann es im vergänglichen Menschen keinen
unvergänglichen Anteil geben. Mit seiner Nicht-Atman-Lehre (ANATMAN)
führt der Buddha seine Schüler auf einen dritten Weg, vorbei an
der Sicht von Gott als der Ursache und von Gott als dem Grund alles
Seienden.
Ich und mein versus nicht-ich und nicht-mein
Im abendländischen Kontext besagt Buddhas Lehre: Es gibt keine
unsterbliche, keine ewige Seele. ANATMAN widerspricht mithin dem
Glauben frommer Europäer. Aber nicht nur ihrem, ANATMAN
widerspricht auch dem Glauben der Unfrommen. Denn deren Selbst, das
sie verwirklichen wollen, ihr Ich, das sie zudem antreibt, für das
sie wirken und kämpfen, es existiert nicht wirklich! Wie kann das
sein, wo doch alle Welt von "Ich" und "Mein"
redet? Auch Shakyamuni und seine Jünger! Man sollte aber, sagt der
Buddha später, nicht glauben, etwas müsse wirklich existieren, nur
weil man einen Namen dafür kennt. Den Namen "Pegasus"
gibt es, das geflügelte Pferd aber gibt es nur in der Phantasie.
Zwei Ebenen sind zu unterscheiden, sagt der Buddha; ihnen
entsprechen zwei Sprachen, die des Alltags und die der religiösen
Erkenntnis. Das ist nicht anders, als wenn ein Chemiker im
Kaffeehaus "Wasser" sagt und im Labor "H2O"
und jedes mal richtig verstanden wird. Die Personalpronomen
"ich", "mein", "mir" gehören der
konventionellen Sprache an und ermöglichen die Verständigung von
Menschen untereinander. "Nicht-ich", "nicht-mein",
"nicht-mir" bezeichnen dagegen die Wirklichkeit, wie
Buddhisten sie sehen.
Das Ich verliert an Bedeutung
Die Konsequenz aus ANATMAN scheint, hört man sie zum ersten Mal,
verblüffend. Klassisch formuliert lautet sie so: Das Leiden gibt
es, doch kein Leidender ist da. Die Taten gibt es, doch kein Täter
findet sich. Erlösung gibt es, doch nicht das erlöste Wesen. Den
Pfad gibt es, doch keinen Wandrer sieht man da. (Visuddhi-Magga XVI)
Die praktische Anwendung dieser Lehre hilft unserem Verstehen.
Nehmen wir zum Beispiel ihren sprachlichen Ausdruck. In der
Alltagssprache sagen wir "ich bin aufgeregt` ; auf der
analytischen Ebene entspricht diesem Satz die Wahrnehmung "da
herrscht Aufregung". Anstelle von "ich habe Angst"
spürt man "Angst steigt auf `, anstelle von "ich freue
mich" erkennt man "Freude breitet sich aus". Der
Mensch gewahrt unmittelbar, was gerade geschieht. Er gewahrt auch,
dass die Vorstellung von einem Ich nicht gebraucht wird, um
zutreffend erkennen zu können, was in ihm selbst und in seiner
Umgebung vorgeht.
Das Ich will Sicherheit
Alles fließt! Das bedeutet, alles wird, nichts ist. Das Ich, die
Illusion von etwas Beständigem im Menschen, nährt sich aus der
Vergangenheit, es ist ihr Resultat. Der Mensch schleppt Vergangenes
mit sich herum, Erinnerungen an schöne Zeiten, an Verdienste, an
die Verursacher von Leiden, die man erdulden musste, an alte
Rechnungen, die es noch zu begleichen gilt. Solange der Mensch durch
Vergangenes bedingt wird, ist er nicht frei für die Gegenwart, und
weil man nur im Heute leben kann, verwehrt ihm das von Verflossenem
zehrende Ich ein lebendiges Dasein im Jetzt. Die Zukunft
beschäftigt das Ich nicht minder. Sie macht ihm Angst. Deshalb
sucht das Ich sich zu schützen, indem es Geld und Besitz ansammelt,
indem es an alles mögliche glaubt, das ihm Schutz und Sicherheit
verheißt, Das Ich will Sicherheit. Ein unsicheres Ich fühlt sich
minderwertig und deprimiert. Alles Leiden, so lehrt der Buddha,
entsteht aus einem falschen Ichglauben. Befreiung vom Leiden fällt
somit zusammen mit Befreiung vom Ichglauben überhaupt: Gibt man
sein Ich auf, dann hängt man nicht länger an Vergangenem, dann
fürchtet man nicht, was alles noch kommen könnte, dann wird man
frei, die Gegenwart zu erleben, d.h. frei zu fließen, ohne von
irgendetwas gestaut zu werden.
Der Mensch als Ensemble verschiedener
Bestandteile
Die ANATMAN-Lehre ist uns freilich noch die Erklärung schuldig,
wie denn ein ichloser Mensch funktionieren soll. Wie das Wort
"Fahrrad", so benennt auch das Wort "Mensch" ein
Ensemble aus verschiedenen Bestandteilen. Auf Sanskrit nennt man
solch einen Teil des Menschen "Skandha", wir würden sagen
"Aggregat". Fünf solche Aggregate machen den Menschen
aus. Der Körper bildet die Basis. In ihm herrscht ständige
Bewegung, unvorstellbar rasche im Gehirn, langsamere im
Blutkreislauf, beim Atmen, im Stoffwechsel usf. Unsere körperlichen
Sinne verbinden uns sodann mit draußen. Ein weiteres Aggregat ist
die Wahrnehmung: Was ich von mir und der Außenwelt nicht wahrnehme,
existiert für mich nicht. Auf eine Wahrnehmung reagieren wir mit
einem Gefühl. Gefühle bilden dann das dritte Aggregat. Sie
wechseln schnell und lenken unser Handeln. Auch ein viertes Aggregat
steuert unser Verhalten, Auf Sanskrit heißt es Samskara, was mit
"Formationen" oder "Gestaltungen" übersetzt
werden kann. Unsere "Formationen", die wir im Laufe der
Zeit erworben haben, können sich wieder verlieren oder auch
umbilden, sie formen bloß unsere momentane Einstellung zu etwas.
Von jeweiligen Formationen gesteuert, verhalten sich manche Menschen
schamhaft, andere schamlos, manche bescheiden, andere gierig, manche
achtsam, andere zerstreut.
Das Element des Bewusstseins
Das fünfte Aggregat ist schließlich das Bewusstsein. Ohne
Bewusstsein läuft unser Handeln automatisch ab. Wenn unsere Hände
etwa eine Routinearbeit verrichten, können unsere Gedanken
umherspazieren, und wir gleichen geistlosen Robotern. Für
Buddhisten hat das Bewusstsein aber große Bedeutung. Sie üben sich
immer wieder darin, möglichst oft und lange klar bewusst
wahrzunehmen und zu handeln. ANATMAN, wie vom Buddha am Menschen
demonstriert, gilt für alles und jeden auf der Erde, im Himmel und
in der Hölle. Alles setzt sich aus Teilen zusammen, aus materiellen
und geistigen. Das Land, das Meer, die Berge, die Gegenstände
bestehen bloß aus materiellen Teilen. Menschen und Tiere aus
materiellen und geistigen Elementen, die Götter und Geister allein
aus geistigen Bestandteilen. Aber alle wandeln sich ohne Unterlass.
Ein unwandelbares Selbst ist in oder an nichts und niemandem zu
entdecken. Für Buddhisten folgt daraus, dass es nicht lohnt, in die
unbeständige Welt über das Lebensnotwendige hinaus zu investieren.
Wer steuert unseren Kurs?
"Wirklichkeit" kommt allein dem gegenwärtigen
Augenblick zu. Der vorige ist ja bereits vergangen, der nächste
noch nicht gekommen. Aber es fließt nicht kreuz und quer
durcheinander, sondern mehr oder weniger konsequent in diese oder
jene Richtung. Wer oder was steuert als eine Art "Kapitän auf
der Brücke" unseren Kurs? ANATMAN besagt: Ein unwandelbares
Ich, welches den Wandel lenken könnte, das gibt es nicht. Wer oder
was lenkt uns aber dann? In den Religionen kennt man einen oder
wenigstens irgendeinen bestimmten Gott als allmächtigen Lenker. Er
halte alles in seiner Hand, das Leben jedes einzelnen, die Natur mit
ihrem Wandel, das Weltall. Der Atheismus widerspricht diesem Glauben
an einen Gott. Atheisten erkennen keinen Sinn hinter einem Wandel;
alles kommt ihnen absurd vor. Als Lenker nennen sie den
unberechenbaren Zufall.
Buddha lehrt das Gesetz der bedingten
Entstehung
Der Buddha selbst lehrt einen mittleren Weg zwischen Theismus und
Atheismus. Er lehrt das "Gesetz der bedingten Entstehung"
(Pratitya-sam-utpada). Dieses Gesetz besagt: Weil jenes geschah,
geschieht dieses jetzt, und dieses seinerseits wird wieder Folgen
zeitigen. Weil er von Kunden eine Bestellung erhielt, hat
beispielsweise der Tischler den Tisch gebaut. Er konnte ihn nur
bauen, weil er Werkzeug und Holz zur Hand hatte. Holz aber bekam er
vom Holzhändler, Werkzeuge vom Werkzeugmacher. Der Holzhändler
wiederum erhielt das Holz aus dem Wald; dort war es gewachsen, weil
Waldarbeiter Setzlinge gepflanzt hatten, die zuvor von jemandem aus
Samen gezogen worden waren und so weiter und so fort... Kurz:
Bedingte Entstehung lehrt, dass nichts und niemand für sich selbst
oder aus sich selbst zu existieren vermag. Der Mensch lebt vernetzt
mit anderen und mit den Dingen, wird also von ihnen bedingt und
bedingt seinerseits andere und anderes.
Buddha widerspricht einer Schöpfung aus dem
Nichts
Als Gesetz herrscht die "bedingte Entstehung"
unbegrenzt. Der Buddha widerspricht einer Schöpfung aus dem Nichts,
mit der in vielen Religionen die Weltgeschichte beginnt. Auch
spätere Neuschöpfungen erklärt Buddha für unmöglich. Der
Erschaffung aus dem Nichts entspricht als Gegenstück das Ende ins
Nichts. Restlose Abschaffung lässt das Gesetz der "bedingten
Entstehung" ebenso nicht zu. Erneut schlägt hier der Buddha
einen mittleren Weg zwischen zwei Gegensätzen ein, diesmal den
zwischen Schöpfung und Vernichtung.
Die "bedingte Entstehung"
Was immer ein Mensch erkennt und erfährt: warum entsteht es
eigentlich und warum vergeht es wieder? Der Buddha antwortet: weil
alles bedingt ist! Eine Erscheinung entsteht, eine andere schwindet,
und doch reihen sie sich alle ohne Unterbrechung aneinander. Was man
wahrnimmt, sind in Wirklichkeit Ketten aus augenblicklichen
Ereignissen. Denken wir uns einmal einen Menschen, etwa um die
vierzig Jahre alt. Er blättert im Familienalbum und entdeckt ein
Photo von sich als Dreijährigem. Ist der Vierzigjährige nun
derselbe oder ein anderer als das Kind auf dem Photo? Derselbe ist
er natürlich nicht, er hat sich inzwischen erheblich verändert.
Ein anderer ist er aber auch nicht. Vielmehr ist es so: Gestützt
auf seine Vergangenheit als Säugling, als Schulkind, als
Heranwachsender und als Erwachsener ist er dann zu jenem geworden,
der jetzt das Photo von früher betrachtet.
Im Sterben geht die Energie neue Wege
Die "bedingte Entstehung" löst ein typisch indisches
Problem. Dabei geht es um die Frage, wie Wiedergeburten ohne Atman
möglich sein können. Im Sterben, so lehren Buddhisten, hört das
Bewusstsein nach und nach damit auf, einen physischen Leib zu
beleben. Die frei gewordene Energie sammelt sich und verlässt den
Körper, doch nicht irgendwohin, sondern in eine gewisse
"Richtung", die auf dem bisherigen Lebensweg vorgeprägt
wurde. Sie wird also gelenkt von heilsamen oder von unheilsamen
Geistformationen. Entweder ist man dann für immer von
Wiedergeburten befreit, oder man bleibt am Leben haften und beginnt
mit einer weiteren Empfängnis eine neue Existenz. Um so
wiedergeboren zu werden, ist mithin eine ewige, unwandelbare Seele,
die von einer Existenz zur nächsten wanderte, gar nicht notwendig.
Wie kommt es zu einer menschlichen Tat?
Selbstbeobachtung ließ den Buddha entdecken, wie menschliches
Tun zustande kommt, d.h. wodurch bedingt es entsteht. Diese Einsicht
ist von großer praktischer Bedeutung, denn sie legt eine
Schaltstelle frei, an der man den Fluss des Seienden von Unheilsamem
weg, zu Heilsamem lenken kann. Ständig entstehen ja neue
Situationen. Die Außenwelt spielt dabei ihre bedeutsame Rolle
ebenso wie die Innenwelt des Menschen oder beide zusammen. Die
Wahrnehmung solcher Impulse führt zum Kontakt mit ihnen. Ein
solcher Kontakt weckt dann ein Gefühl, ein ablehnendes, begehrendes
oder auch neutrales. Jedes Gefühl wiederum bedingt eine zustimmende
oder eine ablehnende Haltung gegenüber der jeweiligen Situation.
Die eine wie die andere Haltung führt zum Verhaftet sein. Was aber
die Gedanken nicht mehr loslassen, das führt zur Tat. Man will
bekommen, was angenehm erscheint, man will vermeiden, was unangenehm
ist. Buddhisten erleben solche Abläufe bewusst. Besonders achten
sie auf jene Zeitpunkte, in denen ein Gefühl auf die Wahrnehmung
einer neuen Situation zu antworten beginnt. An solchen Übergängen
lässt sich die Kette der automatisch ablaufenden Bedingungen
unterbrechen, man kann dort sozusagen aus der verderblichen Richtung
des Fließens aussteigen und den Fortgang einer unheilsamen Tat noch
unterbrechen.
Wo findet das Leben nach dem Tod statt?
In allen Religionen kennt man ein Leben nach dem Sterben. Der
Mensch legt dabei seine irdische Daseinsform ab und wechselt in eine
andere über. Wo man an den Fluch ständiger Wiedergeburt glaubt,
dort bringt erst ein endgültiger, letzter Übergang in eine tod-
und geburtlose Existenz die Erlösung. Wie lebt man im Jenseits?
Zwei widersprüchliche Vorstellungen zeigt uns dazu die
Religionsgeschichte. Die einen hoffen auf ein Leben in Herrlichkeit.
Man stellt sich also paradiesische Zustände vor, in denen jeder
noch viel angenehmer leben kann als der reichste Nabob auf Erden
(ohne aber von dessen Ängsten und Sorgen geplagt zu werden). Andere
stellen sich aber eine dämmerige Schattenwelt vor, in der das Leben
nicht viel anders verläuft als auf der sonnenbeschienenen Erde.
Demnach ist diese Unterwelt kein Ort der Strafe, keine Hölle, da
man dort von lauter guten Verwandten umgeben sein wird. Man lebt
fort bei den Urvätern und Urmüttern, deren Liebe jeden Nachkommen
warm hält.
Wie kommt es zur Erlösung?
Auch Buddhisten kennen recht schöne Paradiese. Sie hoffen dann,
als Lichtwesen in einem der Himmel wiedergeboren zu werden: Dort
dürfen sie sehr, sehr lange verweilen. Doch der Tag kommt, an dem
heilsames Tun aus früheren Leben aufgebraucht sein wird und man
einer neuen Geburt entgegensehen muss. Die paradiesischen Himmel der
Buddhisten beherbergen also noch keine wirklich Erlösten. Die
endgültige Erlösung, der keine Wiedergeburt mehr folgen wird, sie
heißt NIRVANA. Doch wer oder was ist ein Erlöster? Nach der Lehre
des Gautama wird der Mensch nicht erlöst, er muss sich selbst
erlösen. Da man nur sich selbst und niemand anderen erlösen kann,
kennen Buddhisten keinen Erlöser. Einen Erlösten nennen sie den
"So-gegangenen". Damit meinen sie jemanden, der den Weg
vollendet hat, der ans Ziel gelangt ist. Das Ziel wird erreicht,
sobald ANATMAN verwirklicht wird, wenn ein Mensch sich an nichts
mehr klammert.
Wie kann man Nirvana begreifen?
Zeitgenossen wollten dieses genauer wissen. Sie bohrten bei
Shakyamuni nach, wie denn ein Vollendeter im NIRVANA sei - was im
Lichte von "alles fließt" schon als falsch gestellte
Frage anzusehen wäre. Meist beantwortete der Buddha falsche Fragen
mit Schweigen. Diesmal fand er Worte. Man fragte ihn also, wo denn
ein Freigewordener wiedererscheine. Er antwortete, man könne nicht
sagen, dass er wiedererscheine. Also erscheint er nicht wieder? Auch
das kann man nicht sagen. Dann erscheint er wieder und erscheint
auch nicht wieder? Auch so kann man nicht sagen. Dann stimmt weder,
dass er wiedererscheint noch dass er nicht wiedererscheint? Auch das
kann man nicht sagen. Dieses kategorische "So nicht!" des
Buddha, was bedeutet es? Es bedeutet: Niemand kann NIRVANA
begreifen, es sei denn, man hat es erlangt.
Die Beschreibung des Nirvana
Die Lehre des Gautama Buddha wurde später systematisiert im
Abhidharma, was soviel heißt wie "höhere Lehre". Dort
wird NIRVANA als Zustand beschrieben, an dem nichts Materielles mehr
haftet. Darum vermag allein der Geist NIRVANA zu gewahren, der
Geist, aber nicht die Sinne, denn sie basieren auf materieller
Leiblichkeit, mit ihnen erfassen wir die materielle Welt. Der Geist
aber erfährt NIRVANA als einen Zustand dauernden Glücks ohne die
geringste Spur von Leid. Im NIRVANA vergeht nichts und stirbt
nichts. Das Wort "Geist" (Pali: Citta) wird im Abhidharma
synonym mit dem Wort "Bewusstsein" (Pali: Vinnana)
gebraucht. "Geist" bezeichnet also nur einen
Bewusstseinszustand. Der Mensch setzt sich aus fünf Aggregaten
zusammen, von denen keines das Sterben überlebt. Im Tode verlässt
auch das sogenannte Sterbebewusstsein den abgestorbenen Leib. Dieses
letzte Bewusstsein verschmilzt mit einem neuen mütterlichen und
einem neuen väterlichen Keim zu neuer Existenz. Davon lässt es
sich nicht mehr ablösen. Den Eingang ins NIRVANA wird man sich
ähnlich vorstellen müssen, allerdings vollzieht er sich rein
geistig, ohne materielle Beteiligung.
Die Formung des Bewusstseins
Systematisch besagt Abhidharma folgendes: Die Welt setzt sich
zusammen aus wechselnden Kombinationen von insgesamt 84 Faktoren.
Von ihnen sind 28 materieller, die Mehrzahl, nämlich 56, sind
geistiger Art. Unter den geistigen gibt es wiederum 54
"Geistfaktoren" (Pali: Cetasika). So heißen sie, weil sie
das Bewusstsein qualifizieren. Wenn sie kommen und gehen, verbinden
sie sich mit dem Bewusstsein, färben es gleichsam für die Dauer
ihres Erscheinens. Man unterscheidet unheilsame, heilsame und
neutrale Geistfaktoren. Ein verblendetes Bewusstsein lässt sich mit
der Zeit durch ein erkennendes ersetzen, ein gieriges durch ein
genügsames, ein gehässiges durch ein liebendes. Mit Verblendung,
Gier und Hass schwindet auch jeder andere Unheilsfaktor dahin, da er
von Nichtwissen bedingt war. Die Umkehrung des Nichtwissens in das
Erkennen wird somit zum Schlüssel der Erlösung. Das NIRVANA
erfährt mithin ein gereinigter Geist, d.h. unverblendetes
Bewusstsein. Ziehen wir die 52 "Geistfaktoren" von den
insgesamt 54 nichtmateriellen Faktoren ab, dann bleiben zwei übrig,
ein weltlicher und ein überweltlicher. Der weltliche Faktor ist der
eben schon genannte "Geist" (Citta). Er ist ohne
eigenständige Substanz und dient nur als Kollektivname für die 52
verschiedenen Bewusstseinsarten. Der überweltliche Faktor aber
heißt NIRVANA. Im Abhidharma lehrt man NIRVANA als
Bewusstseinszustand.
Wunsch nach einer Ordnung der Lehren
Buddha Gautama hatte Fragenden geantwortet seine Lehrreden (Sutren)
behandeln folglich bloß einzelne Probleme. Man wünschte sich
später eine zusammenhängende, systematisch geordnete Lehre. Im
Abhidharma wurde ein solches Systemgebäude errichtet. Beides, die
Sutren des Gautama und deren Systematisierung bilden die erklärende
Überlieferung des sogenannten südlichen oder Pali-Buddhismus, der
in Südostasien und Sri Lanka seine Heimat hat und der sich selbst
"Theravada" nennt, Lehre der Thera, der Alten oder
Ältesten.
Indessen, nichts bleibt so, wie es ist, auch keine Religion und
keine Lehre. Zwar hat der neue Buddhismus des Mahayana, des
"Großen Fahrzeugs", die Sutren Shakyamunis nicht
angetastet. Man hat sie einfach aus dem Pali ins Sanskrit, ins
Chinesische, Japanische und Tibetische übersetzt. Dort werden sie
als die frühe Lehre geachtet und bis heute auch gelehrt. Doch die
Entwicklung der Lehre hat die älteren Sutren des Theravada
schließlich überholt.
Es erfolgte ein Paradigmenwechsel
Was ist geschehen? Die Lehren des Buddha Gautama gehen von Fakten
aus, die ein jeder zu erkennen, deren Schlussfolgerungen jeder zu
überprüfen vermag. An die Stelle nüchterner Daseinsanalyse trat
nun auch Offenbarung, wie sie uns in vielen anderen Religionen
begegnet. In der Wissenschaftsgeschichte spricht man von
"Perspektiven-" und von "Paradigmenwechsel". In
der Religionsgeschichte findet dieser Wechsel fast immer in
umgekehrter Reihenfolge statt: Das, was jeder feststellen kann,
macht nach und nach offenbarte Lehren vom Unsichtbaren
überflüssig. Mit dem obigen genannten Wechsel im Buddhismus hängt
noch ein weiterer zusammen. An die Stelle des rein menschliche
Buddha- und Bodhisattvagestalten. Letztere sind Wesen (Sattva), die
das Erwachen (die Bodhi) schon in sich tragen, die sich aber noch
davor "zurückhalten", Buddha zu werden, weil sie zuvor
Unerlösten zur Erlösung verhelfen wollen.
Von "Alles fließt" zu "Alles
wird leer"
Noch ein dritter Wechsel wird sichtbar. Zuerst gibt es den
Wechsel vom "Alles fließt" zum "Alles ist
leer". Das Bild vom Fließen kennen und nennen neben dem
Griechen Heraklit auch Shakyamuni und die Buddhisten nach ihm.
Fließen erlaubt kein Verweilen; wer fließt, sucht gar keinen
Grund, auf den er sich stellen könnte. Der neue Buddhismus wechselt
von der Ebene des Geschehens hinüber zur Ebene des Stehens, zum
Sein. Freilich bleiben auch die neuen Buddhisten Buddhisten. Dem
unaufhörlichen Fließen entspricht für sie im Bereich des Seins
nichts mehr, an dem man sich festhielte, gar nichts, auf dem man zum
Stehen käme. Jene Standpunktlosigkeit nennen sie SHUNYATA,
"Leerheit". Dieses Wort selbst ist nicht neu. "Alles
ist leer" (shunya), so hört man es bereits aus dem Munde des
Gautama Buddha, wenn er mit ANATMAN die Existenz eines Dauerhaften
leugnet, das dem Wandel nicht anheim fiele. Neu ist, dass SHUNYATA
von nun ab (d.h. seit etwa der Zeitenwende) die Lehrüberlieferung
außerhalb von Südostasien und Sri Lanka beherrschen wird.
Die neuen Sutren
Die Überlieferung der Lehre des Gautama Buddha besteht aus
seinen Lehrreden und aus deren Systematisierung. In der neuen
Lehrüberlieferung ist es nicht anders. Es gibt die Sutren, und es
gibt Systematiker. Die Sutren entstanden in Indien im Zeitraum von
100 vor bis 600 nach Christus. Fast vierzig Texte sind erhalten.
Gautama wollte die natürliche Verblendung des menschlichen Geistes
durch Einsicht ersetzen, die jeder selber gewinnen muss. Die neuen
Sutren lehren transzendentes Wissen, "Weisheit, die hinüber
gelangt ist", (Prajna-param-ita).
Im Mahayana schätzt man ganz besonders das "Herz-Sutra".
In ihm wird dargelegt, wie der Bodhisattva Avalokiteshvara, in
transzendenter Weisheit weilend, von hoch oben herabschaut: Was er
erblickt, das sind jene fünf Aggregate, aus denen der Mensch
besteht. Er sieht, dass sie leer sind. Sariputra, der von allen
Jüngern des Gautama Buddha als der weiseste galt, lehrt nun: Der
Körper, so offenbart dieser Bodhisattva, ist SHUNYATA, und Leerheit
ist der Körper, es ist dasselbe. Ebenso die Wahrnehmung, die
Gefühle, die Geistformationen und das Bewusstsein. Jedes Ding
(Dharma), so lehrt der Bodhisattva, ist Leerheit. Es wird mithin
weder verursacht noch zum Enden gebracht, es ist nicht verunreinigt
oder makellos, nicht mangelhaft oder vollkommen.
Alte und neue Lehren teilen sich
Hier gehen die alte und die neue Lehre offensichtlich etwas
andere Wege. Gautama lehrte die bedingte Entstehung. Er lehrte, dass
es unheilsame und heilsame Geistformationen gebe, dass man
mangelhafte durch vollkommene ersetzen könne und solle. Doch der
Bodhisattva hebt im Lichte transzendenter Weisheit überhaupt alles
auf, er reißt alles weg, auch das wenige, das von Gautama und
seinen Systematikern noch als im Fließen vorhanden übrig blieb.
Die Leerheit, so heißt es, löscht alles aus, was die Dinge
unterscheidet. Weil sie leer sind , gibt es weder Gestalt noch
Gefühl, weder Wahrnehmung noch Bewusstsein, auch nicht die
Sinneseindrücke von Auge, Ohr, Nase, Zunge, Haut und Geist. Es gibt
kein Nichtwissen und kein Ende des Nichtwissens. Es gibt weder
Verfall noch Tod. Es gibt kein Leiden, kein Entstehen und Vergehen,
keinen Weg. Es gibt weder Erlangen noch Nicht-Erlangen, also auch
kein Erwachen, kein Buddha-Werden, keine Erlösung.
Alle Dinge sind leer
Zwischen den Dingen, so lehrt der Bodhisattva, gibt es keinen
wesenhaften Unterschied, alle sind sie leer. Zugleich ist Leerheit
das, was alle eint, weil es allem und jedem wesentlich zukommt.
Damit ist die neue Lehre zu jenem Punkt zurückgekehrt, von dem
Shakyamuni einst ausgegangen war. Er hatte dem Glauben
widersprochen, Gott sei als Grund alles Seienden in allem Seienden
zu finden, alles Wandelbare besitze einen unwandelbaren Kern. Dem
hatte der Buddha ANATMAN entgegengesetzt. Jetzt waren seine
Nachfolger wieder bei einem Grund alles Seienden angelangt. Als
Erben des Gautama lassen sie jedoch nicht ab von der ANATMAN-Lehre.
Mithin deuten sie den gemeinsamen Grund weder göttlich, noch
füllen sie ihn sonst wie positiv, sondern negativ als Leerheit, die
indessen wie Gott unwandelbar, allgegenwärtig und ewig sein soll.
Der Gelehrte Nagarjuna: Denken behindert
Erkenntnis
Nagarjuna lebte im 2. Jh. n. Chr. in Südindien. Er baute auf
Lehren des Gautama Buddha au£ Beide unterscheiden zwei Ebenen der
Erkenntnis: diejenige der Alltagskonventionen und diejenige der
Eigentlichkeit. Beide sehen nur Werden und kein Sein. Beide lehren
den Wandel auch beim Erkennen. Man kann nur wissen, was dem Stand
des eigenen gegenwärtigen Werdens erreichbar ist. Der berühmte
Gelehrte demonstriert, wie Denken die Erkenntnis der letzten
Wirklichkeit behindert. Denken wird gefärbt vom Begehren der
Denkenden. Ihr Begehren führt sie dazu, die Dinge zu unterscheiden.
Weil sie dieses mögen, jenes aber nicht, machen sie Unterschiede.
In der Alltagswelt kommt man nicht umhin zu unterscheiden: "Das
ist ein Stuhl und kein Tisch" ; "Ich bin hier und du bist
dort".
Unterscheidungen zu treffen führt nicht zur
Erkenntnis des Eigentlichen
Zur Erkenntnis des Eigentlichen aber führt das Unterscheiden
nicht. Warum nicht? Weil alles rückbezogen ist, weil nichts und
niemand ohne Verhältnis zu anderem sein kann. Den Macher gibt es
nicht ohne das Gemachte und das Gemachte nicht ohne den Macher. Die
Mutter gibt es nicht ohne ihr Kind und dieses nicht ohne seine
Mutter. Feuer existiert nicht im Brennstoff, aber auch nicht ohne
Brennstoff. Brennstoff existiert nicht im Feuer, aber auch nicht
ohne Relation zum Feuer. Was mit anderem zusammenhängt, was relativ
ist, kann kein absolutes Sein besitzen, kann nicht aus sich selbst
existieren. Beim Unterscheiden kann man die Relation zwischen zwei
Dingen übersehen und von ihnen reden, als wären beide absolut. Man
sagt zum Beispiel, Licht sei das Gegenteil der Finsternis. Dabei
gibt es das eine nicht ohne das andere, denn ohne Dunkelheit
wüssten wir nicht, was Licht ist und umgekehrt. Unterscheiden, so
lehrt Nagarjuna, verleitet dazu, scheinbar Dauerhaftes zu entdecken.
Etwas, das er für beständig hält, verleitet den Menschen, daran
anzuhaften. Buddha lehrt, nicht anzuhaften. Begreift der Mensch,
dass es nichts Dauerhaftes gibt, dann begreift er auch die
Sinnlosigkeit allen Anhaftens. SHUNYATA beseitigt alle Probleme.
Doch nicht, weil sie irgendwie gelöst würden, sondern weil die
Probleme keine mehr sind. Man lebt zwar im Alltag und unterscheidet
darum alle möglichen Dinge; doch man vergisst, dass alle leer sind.
Aus solcher Weisheit wächst das Glück geistiger Freiheit. Der
Mensch wird befreit aus einem Netz, das er selber knüpft.
"Alles ist leer" gilt auch für das
Nirvana
Auch vor dem NIRVANA macht Nagarjunas Analyse nicht halt. Buddha
Gautama sieht im NIRVANA den Gegensatz zur Wandelwelt. Er spricht
vom Ungeborenen, Todlosen, Unwandelbaren. Im Abhidharma aber lehrt
man NIRVANA als Bewusstseinszustand , in dem das Ich mit seinen
Begierden und Abneigungen überhaupt nicht mehr existiert: Nagarjuna
lehrt "alles ist leer", einschließlich des NIRVANA. Da
auch die Wandelwelt leer ist, sind beide gleich, das Heil und das
Unheil. Sie sind gleich leer, doch sie sind nicht dasselbe!
Auf der Alltagsebene, so lehrt Nagarjuna, ist die Rede von der
Erlösung und vom Heilsziel nützlich, denn sie lenkt den Geist von
Unwissen und Gier fort. Doch da lauert auch eine Gefahr, die
Möglichkeit nämlich, NIRVANA für ein Objekt zu halten, für
etwas, das der Mensch ergreifen, an dem er anhaften könnte.
Indessen, es gibt nur Werden, Sein gibt es nicht! Das zu wissen
verleiht Macht, aber nicht zum Tun, sondern zum Nicht-Tun. So
gesehen, erscheint NIRVANA als das Nicht-Nachtanken von Brennstoff
für die Flammen von Gier und Hass.
Existiert Nirvana?
Wie vor ihm der Buddha so wurde auch Nagarjuna mit den vier Seins-Fragen
der Logik seiner Zeit konfrontiert. Existiert NIRVANA? Existiert es
nicht? Ist es existent und zugleich nicht-existent? Ist es weder
existent noch nicht existent? Wie vor ihm der Buddha verneint auch
er alle vier Fragen. Mehr noch, am Begriff der Existenz demonstriert
Nagarjuna das Versagen des Denkens als Versuch, das Undenkbare zu
erfassen. "Existenz" ist ein Denkprodukt. Als solches lebt
es von der Unterscheidung. Was von anderem abhängig existiert, das
altert und stirbt. Würde NIRVANA existieren, so müsste es altern
und vergehen. Wäre NIRVANA unabhängig, ein Absolutes (Svabhava),
dann würde es weder altern noch sterben. Dann gehörte es aber
einer ganz anderen Art von Seiendem an. Dann wäre es nicht mehr
verwandt mit fließender Existenz und allen unerreichbar, die
fließend leben. Daraus schließt Nagarjuna, dass der Begriff der
Existenz zur Erkenntnis der wirklichen Wirklichkeit nicht taugt.
Deutung der Shunyata
NIRVANA ist kein greifbares, kein begreifbares Seiendes, NIRVANA
ist leer.
Zu welchem Ergebnis sind wir gelangt? Wie sollen wir SHUNYATA
fassen, die "Leerheit" der Prajnaparamita-Sutren und des
Nagarjuna? Die Frage nach dem Gegenteil lässt sich leichter
beantworten. Sie lautet: Wie dürfen wir SHUNYATA nicht deuten? Jene
Art "Leerheit" hat weder die "Vollheit" zum
Gegenteil noch irgendetwas anderes. Daher ist es falsch, sie dem
Nichts und dem Nihilismus gleichzusetzen. SHUNYATA bezeichnet auch
nicht das tatsächliche Fehlen, das Nichtvorhandensein von etwas,
wie z.B. des Wassers in der Wüste. Ebenso wenig die bloße
Möglichkeit des Nichtvorhandenseins von etwas, wie wenn man über
die Bestandteile eines zur Zeit noch unerreichbar fernen
Himmelskörpers spekuliert. Diese "Leerheit" darf man auch
nicht buddhistisch oder psychologisch auf das Bewusstsein beziehen
und als dessen Ausfall deuten, als zeitweilige oder immerwährende
Bewusstlosigkeit. Vor allem ist SHUNYATA keine Chiffre für eine
unerforschliche absolute Wesenheit. Vielmehr will Nagarjuna mit
diesem Namen jene Position markieren, die zwischen Sein und
Nichtsein liegt. Auf einem solchen Punkt findet das Denken keinen
Halt mehr, dort muss
es aussetzen. Wegen dieser Zwischenposition nennt man die Schule
des Nagarjuna den "Mittelweg" (Madhyamika).
Die Schwierigkeit Anatman, Nirvana und Shunyata
zu begreifen
Die Aufgabe war zu erhellen, was sich hinter den drei
Bezeichnungen ANATMAN, NIRVANA und SHUNYATA verbirgt. Wer fern von
Buddhisten aufwuchs, dürfte die drei fremden Vorstellungen nicht
auf Anhieb begreifen. Selbst für den Buddhisten werden sie erst auf
einer hohen, wenn nicht gar erst auf der allerhöchsten Stufe des
Buddhaweges vollkommen durchschaubar. Namen, Bezeichnungen,
Begriffe, sie gehören zum Wissen, zur Lehre einer Religion. Was
hier ausführlich nicht mehr zur Sprache kommen konnte, ist zum
einen die Frage nach der Wurzel dieser Vorstellungen und zum anderen
ihre Frucht. Gewachsen sind sie aus buddhistischer Versenkung, in
der sich auf einer anderen Ebene als auf der des Alltags und auf der
des reflektierenden Denkens Wesentliches zu erkennen gibt. Bewirken
sollen sie ein überwältigendes Glücksgefühl. Gespeist wird solch
ein Glück von Gleichmut, der aus Ichlosigkeit entsteht, d.h. vom
Nichtmehranhaften, sei es an Weltliches, sei es an Überweltliches.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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