Buddhismus im rationalen Europa
Die von der Religion emanzipierte Rationalität europäischer Prägung
verhält sich nicht nur zur Herkunftsreligion Christentum kritisch, sondern
ebenso zu den religiösen Traditionen anderer Kulturen. So auch gegenüber
dem Buddhismus, näher hin auf den in Europa anzutreffenden Buddhismus. Der
folgende Beitrag bringt das Verhältnis wesentlicher Elemente buddhistischer
Lehrtradition zu zentralen Aussagen der europäischen Geistestradition zur
Sprache. In dieser Begegnung zeigt sich, dass es sowohl zu einer
Relativierung als auch zu einer Radikalisierung der Kritik aus dem Westen
kommen kann.
In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wandten sich die frühen
Buddhisten des Westens dieser neuen Religion vor allem aus intellektuellen,
theoretischen Motiven zu. Die jüngere Generation wurde mit dem Stichwort
"Meditativer Buddhismus" (A. Baumann, Deutsche Buddhisten.
Geschichte und Gemeinschaften, Marburg 1993, Seite 79ff) erfasst. Sie stellt
in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten den Gedanken der spirituellen
Praxis in den Vordergrund. Bei den ersten westlichen Buddhisten war die
Lehre des Buddhismus das Entscheidende. Sie erblickten in ihm "eine
wissenschaftliche, eine Erkenntnisreligion", wie Karl Seidenstücker
sagt (K. Seidenstücker, Was bringt uns die Zukunft?, 1907, Seite 265, zit.
nach A. Baumann, a.a.0. S. 58). Eine vernünftige Religion war angestrebt,
die auch mit der modernen Naturwissenschaft in Übereinstimmung gebracht
werden konnte. "Gerade die Darstellung des Buddhismus als ,Religion der
Vernunft` ermöglichte eine deutliche Distanzierung vom dogmatisch
empfundenen Christentum und eine Orientierung an aufklärerischen Werten wie
Vernunft und Selbstverantwortung" (A. Baumann, a.a.0. S. 244). Dieses
Argument bestimmte viele der älteren Buddhisten und wirkt bis in die
Gegenwart noch stark fort.
Gegensätzliche Struktur von Buddhismus und Christentum
Der Begeisterung für die "Vernunft-Struktur" des Buddhismus
entspricht eine heftige Ablehnung der als heteronom verstandenen
Glaubensstruktur des Christentums. In einer Vereinfachung einer verbreiteten
religionsphänomenologischen Unterscheidung wurden damals die
Erkenntnisreligionen des Ostens den Offenbarungsreligionen
gegenübergestellt (Vgl. H. Titschack, Christentum und Buddhismus, Wien
1980, Seite 8f).
An den genannten Motiven ist unschwer ablesbar, dass die rationalistische
Kritik der Aufklärung und Motive der atheistischen Religionskritik des 19.
und 20. Jahrhunderts im Selbstverständnis einiger westlicher Buddhisten
eine wichtige Rolle bei der Abkehr vom Christentum gespielt haben, bzw.
positiv formuliert, dass die Begegnung mit dem Buddhismus als einer
Religion, die diese belastende Hypothek nicht hat, wie eine befreiende
Erfahrung wirken konnte.
Buddhismus wirkt als Bestätigung rationaler Denkstrukturen
Zusammenfassend können wir feststellen, dass für westliche Buddhisten
die Begegnung mit dieser Religion des Ostens keineswegs eine Infragestellung
der Aufklärung und der rationalen Kritik bedeutete, sondern deren
Bestätigung. Die religionskritische Komponente wurde dadurch verstärkt.
Die Emanzipation wurde so mit religiösen Gründen noch unterstützt. Die
Vernunftorientiertheit der östlichen Religion wurde betont, ihre
Nüchternheit, ihr klarer Blick, ihre anscheinend nichtmetaphysische
Ausrichtung, ihre Ablehnung jeglicher metaphysischer "Hinterwelt"
und die Infragestellung vordergründiger, religiös-magischer Auffassungen
und kultischer Praktiken. Im Buddhismus wurde eine Vernunftreligion
gefunden, eine Religion, die sich mit den Postulaten der Emanzipation, der
Gleichheit und Freiheit vereinbaren ließ. Der zweite Aspekt, die meditative Dimension, stellte die Rationalität
zwar nicht offen in Frage, sie relativierte sie jedoch. In der religiösen
Praxis waren nämlich Übungen vorherrschend, die von der Sache her einen
Primat der Rationalität problematisierten. All dies wurde immer kohärent
gesehen.
Buddhismus als Überwindung europäischer Rationalität
Mit dieser zweiten Erfahrung ist also eine Dimension am Buddhismus
angesprochen, die nicht so ohne weiteres mit dem Selbstverständnis
westlicher Tradition kompatibel ist. Es zeigt sich mit ihr eine Dimension,
die auf anthropologischen Grundlagen beruht, und m.E. eine radikale
Infragestellung des europäischen Vernunftanspruches bedeutet - wie auch
umgekehrt die buddhistische Konzeption aus europäischer Sicht als kaum
kompatibel erscheinen musste. Dieser Gegensatz zeigt sich einerseits
deutlich auf der Ebene der philosophischen und anthropologischen
Grundperspektiven, die der Buddhismus befolgt bzw. die sich im Unterschied
dazu andererseits in der abendländischen Tradition als maßgebend
herausgestellt haben.
Unterschiedliches Verständnis den Vernunftbegriff betreffend
Die Problematik rankt sich um die theoretische Kohärenz zwischen
buddhistischer Geistigkeit und europäischem Selbstverständnis. Das
betrifft vor allem den Vernunftbegriff, der für unsere westliche Tradition
so maßgebend war und der die Anthropologie, das Verhältnis des Menschen
zum Tier, zur Umwelt bestimmt hatte. Freilich die Rationalität ist keine
neuzeitliche Erfindung; sie bleibt klassisches, antikes Erbe. Der Mensch
wird schon von Aristoteles als animal rationale bestimmt. Dadurch ist eine
wesentliche Differenz zum Tier gegeben; Descartes, der eine besonders
scharfe Abgrenzung zur Welt der Tiere zieht, betrachtet sie - weil ohne
Vernunft - geradezu als eine Art von "Automaten". Sein
entscheidendes Argument ist die Selbstbegründung der Vernunft. Die
Begründung aller Maßstäbe, Autoritäten oder Traditionen hat sich an der
Vernunft zu messen. In ihr ist alles Wissen grundgelegt. In seinen "Meditationes"
wollte er Gewissheit finden, Sicherheit; als Mindestbedingung für diese
Gewissheit hat er den berühmten Satz formuliert: "Und ich will solange
weiter vordringen, bis ich irgendetwas Gewisses (...) erkennen (...) kann.
Nichts als einen festen und unbeweglichen Punkt verlangte Archimedes, um die
ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen. So darf ich Großes hoffen, wenn ich
nur das Geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist." (Meditationes
de prima philosophia, hg. Von L. Gäbe, Hamburg, 1977, S. 43)
Ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Sein und Denken bei Descartes
Diesen Archimedischen Punkt meinte er im Subjekt, genauer im denkenden
Subjekt, im "cogitare" selbst entdeckt zu haben; von da leitet er
die Überzeugung ab, dass er ist. "Sein" wird auf
"Denken" gegründet. Die neuzeitliche Ontologie ist demnach so
formuliert, dass eine in der Vernunft fundierte Welt im Horizont
vernünftiger Erkenntnis erfahrbar wird. Das Bewusstsein ist dann die letzte
Basis, auf die sich menschliche Aktivität und Reflexion beziehen. Es gibt
dann weder eine objektive Welt, wie in der klassischen Metaphysik, noch
selbst Gott, der der Welt und dem Menschen in ihr Grund gibt; denn auch an
einem Gott muss man zweifeln; die Maxime heißt: de omnibus dubitare,
"an allem ist zu zweifeln", so dass ein "methodischer
Atheismus" Hintergrund solcher rationaler Reflexionen ist. Und es ist
sogar denkbar, dass irgendein betrügerischer, täuschender Gott mich in
eine illusionäre Welt eingeschlossen hat. Das fundamentum inconcussum, das
unerschütterliche Fundament, findet neuzeitliche Rationalität im
Bewusstsein selbst. Hier ist Vernunft in einem in sich gegründeten Geist,
der im Prinzip ohne Transzendenzbezug bestehen kann, wahrhaft autonom
geworden, wenngleich Descartes selbst keineswegs einen reellen Atheismus
angezielt hat, im Gegenteil; so zeigte die Geschichte der neuzeitlichen
Rationalität doch auch diese Möglichkeit.
Säkulare Rationalität europäischer Kulturtradition als
Konfrontationspunkt
Wir können zusammenfassen: Das Wesen des Menschseins in der
europäischen Überlieferung ist mit einem wie auch immer zu definierenden
Begriff von Rationalität verbunden. Es ist eine Tradition, die
vorchristliche, christliche und postchristliche Anthropologie dieses
Kulturraums maßgebend bestimmt. Solche Rationalität stellt
notwendigerweise - aus dem Prinzip des Denkens gewissermaßen - mit einer
unausweichlichen Stringenz eine Anfrage an den Buddhismus, wie auch
umgekehrt die buddhistische Konzeption des Menschseins, auf die ich gleich
näher eingehe, eine fundamentale Infragestellung der europäischen
Bestimmung der Vernunft bedeutet. Ich glaube nicht, dass diese Begegnung,
die im Grunde eine Konfrontation ist, tatsächlich philosophisch schon
durchreflektiert worden ist. Ich glaube, das Problem wird erst deutlich
sichtbar, wenn man sich auf die prinzipiellen Optionen buddhistischer
Philosophie und neuzeitlicher Anthropologie einlässt.
Relativierung der Vernunft in der buddhistischen Anthropologie
Der Unterschied und vollkommen andere Ansatz wird deutlich, wenn man die
Frage stellt, welche Bedeutung die Vernunft im Kontext buddhistischer
Anthropologie hat. Wir haben natürlich kein eindeutiges Pendant zum
europäischen Vernunftbegriff, wie auch innerhalb der westlichen Tradition
dieser Schlüsselbegriff bei fast jedem Philosophen neu bestimmt wird. Auf
diese Differenzen innerhalb der jeweiligen Traditionen kann hier nicht
eingegangen werden. Vielmehr geht es um die Grunddifferenz zwischen der
östlichen und der um es abgekürzt zu sagen - westlichen Tradition, wie
Bewusstsein bzw. Vernunft bestimmt wird. Es gibt mehrere Kontexte in der buddhistischen Literatur und Philosophie,
in denen das, was die innere Geistigkeit des Menschen darstellt, umschrieben
wird.
Die Unterscheidung der 5 Skandhas
Ich möchte mich hier nur auf einen, gewiss sehr zentralen Kontext der
buddhistischen Anthropologie konzentrieren. Es ist die bekannte
Unterscheidung der fünf Skandhas, wörtlich: Häufungen, Bündel oder
Gruppen, die die fünf Bestandteile einer jeden menschlichen Persönlichkeit
ausmachen, wie sie uns erscheint. Zweck dieser Analyse ist es, das sei
vorweg gesagt, das gewöhnliche Verständnis des Menschen als einer Person
mit einem Ich, die also Ich sagen kann, aufzulösen; alles, was nach einem
Selbst aussieht, soll dafür als uneigentlich, nicht dem wahren Sachverhalt
entsprechend dargestellt werden.
Die fünf Daseinsgruppen
1. Form und Gestalt als materielle und körperliche Grundlage (rupa)
2. Gefühle und Empfindungen (vedana)
3. die Wahrnehmungen, die den sechs Sinnesorganen entsprechen (samjna)
(Vgl. zu den sechs Wahrnehmungsgruppen (die sechste ist jene des Geistes):
Nyantiloka, Buddhistisches Wörterbuch, Konstanz 1983, Seite 108)8
4. die psychischen Formkräfte oder Gestaltungen, womit die aktiven
Absichten, Tendenzen, Impulse, Willensakte, alles Streben, alle Emotionen
usw., ob bewusst oder unterdrückt, gemeint sind (samskara),
5. das Bewusstsein (vijnana) ist dabei das Wichtigste, aber auch am
schwersten Greifbare der Skandhas. Erst mit dem Erkennen erfolgt die
Bewusstwerdung zunächst der Außenwelt, dann der eigenen Existenz (Vgl.
E.Conze, Buddhistisches Denken, Frankfurt/M. 1988, Seite 148).
Das Bewusstsein hat dauerhaften Bezug zum Individuum
Das Entscheidende in unserem Zusammenhang ist nun, dass das Bewusstsein,
die Geistigkeit der Menschen, keine Sonderstellung hat, was die
Grundmerkmale aller Skandhas betrifft. Sie alle sind von Geburt, Alter und
Tod, von Veränderung und Vergänglichkeit gekennzeichnet. Sie alle sind
nicht wesenhaft, nicht beständig. Also das, worin Vernunft begründet, kann
keine letzte Instanz sein. Es ist ja vom Nicht-Ich gekennzeichnet. Ein
moderner Buddhist, Nyantiloka, formuliert das folgendermaßen: "Diese
fünf Daseinsgruppen aber bilden, weder einzeln noch zusammengenommen,
irgend eine in sich abgeschlossene wirkliche Ich-Einheit oder
Persönlichkeit, und auch außerhalb derselben existiert nichts, was man als
eine für sich unabhängig bestehende Ichheit bezeichnen könnte, sodass
eben der Glaube an eine im höchsten Sinne wirkliche Ichheit,
Persönlichkeit usw. eine bloße Illusion ist" (Nyantiloka, a.a.O.
Seite 106f; vgl. dazu: Lexikon östlicher Weisheitslehren, Bern/München/
Wien 1988, Seite 357). Dieses "Bewusstsein" ist folglich keine
Seele und kein Selbst. Es geht trotz des Anscheins einer Individualität auf
die Desubstantialisierung und Entindividualisierung hinaus: Es ist nicht ein
Ding, vielleicht eher eine fortlaufende Handlungsfolge. Es ist nicht
persönlicher Besitz, sondern letztlich Verlauf unpersönlicher Ereignisse,
auch im Geistigen" (Vgl. E.Conze, a.a.O. Seite 152).
Eine Person setzt sich aus verschiedenen Teilen zusammen
Natürlich hat das Bewusstsein eine gewisse Sonderstellung, aber nur eine
sehr relative, insofern nämlich die drei übrigen geistigen Skandhas eben
durch Bewusstsein definiert werden. Es ist gleichsam Stütze der anderen
drei geistigen Skandhas und übt einen beherrschenden Einfluss über sie
aus) (Vgl. E.Conze, a.a.O. Seite 148). Die empirische Person ist somit aus
Komponenten zusammengesetzt, vergleichbar mit einem Wagen, der aus
verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist, aber doch als ein Wagen benützt
werden kann (Vgl. U.Schneider, a.a.O. Seite 98). Es ist eine
"Kombination", eine Art Konglomerat.
Vorrangstellung des Geistes in der westlichen Tradition
Mit dieser Sichtweise des Bewusstseins sowie der Personalität
unterscheidet sich die buddhistische Anthropologie wesentlich von der
westlichen Tradition, in der die Geistigkeit immer eine Vorrangstellung hat,
egal wie die Anthropologie sonst konzipiert ist, dualistisch als Leib-Seele
oder trichotomistisch, wie insbesondere in der neuplatonischen Tradition als
Geist-Seele-Leib. Der Geist hat immer eine Vorrangstellung, die nicht nur
als leitendes Prinzip zu verstehen ist, wie es auch im Buddhismus gegeben
ist, sondern vielmehr essentiell, sodass er substantiell ewig ist,
buddhistisch gesprochen: dem Kreislauf des Entstehens und Vergehens
enthoben. In der neuzeitlichen Kontextuierung ist dieser Geist als Vernunft
verstanden, die in sich selbst letztlich gründet und dadurch allem
Nichtvernünftigen überlegen ist; namentlich der animalischen Welt.
Ist eine buddhistische Verneinung der Individualität mit westlichen
Traditionen vereinbar?
Inwiefern ist das westliche Selbstverständnis mit buddhistischen
Grundannahmen vereinbar? Handelt es sich hier nicht um eine radikale
Verneinung des Ichs, der Person, der Individualität, also zentraler
Begriffe der "westlichen" Tradition? Wenn solche
Schlüsselbegriffe neuzeitlichen Bewusstseins, in denen etwa die Autonomie
der emanzipierten Vernunft grundgelegt ist, unterlaufen werden, wie soll
dann die Rationalität, also die Vernunft und ihre Kritik, die auf der
ersten Ebene stattfindet, bewahrt werden? Denn gewiss wird durch die
buddhistische Konzeption das westliche Selbstverständnis in Frage gestellt.
Die Rückfrage an den Buddhismus muss lauten, ob Ich-Bewusstsein und
Vernunft wirklich nur als bloße Begleiterscheinungen vor- und
überindividuell ablaufender Phasen eines ewigen Werdeprozesses betrachtet
werden können. Lässt sich ein von dieser betont vernunftorientierten
Tradition geprägtes Selbstverständnis problemlos mit dieser Grundlehre des
Buddhismus vereinbaren? Werden hier nicht theoretische Barrieren zu
leichtfertig übergangen? Nicht nur der Mensch ist in diesem Sinn ohne
Wesensmitte - trotz seiner Sonderstellung innerhalb aller Daseinsregionen
und Lebewesen - , sondern jedes Ding ist ohne Wesensnatur essenzlos, leer,
wie in der Linie frühmahajanistischer Philosophie, insbesondere der
Nagarjunas, gelehrt wird.(Vgl. zur Madhyamika- bzw. Sunyavada-Schule bes. S.
Dasgupta, A History of Indian Philosophy, Vol.l, Cambridge 1922, S. 14)
Verschiedene Existenzen sind in der Wiedergeburt möglich
Die Einbindung des Bewusstseins, des Geistigen, in den Prozess des
samsara, den Kreislauf der Existenzen und Wiedergeburten, zeigt in einem
anderen Aspekt die Relativität der rationalen Bestimmung des Menschseins,
insofern nämlich verschiedene Existenzweisen für sie möglich sind, auch
jene des Tieres oder irgendeiner anderen nichtvernünftigen Existenz. Die
Überwindung dieses Kreislaufes der Erlösung, das Eingehen in das Nirvana
ist dann dem Menschen nur nach Wiedergeburten als Mensch wiederum möglich.
Darin ist die Überlegenheit der anthropologischen Daseinsform als Mensch
buddhistisch begründet. Doch im Kreislauf selbst bedeutet dies permanente
Zäsur von der Welt des Tierischen. Hierin liegt ein deutlicher Gegensatz
zur abendländischen Bestimmung, des Verhältnisses von Tier und Mensch vor,
der die Relativität des Vernunftgemäßen im buddhistischen Kontext
aufzeigt. Demnach gibt es keine strikte Trennung zwischen Tier, Mensch und
Gott.
Wiedergeburt ist für säkulares Verständnis schwer nachvollziehbar
Für ein säkulares Verständnis, das wesentlich immanent bestimmt ist,
wird jegliche Art von nachtodlichem Sein schwer vollziehbar. Im besonderen
bleibt eine unendliche Reihe von Wiedergeburten, und dies einschließlich
nichtmenschlicher Daseinsformen, uneinsehbar. Heutige Säkularität muss von
der Einmaligkeit dieses Lebens ausgehen. Es handelt sich dabei in gewisser
Hinsicht sicher um ein säkulares Erbe des Christentums: Die Einmaligkeit
dieser Existenz ist nicht aufzulösen; es gibt keine Wiederholung, vielmehr
ist eine Definitivität gegeben und der Ernst des Gelingens eines
Lebensentwurfes steht definitiv vor Augen: Keine Möglichkeit eines
voraussetzungslosen Neubeginns, eines Überwechselns zu einer anderen
Lebensform besteht.
Die Umgang mit weltlichem Leid
Ferner ist schwer plausibel zu machen, wie durch den Karma-Gedanken
Krankheit oder Behinderung erklärt werden sollen. Es lässt sich doch meist
keinerlei Konnex von Tat und Folgen, z.B. bei einer Behinderung von Geburt
an, feststellen. Schließlich bleibt die Frage, wie ein angemessenes Verhältnis zum Leid
auszusehen hat. Der Weg der säkularen Vernunft hat auch durch die Anwendung
rationaler Strukturen zur Überwindung und Linderung des Leidens, z.B. die
Einsicht in den Ursprung einer Krankheit oder eines sozialen Übels,
wesentlich zu dessen Erträglichkeit beigetragen. Eine pauschale Antwort,
nach der eben alles Leid ist, wird der Intentionalität diesseitsgerichteter
Vernunft nicht gerecht. Es gibt für sie wenigstens partiell eine
Integration und Annehmbarkeit des Leidens.
Das Fehlen des Schöpfergottes als Attraktion für
Angehörige christlicher Tradition
Angesichts einer "gottlosen" Realitätsinterpretation des
modernen, westlichen Menschen hat in erster Linie der Buddhismus beachtliche
Chancen einer Akzeptanz gefunden, vor allem aufgrund des Nichtvorhandenseins
des Konzeptes eines Schöpfergottes, einer persönlichen Gottheit, sowie
auch des Fehlens einer darauf gründenden theonomen und als solche heteronom
erscheinenden Ethik. Obwohl es unzutreffend ist, vom Buddhismus als einer
"atheistischen Religion" (H. von Glasenapp) zu sprechen, erweist
sich doch die Ausklammerung der Gottesproblematik als vorteilhaft für die
Begegnung mit Menschen, die vielfach aus einer christlichen Tradition kommen
und ihre Probleme mit moralischer Verantwortung haben und die Frage nach dem
persönlichen Gewissen als ziemlich belastend empfinden.
Das "Transzendente" des Buddhismus (nirvana) und die
säkularistische Infragestellung
Es ergeben sich für das "Absolute" im Buddhismus, das Nirvana
- Verständnis, aus westlich-religionskritischer Sicht nicht geringere
Probleme. Nirvana ist eine apersonale Erlösungsdimension. Der große Vorzug
angesichts der westlichen Religionskritik liegt zwar darin, dass der
Buddhismus von ihm vor allem negativ sprechen kann. Gleichwohl aber sind
letztlich viele positive Aussagen, wie z. B. Friede, damit unvermeidlich. Es
gibt die "andere" Dimension im Verhältnis zu allem Gegebenen, dem
Samsara. Eines der Worte Buddhas veranschaulicht dies: "Es gibt, ihr
Mönche, ein Ungeborenes, ein Nichtgewordenes, das durch nichts bedingt ist.
Wenn dieses Ungeborene, Nichtgeborene, Unerschaffene, das keine Bedingung
hat, ihr Mönche, nicht sein würde, so wäre auch für dieses Geborene,
Gewordene, Geschaffene, aus der Bedingung Erwachsene kein Entrinnen zu
finden` ; und weil es dieses gibt, so heißt es weiter, "kann Erlösung
erkannt werden"(Reden des Buddha, aus dem Pali-Kanon übersetzt von I.-L.Gunsser,
mit einer Einleitung von H. v. Glasenapp, Stuttgart 1987, Seite 72 [=
Reclam-UB Nr. 6245] ).
Kritik des westlichen Rationalismus am Nirvana
Deshalb ist dieser Grundbegriff auch von der Kritik westlicher
Rationalisten getroffen, wie sie z.B. vom Kritischen Rationalismus
vorgebracht wird: einerseits, weil hier Nirvana primär negativ bestimmt
wird; andererseits, weil es sich um einen Begriff handelt, der allein in der
Erfahrung Relevanz hat. In beiden Aspekten könnte man aus der Perspektive
des Kritischen Rationalismus eine Immunisierungsstrategie vermuten. Nicht
nur die Verstehbarkeit, sondern auch die Glaubwürdigkeit einer Realität
wie jener des Nirvana unterliegt aus der Perspektive neuzeitlicher
Rationalität analogen noetischen Anforderungen wie ein differenzierter
Begriff Gottes. Obschon der Buddhismus nicht direkt von der westlichen
Religionskritik angegriffen wird, wird er aber doch indirekt vom
Immanenzverständnis säkularer Rationalität in Frage gestellt.
Säkularität und Rationalität öffnen viele Fragen für die Religionen
Säkularität und Rationalität führen zu Problemen für jede Religion,
für Religiosität schlechthin. Es ist eine offene und spannende Frage, wie
die nichtchristlichen Religionen dieser Herausforderung langfristig begegnen
werden, die für das Christentum nun schon mehrere Jahrhunderte Thema
grundlegender Auseinandersetzungen war - und zu einer wesentlichen
Veränderung des religiösen Selbstverständnisses beigetragen hat.
Vermutlich kann das Christentum von der Antwort der nichtchristlichen
Religionen auf die Neuzeit manches dazulernen. Aber umgekehrt müssen die
außereuropäischen Religionen in der Begegnung mit dem durch die
neuzeitliche europäische Religionsgeschichte geprägten Christentum einiges
rezipieren können: alle Religionen werden verschiedene andere Aspekte ihrer
konkreten Gestalt, die sich prämodernen Entstehungsbedingungen verdanken
(wie z.B. die Stellung der Frau), einer kritischen Prüfung unterziehen
müssen. Wenn religiöse Gemeinschaften im Bereich humaner Weltgestaltung
überzeugend sein wollen, müssen sie durch eine kritische Phase. Dann erst
ist die berechtigte Hoffnung gegeben, dass das ihnen eigene Anliegen, die
Erfahrung der transzendenten, alles tragenden absoluten Wirklichkeit von den
Menschen einer säkularen Kultur verstanden und mitvollzogen werden kann.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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