Die Wiedergeburtslehre im Buddhismus
Von Ernst Steinkellner (Biografie)
Die Idee der Wiedergeburt gehört nicht nur zu den Grundlagen
des Weltverständnisses im Buddhismus, sondern ist auch
Ausgangspunkt für das Streben nach Überwindung des Leidens des
weltlich gebundenen Daseins. Die Eigenart der buddhistischen
Wiedergeburtstheorien beruht darauf, dass der Buddha im Dasein der
Lebewesen keine substanziell konzipierte dauernde "Seele"
annimmt. Der Autor widmet sich Argumenten und Beweisen, die zur
Begründung der Wiedergeburtslehre eingebracht worden sind und gibt
Einblick in den kulturellen Kontext, aus dem sich diese Lehre in
Theorie und gesellschaftlicher Praxis entfaltet hat.
In seiner über 2000-jährigen Geschichte hat der Buddhismus aus
großer innerer Kraft eine Vielfalt religiöser Gestalten entwickelt
und während seiner Ausbreitung über große Teile Asiens im Treffen
auf verschiedenste Kulturen und Gesellschaften Lebendigkeit,
Anpassungs- und Aufnahmefähigkeit bewiesen. Er hat geholfen,
Kulturen zu verfeinern, hat andere verändert, hat dabei selbst
größte Buntheit gewonnen, ohne aber jemals von den wesentlichen
Grundanschauungen abzugehen. Seit dem 19. Jahrhundert - im Zuge der
kolonialistischen Entwicklungen - und vermehrt seit den ersten
Jahrzehnten unseres Jahrhunderts ist der Buddhismus auch im Westen
als Religion präsent. Und in unserer postkolonialen Zeit finden wir
ihn erstmals als ernst genommenen Gesprächspartner im Gespräch
zwischen den Weltreligionen. Ein solches Gespräch setzt den Willen
voraus, diesen Partner zu verstehen und dieser Wille beruht auf der
Einsicht, dass ein verstehendes Miteinander für uns heutige
Bewohner einer größeren Welt die einzige gut gegründete Form
menschenwürdigen Zusammenlebens darstellt.
Die allgemein indische Idee der Wiedergeburt
Die allgemein indische Idee der Wiedergeburt ist in ihrer von der
buddhistischen Tradition gelehrten Form aus mehreren Gründen von
besonderem Interesse: Die Buddhisten entwickelten nicht nur
systematische Theorien der Wiedergeburt und ergänzender Themen, z.
B. die Theorie von den Werken (karman) als dem das Schicksal der
Lebewesen regelnden Prinzip, sie sind vielmehr auch für die
Verbreitung dieser Ideen über die indische kulturelle Sphäre
hinaus im besonderen verantwortlich: zunächst über ganz Asien und
in neuerer Zeit auch in den Westen. Darüber hinaus kann man die
Argumentationslinie des Heranziehens von regelrechten Beweisen für
die Wiedergeburt als lehrreiches Beispiel für die Beziehung von
Theorie und gesellschaftlicher Praxis erkennen. Und schließlich ist
die buddhistische Wiedergeburtslehre auch religionswissenschaftlich
deshalb besonders relevant, weil in der hier vertretenen Ansicht
einer "Wiedergeburt ohne Seele" die gewöhnlich
animistischen Voraussetzungen von Wiedergeburtslehren stark
zurückgedrängt scheinen.
Wiederkehr von Geburt und Tod
Der Buddhismus ist etwa im 4. Jh. v. Chr. als Schöpfung seines
Stifters, des Buddha Sakyamuni, entstanden. Mit den anderen
religiösen Traditionen Indiens teilt der Buddhismus die Anschauung
vom Dasein der Lebewesen als einer anfanglosen Abfolge von Geburt
und Tod und wieder Geburt, als einer von Ewigkeit her bestehenden
Wanderung in einem Kreislauf von Werden und Sterben. Immer wieder
gelebt zu haben und immer wieder sterben zu müssen, war dem Inder
eine zutiefst erschreckende Wirklichkeit. Die Idee der Wiedergeburt
war ihm daher nicht nur Grundlage seines Weltverständnisses,
sondern auch Ausgangspunkt für das Streben zur Überwindung dieser
Welt.
Die Welten des Diesseits und Jenseits
Das Sanskrit-Wort loka bedeutet ursprünglich "Lichtung,
freier offener Platz, der hell ist und in der Wildnis des
Walddschungels Dasein und Ausschau ermöglicht". Die Buddhisten
leiten das Wort loka nicht vom Verbum ruc-, rocate "klar, hell
sein" ab, sondern vom Verbum ruj-/luj-, lujyate
"zerbrochen werden". "Welt" ist daher für die
Buddhisten "das, was zerbricht". Das Wort bezeichnet somit
die in räumlicher und zeitlicher Unterschiedenheit möglichen
Sphären für entsprechende Weisen des Daseins, Existenzformen wie
neben der Welt der Götter und Dämonen die Welten der Menschen, der
Tiere, der Gespenster und der Höllenwesen. Die "andere
Welt" ist dann die "frühere, der jetzigen vorangegangene
Existenz" und die "spätere, auf die jetzige folgende
Existenz". Grundsätzlich gelten alle diese Welten, Diesseits
wie Jenseits, als dem Gesetz der Vergänglichkeit und damit der
Leidhaftigkeit unterworfen. Es sind also alle diese Welten, in denen
man etwa als Tier, Mensch oder Gottheit existieren kann, in unserem
Verständnis richtigerweise als ein "Diesseits"
aufzufassen.
Das Subjekt des Kreislaufes im Buddhismus
Der Buddhismus anerkennt den Kreislauf als solchen, aber kein in
ihm wanderndes Subjekt, da er die Existenz einer ewigen Seele nicht
annimmt. Was wir als in "dieser" und in einer
"anderen Welt" existierende Persönlichkeit fassen
können, ist nichts als eine Vereinigung von fünf selbständigen
psychischen und physischen Konstituenten (skandha, eigentlich
"Gruppen": Körperliches, Empfindung, Vorstellung,
Willensakte, Wahrnehmung). Die physischen und die meisten
psychischen Konstituenten gehen im Augenblick des Todes nicht in ein
nächstes Dasein über. Sie hören auf oder - genauer gesagt -
trennen sich von dem ein Leben ausmachenden vorübergehenden
Zusammenhang. Nur die Wahrnehmung, das Erkennen (vijnana), setzt
sich fort und bietet der "Wanderung im Kreislauf ` einen
Zusammenhang. Anstelle einer ewigen Seele "wandert" also
scheinbar ein Bewusstseinsstrom (cittasantana).
Die Wanderung des Bewusstseins
Dieser Strom ist als eine nur kausal zusammenhängende Kette von
Erkenntnisphasen gedacht. Daher wandert streng genommen gar nichts.
Nur die Kette von Ursache und Wirkung setzt sich fort. Und anstelle
der Idee eines "Übergehens" der Seele von einem Dasein zu
einem anderen steht bei den Buddhisten die Idee der Verursachung
eines neuen Daseins durch das vorhergehende. Und in einen Strom von
Erkenntnisphasen eingebettet, werden in Form von "Samen"
für die zukünftigen Existenzen die Erfahrungen der vergangenen
Existenzen weitertransportiert. Für diese Art des Neu- oder
vielmehr Weiterbestehens eines Erkenntnisstromes über den Tod
hinaus gebrauche ich das Wort "Wiedergeburt" (rebirth).
Dagegen spreche ich von "Wiederverkörperung" (reincarnation)
nur dort, wo eine dauernde, ewige Seele sich im Materiellen nach dem
Tode "wiederverkörpert".
Andere Auffassungen zum Subjekt des Kreislaufes
In brahmanischen und frühhinduistischen Traditionen sind ewige
Seelen das im Kreislauf der Existenzen wandernde Subjekt. Die Welten
und Lebewesen entstehen und vergehen unter Leitung von ewig
höchsten Seelen. Dagegen gibt es im klassischen indischen
Materialismus nur diese Welt und keine andere, aus der man kommen
oder in die man gehen könnte. Und eine ewige Seele ist so wenig
erkennbar, wie ein von den materiellen Elementen verschiedenes
Erkennen. Der Geist ergibt sich aus Elementverbindungen, die man als
Körper, Sinnesorgane und Sinnesobjekte unterscheiden kann, so wie
die Rauschkraft sich aus der Hefe ergibt. Diese schon für die
letzten vorchristlichen Jahrhunderte anzunehmenden Grundgedanken
bildeten eine brauchbare Ergänzung für die politische Theorie. Und
von dieser Verbindung her rührt die Tatsache, dass die
materialistische Tradition sehr früh Methoden der Widerlegung der
Möglichkeit einer Wiedergeburt und des Vorhandenseins einer Seele
entwickelt hat. Gegen die buddhistische Position, die ja eine Seele
ebenfalls leugnete, wurde dann auch der Nachweis entwickelt, dass
die Reihe der Erkenntnismomente nicht ununterbrochen andauern und
sich nicht von einem Dasein in ein anderes fortsetzen könne.
Reaktion der Buddhisten auf den klassischen
indischen Materialismus
Die Reaktion der Buddhisten ist zunächst eher praktischer Natur
und wird beispielhaft vorgeführt durch die Versuche buddhistischer
Mönche, durch Parabeln oder Wundertaten vom Vorhandensein einer
Vergeltungsgewissheit, eines kausalen Zusammenhanges zwischen Werken
und ihrer Wirkung zu überzeugen. Schließlich wird aber auch mit
Argumenten begründet, dass Untaten Folgen haben. Der Kontext von
Anschauungen, aus denen diese Überzeugungsmethoden und schließlich
Argumente wachsen, ist derselbe, in dem auch die Literatur der
kanonischen "Geburtsgeschichten" (Jataka) entsteht und
überliefert wird. Hier begegnen wir einem allwissenden Buddha, der
die vollständigen Schicksale aller Lebewesen kennt und seinen
Hörern erklären kann, welches Tun in einer früheren Existenz ein
unverständliches Ereignis in der gegenwärtigen Existenz
verständlich zu machen geeignet ist. Die Entwicklung von
Überzeugungsmethoden und Argumenten gegen den, der an die
Wiedergeburt nicht glaubt, ist in der älteren Periode des
Buddhismus vor allem durch ein politisches Motiv bedingt: Der
Mönchsorden war ein Bettelorden, von Anfang an abhängig von den
ihn unterstützenden Laien. Darüber hinaus war er aber natürlich
auch immer auf die Wohlgeneigtheit oder wenigstens Neutralität der
Machthaber angewiesen. Es musste daher immer versucht werden, auch
den skrupellosesten König für die buddhistische Lehre einzunehmen
und ihn womöglich zu einem nach buddhistischen Moralgesetzen
regierenden König (dharmarajan) zu wandeln.
Möglichkeit aktiver Beweisführung durch den
Mahayana-Buddhismus
Nach dem Typus des Mahayana-Buddhismus, der sich in den
Jahrhunderten um Christi Geburt entwickelt hat, wird die Annahme der
eigenen Befreiung vom Leiden des ewigen Kreislaufes so lange
zurückgestellt, bis alle anderen leidenden Lebewesen diese
Befreiung ebenfalls gewonnen haben. Der erste Grund für diese
Entscheidung ist ein bis zur Vollkommenheit entwickeltes Mitleid (karuna)
mit den leidenden Wesen, und eine bis zur Vollkommenheit entwickelte
Allwissenheit (sarvajnata) gewährleistet, dass der Bodhisattva -
der Idealtyp dieses Buddhismus - den anderen Lebewesen auch
tatsächlich in der ihnen entsprechenden Weise helfen kann.
Die Entwicklung dieser heilbringenden Eigenschaften,
Heilstugenden, bis zur Vollkommenheit hin, ist aber, wie man
beobachten kann, nicht in einem einzigen Dasein möglich; sie ist
nur in unendlich vielen Existenzen vorstellbar. Die Möglichkeit
einer sehr langen Abfolge von Existenzen muss also gesichert sein,
wenn das Ziel nicht vollständig irreal sein sollte. So wurde die
Idee der unendlichen Abfolge von Geburten, um die von der
Kontinuität der Entwicklung der Geistigkeit und der verschiedenen
geistigen Tugenden bereichert, von einer Selbstverständlichkeit zu
einer besonderen begleitenden Voraussetzung der religiösen
Lebensführung des Mahayana-Buddhisten.
Kontext der Wiedergeburtslehre
Bei der Wiedergeburts- und auch Karmalehre ist vor allem zu
bedenken, dass es sich um ein komplexes kulturelles Phänomen
handelt. Sie hat ihre Funktion auf verschiedenen Ebenen des
Verstehens und der Erklärung: im Volksglauben, in der Mythologie
und in der philosophischen Analyse. Sie wird daher mit
verschiedensten Wertvorstellungen und Auslegungshintergründen
verbunden und natürlich auch durch diese geprägt. Man muss sich
also immer genau verdeutlichen, vor welchem Hintergrund man von ihr
spricht. Die Lehre hat für den Feldbauern eine andere Bedeutung als
für den dogmatisch gebildeten Mönch. In der lebendigen Praxis
trifft man stets auf einander überschneidende Prägungen der Lehre.
Die Grundzüge der Wiedergeburtslehre
Ein einfaches und repräsentatives Schema der Wiedergeburtslehre
bildet ein von der Tradition selbst entwickeltes Bild, das von
alters her dazu verwendet wird, die Grundlagen für Laien zu
erklären. Es findet sich in den Vorräumen der buddhistischen
Tempel genauso wie im Gepäck der predigenden Mönche und
Missionare: das sogenannte "Rad der Existenzen" (bhavacakra),
in dem die Ursachen des Daseins, das moralisch bestimmte Auf und Ab
im Dasein, die verschiedenen Daseinsformen und schließlich die
wichtigsten das Dasein bestimmenden Bedingungen in einem Bild
verbunden werden:
Das Rad der Existenzen
Das Rad der Existenzen besteht aus 4 Teilen: äußerer und
innerer Ring, dazwischen die 6 Segmente der Existenzformen und die
Nabe, um die sich alles bewegt. Das Rad wird umfasst von YamalMara
oder Kala, der Vergänglichkeit, dem Tod oder der Zeit.
Außerhalb dieses Raumes der Existenz, im Raum des Befreitseins,
stehen der Buddha Sakyamuni, der die Lehre gebracht hat, und der
Bodhisattva Avalokitesvara, der in seinem unermesslichen Mitleid
allen im Kreislauf gebundenen Wesen die Freiheit bringt. Die Nabe
enthält die drei Grundübel: Gier, Hass, Verblendung, symbolisiert
durch Hahn, Schlange, Schwein, die einander in den Schwanz beißen,
d.h. sich gegenseitig bedingen. Der innere Ring zeigt das Auf und Ab
in den Existenzen: links der helle Weg vom Laien zum Mönchstum und
zur Buddhaschaft, rechts der dunkle und nackte Weg in die Höllen.
Der äußere Ring symbolisiert den, buddhistisch gesehen,
wichtigsten Teil des Rades, den sogenannten Lehrsatz vom abhängigen
Entstehen (pratityasamutpada), genauer: vom Entstehen des in Leiden
bestehenden Daseins in Abhängigkeit von Bedingungen.
Der Lehrsatz vom abhängigen Entstehen
Dieser Lehrsatz ist Gegenstand vielfacher Auslegung gewesen und
hat auch der Wissenschaft beträchtliche Schwierigkeiten bei der
Erklärung seines Zustandekommens bereitet. Für die buddhistische
Tradition ist er in der Form einer aus 12 Glieder bestehenden Reihe
von Bedingungen verbindlich, die sich auf drei verschiedene Geburten
verteilen: die frühere Existenz (1+2), die jetzige Existenz (3-8),
die zukünftige Existenz (9-12). Die Ursachenkette darf nicht etwa
als Struktur des Weltgeschehens im allgemeinen angesehen werden; sie
soll nicht ein kausales Gesetz des Weltentstehens und Weltvergehens
anbieten; auch ist sie nicht "die buddhistische
Kausalitätstheorie". Sie ist lediglich jenes Gesetz, welches
den Ablauf der Verstrickung in den Wesenskreislauf beschreibt.
Argumentationen zur Stützung der
Wiedergeburtskonzeption
Es ist bezeichnend, dass Buddhisten - aber auch andere sich auf
indische Wiedergeburtslehren beziehende Gläubige -, wenn man nach
Beweisen für die Wiedergeburt fragt, sich üblicherweise auf die
Tatsächlichkeit wirklicher, biographisch belegbarer
"Fälle" von Wiedergeburt beziehen und solche
Fall-Beispiele für die wichtigste Evidenz halten. Diese
"Fälle" sind Wiedergeburtsfälle verschiedener Art. Teils
wird die entscheidende Verbindung mit einer an deren Existenzform
entweder auf hypnotische Weise oder mit Hilfe eines eines Mediums
hergestellt, oder sie wird direkt erfahren, im Traum oder in wachen
Visionen. Teils wird sie durch spontane Erinnerung an die frühe
Kindheit hergestellt oder auch durch eine Art von induzierter
Erinnerung.
Beweise für erfolgte Wiedergeburten
Es gibt nach der Entwicklung neuer spiritueller Bewegungen im
Westen auf Grundlagen indischer Traditionen, etwa seit dem Ende des
19. Jahrhunderts eine ganze Literatur mit Sammlungen von
"Fällen", die im einzelnen historisch dokumentiert und
dann als "historische Beweise" vorgetragen werden.
Wirklich neu an diesem Vorgehen ist, dass diese Wiedergeburtsfälle
mit dem Anspruch auf eine wissenschaftliche Natur dieser Methode
vorgeführt werden. Die alte buddhistische Tradition war sich
jedenfalls des Unterschieds von Beweisführung und Fallbeschreibung
durchaus bewusst. Natürlich hat man im Buddhismus von Anfang an die
Gläubigen und Interessierten immer mit einer oft unterhaltsamen
Mischung aus Märchen und Legenden und mit deren lehrhaften
Anwendungen auf konkrete Fälle betreut. Aber diese
"Fälle" sind vermutlich kaum je als Beweis verwendet
worden, sondern haben ein gläubiges Auditorium schon vorausgesetzt.
Die buddhistischen Beweise selbst zielen einerseits nicht auf ein
gläubiges Publikum, müssen sich daher auf die in Indien immer
heftige Polemik einstellen, und bedienen sich daher auch der
allgemein anerkannten formalen Regelmäßigkeiten. Andererseits sind
sie gerade dann, wenn sie der theoretischen Sicherung der
religiösen Praxis des Mahayana dienen sollen, in den strengen
logischen Formen ihrer Zeit verfasst, d.h. sie entsprechen den
Normen der im Kontext herrschenden Logik.
Zwei Arten von Beweisen
Die Argumentationen und Beweise für die Wiedergeburt, die wir
aus der buddhistischen Tradition kennen, sind im wesentlichen von
zweierlei Art: Die älteren beruhen auf der Beobachtung von
Erscheinungen bei den Lebewesen, die man sich nicht auf natürliche
Weise erklären konnte. Es handelt sich dabei vor allem um
Erscheinungen, die man heute gewöhnlich aus der Stammesgeschichte,
den genetisch bedingten Anlagen, leicht erklärt, z.B. bestimmte
Fähigkeiten oder Kenntnisse von Neugeborenen, die man nicht auf
Übung und Lernen zurückführen konnte: dass sie lachen oder
weinen, dass sie die Mutterbrust suchen und ähnliches. Auch die
unterschiedliche Entwicklung von Geschwistern mit gleicher
Ernährung war nicht erklärlich. Anders als diese frühen Beweise,
die an ein bestimmtes historisches naturwissenschaftliches Wissen
gebunden sind, sind die Beweise, die etwa ab der Mitte des ersten
nachchristlichen Jahrtausends besonders in der
erkenntnistheoretischen Schule entwickelt worden sind. Sie bewiesen
ihr Ziel durch den Nachweis, dass alle anderen Erklärungshypothesen
unmöglich sind. Diese Beweise haben die Gemeinsamkeit, dass sie
alle mit Bezug auf das Phänomen bewusster Erkenntnisse oder
Erkenntnisfunktionen bei Neugeborenen besagen, dass diese Erkenntnis
nicht von etwas verursacht sein kann, das nicht von derselben Art
ist, also ebenfalls eine Erkenntnis.
Widerlegungen zum ersten Erkenntnismoment des
Neugeborenen
Es finden sich detaillierte Widerlegungen der folgenden vier
Möglichkeiten, den ersten Erkenntnismoment beim Neugeborenen zu
erklären: 1. Die Erkenntnis wird als etwas Neues von einem ewigen
Schöpfer geschaffen: Hier wird in den Widerlegungen auf die
Widersprüche zwischen dem ewigen Schöpfer als vollständige
Ursache und der Allmählichkeit der Wirkungen im allgemeinen
hingewiesen, und auf den Widerspruch zwischen der Annahme eines
ewigen Schöpfers und der Annahme der Abhängigkeit des Schöpfers
von bedingenden Mitursachen, die zwar die Abfolge des Entstehens der
Wirkungen erklärlich macht, aber mit seinem Rang als vollständige
und ewige Ursache nicht zu vereinen ist. 2. Das Erkennen entspringt
dem Erkennen der Eltern: Dies wird durch den Hinweis darauf
widerlegt, dass bei vielen Kindern derselben Eltern Unterschiede in
der Geistigkeit auftreten und dass die Ursache, das Erkennen der
Eltern, bei Geburt des Kindes aufhören müsste. 3. Das Erkennen
entspringt der Mischung von Samen und Menstrualblut, also den
materiellen Elementen: Dies wird durch die Ansicht widerlegt, dass
Ungeistiges Geistiges nicht verursachen kann. Die Möglichkeit eines
Kausalzusammenhanges zwischen materiellem Körper und bewusstem
Erkennen wurde eingehend geprüft und zurückgewiesen. 4. Das
Erkennen entsteht spontan, d.h. ohne Ursache: Dann müsste es immer
entstehen oder überhaupt nicht. Auch wären die Unterschiede in der
Geistigkeit der Lebewesen nicht erklärbar.
Resümee der buddhistischen Beweisführung
In ihrer Beweisführung zeigen sich die Buddhisten vor allem
daran interessiert, einerseits den wesentlichen Unterschied zwischen
dem materiellen Körper und den Erkenntnisakten aufzuzeigen, und
andererseits zu demonstrieren, dass Geistiges nicht aus
Körperlichem entstehen kann. Damit sind für sie die
materialistischen Modelle, Erkenntnis zu erklären, widerlegt.
Andererseits weisen sie auf den Widerspruch zwischen der Ewigkeit
eines Schöpfers und dem zeitlichen Akt der möglichen Schöpfung
hin und widerlegen so das theistische Erklärungsmodell. Ein Beweis
etwa für die frühere, d.h., vor der jetzigen Geburt liegende
Existenz des Erkennens lautet: "Die erste (Phase der)
Erkenntnis bei einem (Embryo) ist aus seiner besonderen Hauptursache
entstanden, weil sie Erkenntnis ist; (genauso) wie die gegenwärtige
Erkenntnis (des Kindes)." Und der Beweis für die Andauer des
Erkennens nach dem Tode lautet: "Die Erkenntnis in der Phase
des Todes ist fähig, ihre besondere Wirkung hervorzubringen, weil
sie als (immer noch) mit Begierde verbunden nicht frei von (der
Natur des) Anhaftens (an etwas) ist: (genauso) wie die frühere
Erkenntnis." Solche Beweise, obschon formal korrekt in den
logischen Normen ihrer Zeit vorgetragen, blieben auch in ihrer Zeit
umstritten, und zwar wegen der in ihnen enthaltenen systemgebundenen
Voraussetzungen. Sie lassen sich daher charakterisieren als der
Ausdruck einer lebendigen und starken Rationalität, die für große
Teile der buddhistischen Tradition typisch ist. Der indische Mythos
von der Wiedergeburt ist in dieser Weise im Buddhismus zu einer
Wirklichkeit verwandelt worden, die so beschaffen ist, dass sie
innerhalb der rationalen Modelle der anthropologischen und
soteriologischen Theorien denkbar war. Damit können aber auch die
entwickelten Argumentationen und Beweise nicht nur als Folge
bestimmter systematischer Notwendigkeiten oder gesellschaftlichen
Drucks verstanden werden, sondern besonders auch als ein weiteres
Zeugnis dafür, dass diese Tradition von ihren Gläubigen nicht die
irrationale Annahme ihrer Vorstellungen vom Dasein der Lebewesen auf
Treu und Glauben verlangt hat, sondern Annahme auf der Grundlage von
rationaler Überprüfung.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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