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Buddhismus im rationalen Europa

Von Johann Figl (Biografie)

 

Die von der Religion emanzipierte Rationalität europäischer Prägung verhält sich nicht nur zur Herkunftsreligion Christentum kritisch, sondern ebenso zu den religiösen Traditionen anderer Kulturen. So auch gegenüber dem Buddhismus, näher hin auf den in Europa anzutreffenden Buddhismus. Der folgende Beitrag bringt das Verhältnis wesentlicher Elemente buddhistischer Lehrtradition zu zentralen Aussagen der europäischen Geistestradition zur Sprache. In dieser Begegnung zeigt sich, dass es sowohl zu einer Relativierung als auch zu einer Radikalisierung der Kritik aus dem Westen kommen kann.

In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wandten sich die frühen Buddhisten des Westens dieser neuen Religion vor allem aus intellektuellen, theoretischen Motiven zu. Die jüngere Generation wurde mit dem Stichwort "Meditativer Buddhismus" (A. Baumann, Deutsche Buddhisten. Geschichte und Gemeinschaften, Marburg 1993, Seite 79ff) erfasst. Sie stellt in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten den Gedanken der spirituellen Praxis in den Vordergrund. Bei den ersten westlichen Buddhisten war die Lehre des Buddhismus das Entscheidende. Sie erblickten in ihm "eine wissenschaftliche, eine Erkenntnisreligion", wie Karl Seidenstücker sagt (K. Seidenstücker, Was bringt uns die Zukunft?, 1907, Seite 265, zit. nach A. Baumann, a.a.0. S. 58). Eine vernünftige Religion war angestrebt, die auch mit der modernen Naturwissenschaft in Übereinstimmung gebracht werden konnte. "Gerade die Darstellung des Buddhismus als ,Religion der Vernunft` ermöglichte eine deutliche Distanzierung vom dogmatisch empfundenen Christentum und eine Orientierung an aufklärerischen Werten wie Vernunft und Selbstverantwortung" (A. Baumann, a.a.0. S. 244). Dieses Argument bestimmte viele der älteren Buddhisten und wirkt bis in die Gegenwart noch stark fort.

Gegensätzliche Struktur von Buddhismus und Christentum

Der Begeisterung für die "Vernunft-Struktur" des Buddhismus entspricht eine heftige Ablehnung der als heteronom verstandenen Glaubensstruktur des Christentums. In einer Vereinfachung einer verbreiteten religionsphänomenologischen Unterscheidung wurden damals die Erkenntnisreligionen des Ostens den Offenbarungsreligionen gegenübergestellt (Vgl. H. Titschack, Christentum und Buddhismus, Wien 1980, Seite 8f).

An den genannten Motiven ist unschwer ablesbar, dass die rationalistische Kritik der Aufklärung und Motive der atheistischen Religionskritik des 19. und 20. Jahrhunderts im Selbstverständnis einiger westlicher Buddhisten eine wichtige Rolle bei der Abkehr vom Christentum gespielt haben, bzw. positiv formuliert, dass die Begegnung mit dem Buddhismus als einer Religion, die diese belastende Hypothek nicht hat, wie eine befreiende Erfahrung wirken konnte.

Buddhismus wirkt als Bestätigung rationaler Denkstrukturen

Zusammenfassend können wir feststellen, dass für westliche Buddhisten die Begegnung mit dieser Religion des Ostens keineswegs eine Infragestellung der Aufklärung und der rationalen Kritik bedeutete, sondern deren Bestätigung. Die religionskritische Komponente wurde dadurch verstärkt. Die Emanzipation wurde so mit religiösen Gründen noch unterstützt. Die Vernunftorientiertheit der östlichen Religion wurde betont, ihre Nüchternheit, ihr klarer Blick, ihre anscheinend nichtmetaphysische Ausrichtung, ihre Ablehnung jeglicher metaphysischer "Hinterwelt" und die Infragestellung vordergründiger, religiös-magischer Auffassungen und kultischer Praktiken. Im Buddhismus wurde eine Vernunftreligion gefunden, eine Religion, die sich mit den Postulaten der Emanzipation, der Gleichheit und Freiheit vereinbaren ließ. Der zweite Aspekt, die meditative Dimension, stellte die Rationalität zwar nicht offen in Frage, sie relativierte sie jedoch. In der religiösen Praxis waren nämlich Übungen vorherrschend, die von der Sache her einen Primat der Rationalität problematisierten. All dies wurde immer kohärent gesehen.

Buddhismus als Überwindung europäischer Rationalität

Mit dieser zweiten Erfahrung ist also eine Dimension am Buddhismus angesprochen, die nicht so ohne weiteres mit dem Selbstverständnis westlicher Tradition kompatibel ist. Es zeigt sich mit ihr eine Dimension, die auf anthropologischen Grundlagen beruht, und m.E. eine radikale Infragestellung des europäischen Vernunftanspruches bedeutet - wie auch umgekehrt die buddhistische Konzeption aus europäischer Sicht als kaum kompatibel erscheinen musste. Dieser Gegensatz zeigt sich einerseits deutlich auf der Ebene der philosophischen und anthropologischen Grundperspektiven, die der Buddhismus befolgt bzw. die sich im Unterschied dazu andererseits in der abendländischen Tradition als maßgebend herausgestellt haben.

Unterschiedliches Verständnis den Vernunftbegriff betreffend

Die Problematik rankt sich um die theoretische Kohärenz zwischen buddhistischer Geistigkeit und europäischem Selbstverständnis. Das betrifft vor allem den Vernunftbegriff, der für unsere westliche Tradition so maßgebend war und der die Anthropologie, das Verhältnis des Menschen zum Tier, zur Umwelt bestimmt hatte. Freilich die Rationalität ist keine neuzeitliche Erfindung; sie bleibt klassisches, antikes Erbe. Der Mensch wird schon von Aristoteles als animal rationale bestimmt. Dadurch ist eine wesentliche Differenz zum Tier gegeben; Descartes, der eine besonders scharfe Abgrenzung zur Welt der Tiere zieht, betrachtet sie - weil ohne Vernunft - geradezu als eine Art von "Automaten". Sein entscheidendes Argument ist die Selbstbegründung der Vernunft. Die Begründung aller Maßstäbe, Autoritäten oder Traditionen hat sich an der Vernunft zu messen. In ihr ist alles Wissen grundgelegt. In seinen "Meditationes" wollte er Gewissheit finden, Sicherheit; als Mindestbedingung für diese Gewissheit hat er den berühmten Satz formuliert: "Und ich will solange weiter vordringen, bis ich irgendetwas Gewisses (...) erkennen (...) kann. Nichts als einen festen und unbeweglichen Punkt verlangte Archimedes, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen. So darf ich Großes hoffen, wenn ich nur das Geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist." (Meditationes de prima philosophia, hg. Von L. Gäbe, Hamburg, 1977, S. 43)

Ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Sein und Denken bei Descartes

Diesen Archimedischen Punkt meinte er im Subjekt, genauer im denkenden Subjekt, im "cogitare" selbst entdeckt zu haben; von da leitet er die Überzeugung ab, dass er ist. "Sein" wird auf "Denken" gegründet. Die neuzeitliche Ontologie ist demnach so formuliert, dass eine in der Vernunft fundierte Welt im Horizont vernünftiger Erkenntnis erfahrbar wird. Das Bewusstsein ist dann die letzte Basis, auf die sich menschliche Aktivität und Reflexion beziehen. Es gibt dann weder eine objektive Welt, wie in der klassischen Metaphysik, noch selbst Gott, der der Welt und dem Menschen in ihr Grund gibt; denn auch an einem Gott muss man zweifeln; die Maxime heißt: de omnibus dubitare, "an allem ist zu zweifeln", so dass ein "methodischer Atheismus" Hintergrund solcher rationaler Reflexionen ist. Und es ist sogar denkbar, dass irgendein betrügerischer, täuschender Gott mich in eine illusionäre Welt eingeschlossen hat. Das fundamentum inconcussum, das unerschütterliche Fundament, findet neuzeitliche Rationalität im Bewusstsein selbst. Hier ist Vernunft in einem in sich gegründeten Geist, der im Prinzip ohne Transzendenzbezug bestehen kann, wahrhaft autonom geworden, wenngleich Descartes selbst keineswegs einen reellen Atheismus angezielt hat, im Gegenteil; so zeigte die Geschichte der neuzeitlichen Rationalität doch auch diese Möglichkeit.

Säkulare Rationalität europäischer Kulturtradition als Konfrontationspunkt

Wir können zusammenfassen: Das Wesen des Menschseins in der europäischen Überlieferung ist mit einem wie auch immer zu definierenden Begriff von Rationalität verbunden. Es ist eine Tradition, die vorchristliche, christliche und postchristliche Anthropologie dieses Kulturraums maßgebend bestimmt. Solche Rationalität stellt notwendigerweise - aus dem Prinzip des Denkens gewissermaßen - mit einer unausweichlichen Stringenz eine Anfrage an den Buddhismus, wie auch umgekehrt die buddhistische Konzeption des Menschseins, auf die ich gleich näher eingehe, eine fundamentale Infragestellung der europäischen Bestimmung der Vernunft bedeutet. Ich glaube nicht, dass diese Begegnung, die im Grunde eine Konfrontation ist, tatsächlich philosophisch schon durchreflektiert worden ist. Ich glaube, das Problem wird erst deutlich sichtbar, wenn man sich auf die prinzipiellen Optionen buddhistischer Philosophie und neuzeitlicher Anthropologie einlässt.

Relativierung der Vernunft in der buddhistischen Anthropologie

Der Unterschied und vollkommen andere Ansatz wird deutlich, wenn man die Frage stellt, welche Bedeutung die Vernunft im Kontext buddhistischer Anthropologie hat. Wir haben natürlich kein eindeutiges Pendant zum europäischen Vernunftbegriff, wie auch innerhalb der westlichen Tradition dieser Schlüsselbegriff bei fast jedem Philosophen neu bestimmt wird. Auf diese Differenzen innerhalb der jeweiligen Traditionen kann hier nicht eingegangen werden. Vielmehr geht es um die Grunddifferenz zwischen der östlichen und der um es abgekürzt zu sagen - westlichen Tradition, wie Bewusstsein bzw. Vernunft bestimmt wird. Es gibt mehrere Kontexte in der buddhistischen Literatur und Philosophie, in denen das, was die innere Geistigkeit des Menschen darstellt, umschrieben wird.

Die Unterscheidung der 5 Skandhas

Ich möchte mich hier nur auf einen, gewiss sehr zentralen Kontext der buddhistischen Anthropologie konzentrieren. Es ist die bekannte Unterscheidung der fünf Skandhas, wörtlich: Häufungen, Bündel oder Gruppen, die die fünf Bestandteile einer jeden menschlichen Persönlichkeit ausmachen, wie sie uns erscheint. Zweck dieser Analyse ist es, das sei vorweg gesagt, das gewöhnliche Verständnis des Menschen als einer Person mit einem Ich, die also Ich sagen kann, aufzulösen; alles, was nach einem Selbst aussieht, soll dafür als uneigentlich, nicht dem wahren Sachverhalt entsprechend dargestellt werden. 

Die fünf Daseinsgruppen

1. Form und Gestalt als materielle und körperliche Grundlage (rupa)

2. Gefühle und Empfindungen (vedana)

3. die Wahrnehmungen, die den sechs Sinnesorganen entsprechen (samjna) (Vgl. zu den sechs Wahrnehmungsgruppen (die sechste ist jene des Geistes): Nyantiloka, Buddhistisches Wörterbuch, Konstanz 1983, Seite 108)8

4. die psychischen Formkräfte oder Gestaltungen, womit die aktiven Absichten, Tendenzen, Impulse, Willensakte, alles Streben, alle Emotionen usw., ob bewusst oder unterdrückt, gemeint sind (samskara),

5. das Bewusstsein (vijnana) ist dabei das Wichtigste, aber auch am schwersten Greifbare der Skandhas. Erst mit dem Erkennen erfolgt die Bewusstwerdung zunächst der Außenwelt, dann der eigenen Existenz (Vgl. E.Conze, Buddhistisches Denken, Frankfurt/M. 1988, Seite 148).

Das Bewusstsein hat dauerhaften Bezug zum Individuum

Das Entscheidende in unserem Zusammenhang ist nun, dass das Bewusstsein, die Geistigkeit der Menschen, keine Sonderstellung hat, was die Grundmerkmale aller Skandhas betrifft. Sie alle sind von Geburt, Alter und Tod, von Veränderung und Vergänglichkeit gekennzeichnet. Sie alle sind nicht wesenhaft, nicht beständig. Also das, worin Vernunft begründet, kann keine letzte Instanz sein. Es ist ja vom Nicht-Ich gekennzeichnet. Ein moderner Buddhist, Nyantiloka, formuliert das folgendermaßen: "Diese fünf Daseinsgruppen aber bilden, weder einzeln noch zusammengenommen, irgend eine in sich abgeschlossene wirkliche Ich-Einheit oder Persönlichkeit, und auch außerhalb derselben existiert nichts, was man als eine für sich unabhängig bestehende Ichheit bezeichnen könnte, sodass eben der Glaube an eine im höchsten Sinne wirkliche Ichheit, Persönlichkeit usw. eine bloße Illusion ist" (Nyantiloka, a.a.O. Seite 106f; vgl. dazu: Lexikon östlicher Weisheitslehren, Bern/München/ Wien 1988, Seite 357). Dieses "Bewusstsein" ist folglich keine Seele und kein Selbst. Es geht trotz des Anscheins einer Individualität auf die Desubstantialisierung und Entindividualisierung hinaus: Es ist nicht ein Ding, vielleicht eher eine fortlaufende Handlungsfolge. Es ist nicht persönlicher Besitz, sondern letztlich Verlauf unpersönlicher Ereignisse, auch im Geistigen" (Vgl. E.Conze, a.a.O. Seite 152).

Eine Person setzt sich aus verschiedenen Teilen zusammen

Natürlich hat das Bewusstsein eine gewisse Sonderstellung, aber nur eine sehr relative, insofern nämlich die drei übrigen geistigen Skandhas eben durch Bewusstsein definiert werden. Es ist gleichsam Stütze der anderen drei geistigen Skandhas und übt einen beherrschenden Einfluss über sie aus) (Vgl. E.Conze, a.a.O. Seite 148). Die empirische Person ist somit aus Komponenten zusammengesetzt, vergleichbar mit einem Wagen, der aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist, aber doch als ein Wagen benützt werden kann (Vgl. U.Schneider, a.a.O. Seite 98). Es ist eine "Kombination", eine Art Konglomerat.

Vorrangstellung des Geistes in der westlichen Tradition

Mit dieser Sichtweise des Bewusstseins sowie der Personalität unterscheidet sich die buddhistische Anthropologie wesentlich von der westlichen Tradition, in der die Geistigkeit immer eine Vorrangstellung hat, egal wie die Anthropologie sonst konzipiert ist, dualistisch als Leib-Seele oder trichotomistisch, wie insbesondere in der neuplatonischen Tradition als Geist-Seele-Leib. Der Geist hat immer eine Vorrangstellung, die nicht nur als leitendes Prinzip zu verstehen ist, wie es auch im Buddhismus gegeben ist, sondern vielmehr essentiell, sodass er substantiell ewig ist, buddhistisch gesprochen: dem Kreislauf des Entstehens und Vergehens enthoben. In der neuzeitlichen Kontextuierung ist dieser Geist als Vernunft verstanden, die in sich selbst letztlich gründet und dadurch allem Nichtvernünftigen überlegen ist; namentlich der animalischen Welt.

Ist eine buddhistische Verneinung der Individualität mit westlichen Traditionen vereinbar?

Inwiefern ist das westliche Selbstverständnis mit buddhistischen Grundannahmen vereinbar? Handelt es sich hier nicht um eine radikale Verneinung des Ichs, der Person, der Individualität, also zentraler Begriffe der "westlichen" Tradition? Wenn solche Schlüsselbegriffe neuzeitlichen Bewusstseins, in denen etwa die Autonomie der emanzipierten Vernunft grundgelegt ist, unterlaufen werden, wie soll dann die Rationalität, also die Vernunft und ihre Kritik, die auf der ersten Ebene stattfindet, bewahrt werden? Denn gewiss wird durch die buddhistische Konzeption das westliche Selbstverständnis in Frage gestellt. Die Rückfrage an den Buddhismus muss lauten, ob Ich-Bewusstsein und Vernunft wirklich nur als bloße Begleiterscheinungen vor- und überindividuell ablaufender Phasen eines ewigen Werdeprozesses betrachtet werden können. Lässt sich ein von dieser betont vernunftorientierten Tradition geprägtes Selbstverständnis problemlos mit dieser Grundlehre des Buddhismus vereinbaren? Werden hier nicht theoretische Barrieren zu leichtfertig übergangen? Nicht nur der Mensch ist in diesem Sinn ohne Wesensmitte - trotz seiner Sonderstellung innerhalb aller Daseinsregionen und Lebewesen - , sondern jedes Ding ist ohne Wesensnatur essenzlos, leer, wie in der Linie frühmahajanistischer Philosophie, insbesondere der Nagarjunas, gelehrt wird.(Vgl. zur Madhyamika- bzw. Sunyavada-Schule bes. S. Dasgupta, A History of Indian Philosophy, Vol.l, Cambridge 1922, S. 14)

Verschiedene Existenzen sind in der Wiedergeburt möglich

Die Einbindung des Bewusstseins, des Geistigen, in den Prozess des samsara, den Kreislauf der Existenzen und Wiedergeburten, zeigt in einem anderen Aspekt die Relativität der rationalen Bestimmung des Menschseins, insofern nämlich verschiedene Existenzweisen für sie möglich sind, auch jene des Tieres oder irgendeiner anderen nichtvernünftigen Existenz. Die Überwindung dieses Kreislaufes der Erlösung, das Eingehen in das Nirvana ist dann dem Menschen nur nach Wiedergeburten als Mensch wiederum möglich. Darin ist die Überlegenheit der anthropologischen Daseinsform als Mensch buddhistisch begründet. Doch im Kreislauf selbst bedeutet dies permanente Zäsur von der Welt des Tierischen. Hierin liegt ein deutlicher Gegensatz zur abendländischen Bestimmung, des Verhältnisses von Tier und Mensch vor, der die Relativität des Vernunftgemäßen im buddhistischen Kontext aufzeigt. Demnach gibt es keine strikte Trennung zwischen Tier, Mensch und Gott.

Wiedergeburt ist für säkulares Verständnis schwer nachvollziehbar

Für ein säkulares Verständnis, das wesentlich immanent bestimmt ist, wird jegliche Art von nachtodlichem Sein schwer vollziehbar. Im besonderen bleibt eine unendliche Reihe von Wiedergeburten, und dies einschließlich nichtmenschlicher Daseinsformen, uneinsehbar. Heutige Säkularität muss von der Einmaligkeit dieses Lebens ausgehen. Es handelt sich dabei in gewisser Hinsicht sicher um ein säkulares Erbe des Christentums: Die Einmaligkeit dieser Existenz ist nicht aufzulösen; es gibt keine Wiederholung, vielmehr ist eine Definitivität gegeben und der Ernst des Gelingens eines Lebensentwurfes steht definitiv vor Augen: Keine Möglichkeit eines voraussetzungslosen Neubeginns, eines Überwechselns zu einer anderen Lebensform besteht.

Die Umgang mit weltlichem Leid

Ferner ist schwer plausibel zu machen, wie durch den Karma-Gedanken Krankheit oder Behinderung erklärt werden sollen. Es lässt sich doch meist keinerlei Konnex von Tat und Folgen, z.B. bei einer Behinderung von Geburt an, feststellen. Schließlich bleibt die Frage, wie ein angemessenes Verhältnis zum Leid auszusehen hat. Der Weg der säkularen Vernunft hat auch durch die Anwendung rationaler Strukturen zur Überwindung und Linderung des Leidens, z.B. die Einsicht in den Ursprung einer Krankheit oder eines sozialen Übels, wesentlich zu dessen Erträglichkeit beigetragen. Eine pauschale Antwort, nach der eben alles Leid ist, wird der Intentionalität diesseitsgerichteter Vernunft nicht gerecht. Es gibt für sie wenigstens partiell eine Integration und Annehmbarkeit des Leidens.

Das Fehlen des Schöpfergottes als Attraktion für Angehörige christlicher Tradition

Angesichts einer "gottlosen" Realitätsinterpretation des modernen, westlichen Menschen hat in erster Linie der Buddhismus beachtliche Chancen einer Akzeptanz gefunden, vor allem aufgrund des Nichtvorhandenseins des Konzeptes eines Schöpfergottes, einer persönlichen Gottheit, sowie auch des Fehlens einer darauf gründenden theonomen und als solche heteronom erscheinenden Ethik. Obwohl es unzutreffend ist, vom Buddhismus als einer "atheistischen Religion" (H. von Glasenapp) zu sprechen, erweist sich doch die Ausklammerung der Gottesproblematik als vorteilhaft für die Begegnung mit Menschen, die vielfach aus einer christlichen Tradition kommen und ihre Probleme mit moralischer Verantwortung haben und die Frage nach dem persönlichen Gewissen als ziemlich belastend empfinden.

Das "Transzendente" des Buddhismus (nirvana) und die säkularistische Infragestellung

Es ergeben sich für das "Absolute" im Buddhismus, das Nirvana - Verständnis, aus westlich-religionskritischer Sicht nicht geringere Probleme. Nirvana ist eine apersonale Erlösungsdimension. Der große Vorzug angesichts der westlichen Religionskritik liegt zwar darin, dass der Buddhismus von ihm vor allem negativ sprechen kann. Gleichwohl aber sind letztlich viele positive Aussagen, wie z. B. Friede, damit unvermeidlich. Es gibt die "andere" Dimension im Verhältnis zu allem Gegebenen, dem Samsara. Eines der Worte Buddhas veranschaulicht dies: "Es gibt, ihr Mönche, ein Ungeborenes, ein Nichtgewordenes, das durch nichts bedingt ist. Wenn dieses Ungeborene, Nichtgeborene, Unerschaffene, das keine Bedingung hat, ihr Mönche, nicht sein würde, so wäre auch für dieses Geborene, Gewordene, Geschaffene, aus der Bedingung Erwachsene kein Entrinnen zu finden` ; und weil es dieses gibt, so heißt es weiter, "kann Erlösung erkannt werden"(Reden des Buddha, aus dem Pali-Kanon übersetzt von I.-L.Gunsser, mit einer Einleitung von H. v. Glasenapp, Stuttgart 1987, Seite 72 [= Reclam-UB Nr. 6245] ).

Kritik des westlichen Rationalismus am Nirvana

Deshalb ist dieser Grundbegriff auch von der Kritik westlicher Rationalisten getroffen, wie sie z.B. vom Kritischen Rationalismus vorgebracht wird: einerseits, weil hier Nirvana primär negativ bestimmt wird; andererseits, weil es sich um einen Begriff handelt, der allein in der Erfahrung Relevanz hat. In beiden Aspekten könnte man aus der Perspektive des Kritischen Rationalismus eine Immunisierungsstrategie vermuten. Nicht nur die Verstehbarkeit, sondern auch die Glaubwürdigkeit einer Realität wie jener des Nirvana unterliegt aus der Perspektive neuzeitlicher Rationalität analogen noetischen Anforderungen wie ein differenzierter Begriff Gottes. Obschon der Buddhismus nicht direkt von der westlichen Religionskritik angegriffen wird, wird er aber doch indirekt vom Immanenzverständnis säkularer Rationalität in Frage gestellt.

Säkularität und Rationalität öffnen viele Fragen für die Religionen

Säkularität und Rationalität führen zu Problemen für jede Religion, für Religiosität schlechthin. Es ist eine offene und spannende Frage, wie die nichtchristlichen Religionen dieser Herausforderung langfristig begegnen werden, die für das Christentum nun schon mehrere Jahrhunderte Thema grundlegender Auseinandersetzungen war - und zu einer wesentlichen Veränderung des religiösen Selbstverständnisses beigetragen hat. Vermutlich kann das Christentum von der Antwort der nichtchristlichen Religionen auf die Neuzeit manches dazulernen. Aber umgekehrt müssen die außereuropäischen Religionen in der Begegnung mit dem durch die neuzeitliche europäische Religionsgeschichte geprägten Christentum einiges rezipieren können: alle Religionen werden verschiedene andere Aspekte ihrer konkreten Gestalt, die sich prämodernen Entstehungsbedingungen verdanken (wie z.B. die Stellung der Frau), einer kritischen Prüfung unterziehen müssen. Wenn religiöse Gemeinschaften im Bereich humaner Weltgestaltung überzeugend sein wollen, müssen sie durch eine kritische Phase. Dann erst ist die berechtigte Hoffnung gegeben, dass das ihnen eigene Anliegen, die Erfahrung der transzendenten, alles tragenden absoluten Wirklichkeit von den Menschen einer säkularen Kultur verstanden und mitvollzogen werden kann.

 

Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn

 

>> Gegensätzliche Struktur von Buddhismus und Christentum

>> Buddhismus wirkt als Bestätigung rationaler Denkstrukturen

>> Buddhismus als Überwindung europäischer Rationalität

>> Unterschiedliches Verständnis den Vernunftbegriff betreffend

>> Ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Sein und Denken bei Descartes

>> Säkulare Rationalität europäischer Kulturtradition als Konfrontationspunkt

>> Relativierung der Vernunft in der buddhistischen Anthropologie

>> Die Unterscheidung der 5 Skandhas

>> Die fünf Daseinsgruppen

>> Das Bewusstsein hat dauerhaften Bezug zum Individuum

>> Eine Person setzt sich aus verschiedenen Teilen zusammen

>> Vorrangstellung des Geistes in der westlichen Tradition

>> Ist eine buddhistische Verneinung der Individualität mit westlichen Traditionen vereinbar?

>> Verschiedene Existenzen sind in der Wiedergeburt möglich

>> Wiedergeburt ist für säkulares Verständnis schwer nachvollziehbar

>> Die Umgang mit weltlichem Leid

>> Das Fehlen des Schöpfergottes als Attraktion für Angehörige christlicher Tradition

>> Das "Transzendente" des Buddhismus (nirvana) und die säkularistische Infragestellung

>> Kritik des westlichen Rationalismus am Nirvana

>> Säkularität und Rationalität öffnen viele Fragen für die Religionen