Zen-Buddhismus im Abendland
Der Zen-Buddhismus hilft dem Menschen, auf die Frage seiner
Existenz eine Antwort zu finden, stellt aber dennoch keinen
Widerspruch zur Rationalität, zum Realismus und zur Unabhängigkeit
dar, den kostbaren Errungenschaften des modernen Menschen. Für den
Menschen des Westens kann der Zen-Buddhismus eine Vielzahl neuer
Erfahrungen bringen. In der folgenden Analyse geht es um die
Hintergründe der Rezeption des Zen-Buddhismus im Westen und unter
Christen.
Säkularisierung ist ein Wort der Neuzeit: saeculum bezeichnete
ursprünglich einfach "die Welt" im Gegensatz zur
religiös-spirituellen Sphäre, zur spiritualitas. Was zunächst ein
Charakteristikum christlicher Existenz war, wurde im Mittelalter zum
juristischen Terminus: spirituales waren die Ordensgeistlichen im
Unterschied zu den Weltpriestern, und seit den Verhandlungen zum
Westfälischen Frieden 1648 bedeutete Säkularisierung auch den
Übergang kirchlicher Güter in die Hände der weltlichen Macht oder
der reformierten Landeskirchen. Die Frage nach dem Verhältnis von
spiritualitas und saeculum wird so deutlich wahrnehmbar ihres
religiösen Charakters entkleidet und zur Sache von Macht-, Besitz-
und Rechtsverhältnissen. Die Aufklärung stellt die theologische
Erzählung von der überzeitlichen Dimension menschlicher
existentieller Erfahrung in Frage und lenkt die Achtsamkeit der
Sinne aufs Zeitliche. Gott ist neuzeitlich zum Jenseitsbewohner
geworden, und das Diesseits emanzipiert sich vom Jenseits.
Säkularisierung bedeutet daher auch: die Dimension des
Überzeitlichen wird zum Jenseits, und das Bild vom Menschen als
Gottes Ebenbild, verliert seinen Ort. Die Frage und Suche nach dem
wahren Wesen des Menschen muss daher neu aufgenommen werden.
Möglichkeit der Wahl
Säkularisierung hat aber noch andere Bedeutungen. Nach
mittelalterlicher theologischer Auffassung binden kirchliche Gesetze
im Diesseits wie im Jenseits. Im Zuge der Konfessionalisierung
verlieren sie jedoch zunehmend ihre bindende Kraft an den Staat. Der
demokratische Staat verweist die Religion unter die übrigen
Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, bietet aber zugleich Raum
für verschiedene religiöse Entwürfe. Religion ist in der modernen
Gesellschaft nicht mehr länger von außen und oben her zugeteiltes
Schicksal, sondern es gibt eine Vielfalt von religiösen
"Sinnangeboten", unter denen der einzelne seine Wahl
treffen kann. "Was einst Schicksal war, ist zu einer Vielfalt
von Wahlen und Entscheidungen geworden. Das Schicksal hat sich zu
Entscheidung gewandelt."(P. Berger, The Heretic Imperative, S.
16)
Importierte Religionen aus Asien
Eine der Folgen der europäischen Kolonialherrschaft in Asien ist
dass Religionen aus Asien in diesen offenen Raum eintreten.
Zunächst richtet sich das Interesse auf Indien. Vedische und
upanischadische Lehren werden zusammen mit buddhistischen vom
gebildeten Publikum aufgenommen. Das bekannteste und folgenreichste
Beispiel dieser Form der Misch-Rezeption ist Schopenhauer: seine
Schriften ebnen der Rezeption asiatischer Philosophie und Religion
in Deutschland den Weg. An buddhistischen Traditionen ist um diese
Zeit vor allem der Theravada-Buddhismus Südostasiens bekannt, und
der Zen-Buddhismus gilt bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts - wenn er
überhaupt bekannt ist - als eine abartige Form des Buddhismus. Dass
der Zen-Buddhismus heute im Westen fast schon zu einem kulturellen
Versatzstück geworden ist - Bilder von Zen-Mönchen etwa
transportieren in der Werbung für Zigaretten und Fluggesellschaften
Wertvorstellungen wie Ruhe, Entspannung und Originalität - liegt
vor allem an der Vermittlertätigkeit von D. T. Suzuki. Seine
Bücher über Zen-Buddhismus haben die Rezeption des Zen im Westen
nachhaltig geprägt. Doch seine Darstellung des Zen-Buddhismus ist
selbst schon ein Ergebnis der Begegnung von West und Ost im Zeichen
des Kolonialismus und Imperialismus.
Modernisierung in Japan
Ab Mitte des 19.Jahrhunderts erfolgte in Japan eine rasante
Modernisierungsphase. Die feudalen Strukturen wurden großteils
aufgelöst, und an ihre Stelle trat die zentrale Staatsgewalt. Auch
die Standesunterschiede und Privilegien der Samurais wurden
aufgehoben. Ein wesentlicher Schritt war hier die Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht (1873). Um den Erfolg der Modernisierung zu
gewährleisten holte man Experten aus dem Westen: Deutsche für die
medizinische Ausbildung und die Organisation der Universitäten,
später auch, um eine Verfassung nach preußischem Vorbild
einzuführen; Amerikaner für die Landwirtschaft und den Postdienst,
aber auch für das Volksschulsystem und als Ratgeber des
Außenministeriums. Briten berieten Japan beim Ausbau der Eisenbahn,
des Telegrafenwesens und der Kriegsmarine; das Heer dagegen stützte
sich auf französische Instruktoren, und für die schönen Künste -
westliche Malerei und Bildhauerei - holte man Italiener. Seit 1880
hatte zudem eine enorme Industrialisierungswelle eingesetzt 1905 war
die Hälfte aller Exportprodukte maschinell gefertigt.
Konsequenzen der Modernisierung für den
Buddhismus
Japans Außenpolitik zeigte den Erfolg dieser simultanen Bewegung
von Modernisierung, Militarisierung und Industrialisierung. Dies
führte weiter nach dem russisch-japanischen Krieg zur Urbanisierung
und zum Entstehen einer konsumorientierten Massenkultur. Im Zuge
dieser Umgestaltung Japans zum modernen Nationalstaat war der
Buddhismus, die Religion des feudalen Japans, kurzfristig in
Misskredit gekommen. Der Buddhismus sei korrupt, dekadent,
antisozial, parasitär, abergläubisch und feindselig gegenüber der
Modernisierung Japans, hieß es in der frühen Meiji-Ära; außerdem
eine ausländische, unjapanische Religion. Die Eingriffe des Staates
- u.a. die Enteignung der Tempel - brachten die verschiedenen
buddhistischen Richtungen in eine ökonomische Krise. Zudem führte
die rasche Verstädterung dazu, dass viele Familien vom Land in die
Stadt zogen und damit die finanzielle Unterstützung der Tempel
entfiel.
Forderung nach einem "neuen
Buddhismus"
In dieser politischen, ökonomischen und sozialen Krise des
japanischen Buddhismus propagierten buddhistische Intellektuelle
einen "neuen Buddhismus" (Vgl. dazu: R. Sharf, The Zen and
Japanese Nationalism, in: D. Lopez (ed.), Curators of the Buddha.
The Study of Buddhism under Colonialism. Chicago 1995). Pate stand
dabei - wie auch sonst bei der Modernisierung Japans - der Zeitgeist
des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Buddhistische Lehren wurden dabei
mit den Errungenschaften der modernen Wissenschaft interpretiert und
identifiziert; eine Entwicklung, die ähnlich auch für den
Theravada-Buddhismus Sri Lankas stattfand, aber dort aus
antikolonialistischen Motiven. Demnach stand der Buddhismus nicht
nur in keinem Widerspruch mit der modernen Wissenschaft, sondern
hatte auch angeblich so manche Entdeckung der modernen
Naturwissenschaften bereits vorweggenommen.
Japan als spirituelles und ethisches Erbe Asiens
Dieser sozusagen gereinigte "Neue Buddhismus" wurde zum
Teil der Kokutai-Ideologie, und man argumentierte unter Heranziehung
darwinistischer Modelle, dass der Buddhismus asiatisch, aber in
Japan am höchsten entwickelt sei; und manche gingen so weit zu
sagen, dass der reine Buddhismus nur in Japan überlebt habe. Japan
wurde so als der einzige Erbe der spirituellen und ethischen
Tradition Asiens hervorgehoben, während gleichzeitig das
Kaiserreich Japan koloniale Ansprüche in Asien erhob.
Zen beschreibt das Wesen der Wirklichkeit
Auch der Zen-Buddhismus wird im Sinne des Neuen Buddhismus
umgeformt und zur Religion stilisiert, die gegen die Religionskritik
der Aufklärung immun sei, da Zen keine Religion im üblichen Sinn,
sondern eine empirische, rationale und wissenschaftliche Frage nach
dem Wesen der Wirklichkeit sei. "Zen nimmt wahr und empfindet,
aber es abstrahiert und meditiert nicht. Zen dringt hindurch und
verliert sich gänzlich im Unendlichen."( D. T. Suzuki, Die
große Befreiung, Bern 1993. 15. Auflage, S. 55 ) "Zen
verkündet von sich selbst, dass es der Geist des Buddhismus ist, in
Wirklichkeit ist es der Geist aller Religion und Philosophie" (Ebd.
S. 5). Darüber hinaus sei im Zen das Leben und die Philosophie der
fernöstlichen Völker, im besonderen der Japaner systematisiert und
kristallisiert, so Suzuki.
Die unmittelbare Erfahrung
Zen ist die Religion der unmittelbaren Erfahrung: diese Position
setzt die philosophische Vorarbeit von Suzukis Freund Kitaro Nishida
voraus. Im Sinne der Modernisierung Japans versuchte Kitaro Nishida,
der Begründer der Kyoto-Schule, Zen-Erfahrung durch westliche
Philosophie zu interpretieren. Im Zentrum dieses Versuchs steht
dabei die unmittelbare Erfahrung (keiken bzw. taiken) der
Wirklichkeit in ihrer Soheit. Keikeh steht für
"Erfahrung", und taiken für "Erlebnis" –
Ausdrücke. "Erfahrung" ist durch die Naturwissenschaft,
"Erlebnis" durch die Kultur- und Geisteswissenschaft
belegt. Keiken und taiken sind Ausdrücke, die erst seit der frühen
Meiji- Zeit, also erst nach der Öffnung Japans für den Westen,
geläufig wurden. "Unmittelbare Erfahrung",
"Selbst-Gewahrsein" (jikaku) gründet für Nishida aber
weder in den Natur- noch in den Geisteswissenschaften, sondern im
"absoluten Nichts", einer Interpretation von
"Leere", sunyata, durch die Terminologie des deutschen
Idealismus. Dem entspricht dann die "absolute
Subjektivität" dieser Erfahrung.
Entstehen einer Doppelbewegung
In der Auseinandersetzung japanischer Denker mit der
eindringenden Kultur des Westens wird das
"Selbst-Erwachen" des Zen-Buddhismus als
"unmittelbare Erfahrung" interpretiert. Das sollte der
Hervorhebung der Besonderheit Japans dienen. Durch die Übernahme
westlicher philosophischer Terminologie wird aber zugleich ein
Prozess der Aufklärung und Entmythologisierung angeregt, der im
Zen-Buddhismus eine Erfahrung findet, die weder an eine konkrete
Kultur noch an eine konkrete Religion - also auch nicht an den
Buddhismus - gebunden ist. Das knüpft an ein bekanntes
buddhistisches Gleichnis an. Der Buddha vergleicht seine Lehre mit
einem Floß, das man zurücklässt, wenn man das andere Ufer, das
Ufer des Erwachens, erreicht hat.
Der "Wahre Mensch ohne Rang"
Diese Interpretation der buddhistischen religiösen Tradition mit
Mitteln der säkularen westlichen Philosophie ist der Hintergrund
für D. T. Suzukis Darstellung des Zen. Deutlich wird das zum
Beispiel, wenn er über den "Wahren Menschen ohne Rang"
spricht, ein Ausdruck, der auf den chinesischen Zen-Meister Lin-Chi
(jap. Rinzai, gest. 867) zurückgeht. "Eines Tages predigte er:
`Da ist der wahre Mensch ohne Rang in der Masse des nackten
Fleisches, der durch die Tore eures Gesichts (d. h. Sinnesorgane)
aus- und eingeht. Wer (diese Tatsache) noch nicht bezeugt hat, seht,
seht!' - Ein Mönch trat hervor und fragte: ‚Wer ist dieser wahre
Mensch ohne Rang?' - Rinzai stieg von seinem Stuhl herab, packte den
Mönch an der Kehle und sagte: `Sprich! Sprich!' - Der Mönch
zögerte. Rinzai ließ ihn los und sagte: `Was für ein wertloser
Dreckstock das ist!‘" (E. Fromm/D. T. Suzuki/R. de Martino,
a.a.0., S. 47). Diese Geschichte, wohl besser Anekdote, ist mehr als
tausend Jahre alt und dient bis heute als Koan, als rational
unlösbare Frage für Zen-Schüler. Ihr Hauptprotagonist, Lin-Chi
oder Rinzai, fordert von seinen Zuhörern, hier und jetzt die wahre
Natur des Menschen zu manifestieren - in der Sprache der
Kyoto-Schule interpretiert, die Erfahrung des "absoluten
Nichts" hier und jetzt leibhaftig zu realisieren. Bei Suzuki
ist Zen die Summe - oder Nicht-Summe - der religiösen Erfahrungen/
Sprechweisen von Ost und West. Dies ist seine Interpretation der
unvermittelten Erfahrung der Einen Wirklichkeit, der sunyata, in der
der Dualismus von Diesseits und Jenseits aufgehoben ist.
Buddhismus als Alternative zum Christentum
Der Zen-Buddhismus erscheint damit gerade in der Form, die er in
Japan durch die Umgestaltung im Kontext des "Neuen
Buddhismus" erhalten hat, besonders geeignet, das Projekt der
notwendigen Suche nach dem wahren Menschen in der säkularisierten
Welt der Moderne zu unterstützen. Vorbereitet ist diese Entwicklung
durch die Rezeption des Buddhismus als relevante Alternative zum
Christentum. Seit durch die Religionskritik - besonders die
atheistische - zugleich mit dem Jenseits auch die überkommene
christliche Hoffnung auf Überwindung des Todes obsolet geworden
ist, sucht man nach anderen Hoffnungsquellen. Vor allem für
Intellektuelle war und ist der Buddhismus in seiner modernen
Interpretation als rationale Religion eine anziehende Alternative.
Entdeckungen des Jesuitenpaters H.M.
Enomiya-Lassalle
Am Zen interessiert sind aber mittlerweile auch Christen, die als
Christen und auch bei Zen-Meistern, die Christen sind, üben. Doch
dies ist nicht nur ein Ergebnis der japanischen Neu-Interpretation
des Zen-Buddhismus mit Mitteln westlicher Philosophie, sondern auch
der religiösen Existenz des Jesuitenpaters H. M. Enomiya-Lassalle.
Seit 1929 als Missionar in Japan tätig, interessierte er sich von
Anfang an für die Kultur und Religion Japans und daher auch für
den Zen-Buddhismus. In der christlichen Mystik fand der Jesuit
Lassalle das Pendant zu der Direktheit der Zen-Tradition. Um diese
Parallele zu finden, brauchte er kein theoretisches Rüstzeug. Schon
das erste Sesshin im Kriegswinter 1943 hatte ihn offensichtlich
davon überzeugt, dass die Zenmönche aus derselben Quelle schöpfen
wie etwa Johannes vom Kreuz, der große spanische Mystiker. Diese
Intuition war äußerst ungewöhnlich für jene Zeit, in der man
gängigerweise allenthalben annahm, dass Nicht-Christen der direkte
Zugang zum Himmel verwehrt sei. Das hat sich nach dem Zweiten
Vatikanischen Konzil jedoch geändert. Die Intuition P. Lassalles
erwies sich für ihn und viele andere als tragfähig. Nicht, dass
sein Weg von christlicher wie von buddhistischer Seite unbestritten
war oder ist. Andererseits aber waren es sowohl Buddhisten als auch
Christen, die P. Lassalle zu seinem Abenteuer ermutigten oder auch
daran teilnahmen. Seine Motive waren dabei anderer Art als etwa die
der Kyoto-Schule oder D. T. Suzukis. Denn das wesentliche Motiv war
für ihn das Verlangen nach der unio mystica, der Vereinigung mit
Gott, wie dies in der Tradition der christlichen Mystik angestrebt
wird. Dieses Streben findet sich in seinen Tagebüchern nachhaltig
dokumentiert. Voraussetzung für die Gotteserfahrung aber das
Nicht-Haften am Weltlichen und Geschöpflichen, wie er auch als
Jesuit weiß. In diesem Streben danach sind die Zen-Mönche ein
Vorbild.
Vielfältige Beweggründe Lassalle‘s
Es waren aber durchaus gemischte Motive, die Hugo
Enomiya-Lassalle mit dem Zen-Buddhismus und der Praxis des Zen in
Verbindung brachten: einerseits die Suche nach einem geistlichen Weg
für sich selbst, andererseits die Sorge um Japan und seine
Menschen, und zum dritten der missionarische Antrieb,
möglicherweise das Christentum in Japan zu etablieren. Aus diesen
Motiven entsteht bereits 1956 die Idee, ein katholisches
Zen-Retreat-house zu bauen, und zwar für christliche Japaner, die
eine den Japanern genuine christliche Spiritualität - also z. B.
Zazen, die Übung des stillen Sitzens in Versunkenheit - suchen,
aber auch für Buddhisten. Dafür musste er aber zunächst selbst
den Zen-Weg gehen, denn ohne die Erfahrung des Erwachens, des Kensho,
war so ein Unterfangen nicht erfolgreich durchzuführen. 1973
bestätigt ihm Yamada Koun Roshi in Kamakura das Kensho, und 1980
erhielt Hugo Enomiya-Lassalle schließlich die Befugnis, Zen
weiterzugeben. Unterwegs zu einem neuen Menschenbild
Weitergabe von Zen Lehren an Christen
Aus dieser Begegnung zwischen dem Jesuitenpater und dem
Zen-Meister entwickelte sich eine neue Begegnung der Religionen auf
der Ebene der Erfahrung, jedoch unter dem Vorzeichen des
Säkularismus. Es wurde mit der Weitergabe buddhistischer
Erfahrungen an Christen begonnen.
"Roshi sagte mir am Schluss des letzten Dokusan, er möchte
das ganze Zen zum Katholizismus geben, das sei seine Aufgabe. Aber
wie es dort zu integrieren sei, das müssten wir selbst
finden", schreibt P. Lassalle nach der Anerkennung seines
Kenshos in sein Tagebuch (Jul i 1973). Tatsächlich hat Yamada Koun
Roshi als erster buddhistischer Zen-Meister damit begonnen, Christen
- die entsprechende Erfahrung vorausgesetzt - zu Zen-Lehrern zu
ernennen, eine Praxis, die von seinen Nachfolgern beibehalten worden
ist. Anders als D. T. Suzuki sieht Yamada Koun die Entwicklung des
Zen in Japan eher als eine Geschichte des allmählichen Verfalls als
der blühenden Entwicklung. Die neue Formulierung, die die
Kyoto-Schule für die Erfahrung des Erwachens im Zen gefunden hat,
macht eine rein anthropologische Bestimmung der Zen-Erfahrung
möglich. Damit begründet Yamada Roshi denn auch die Ernennung von
Christen zu Zen-Meistern. Denn die Erfahrung des Erwachens sei für
alle Menschen dieselbe, sagt er in seinen Vorträgen immer wieder,
und nicht an eine bestimmte Religion gebunden.
Das "Neue Bewusstsein"
Die Betonung, die der Buddhismus auf die Heilsnotwendigkeit der
persönlichen Erfahrung legt, macht eine "Modernisierung"
- für den Buddhismus leichter als für das Christentum. Im
christlichen Kontext ist auch die notwendige Suche nach der wahren
Wirklichkeit des Menschen, von der Marx spricht, auf
nicht-theologische Muster verwiesen. H. M. Enomiya-Lassalle hat dies
mit seiner Idee des "neuen Bewusstseins" versucht. Es ist
der Versuch eine Verkündigung des Evangeliums unter den geänderten
Umständen der Moderne möglich zu machen. Für ihn kommt diese Idee
aus der deutlich verspürten Unzulänglichkeit einer rationalen
Ableitung des Glaubens, die schon früh in seinen Notizen zu
bemerken ist. Bei seinen Gedanken verbindet P. Lassalle den Weg des
Zen mit seiner Kritik am materialistischen Verfall der Gesellschaft.
Er formuliert das positiv und sagt, nachdem es einen so enormen
technischen Fortschritt gegeben habe, sei nun mit der Zen-Übung ein
Weg da, der zu einem ebensolchen enormen geistigen Fortschritt
führen könne. Zen sei ein Weg, der aus der Bindung ans Materielle
heraus zur Erfahrung Gottes führen könne.
Zen als ein Weg für alle
Wenn H. M. Enomiya-Lassalle über das "neue
Bewusstsein" spricht - und das hat er gegen Ende seines Lebens
immer intensiver als seine eigentliche Aufgabe betrachtet - , dann
geht es ihm vor allem und ausschließlich um religiöse Erfahrung
und um die tiefgreifende Verwandlung des Menschen, letztlich um die
Vereinigung mit Gott. Dies ist für ihn schon seit den späten 50er
Jahren das Motiv, die Übung des Zen für Christen zu propagieren.
Alle, nicht nur die Ordensleute, sind zur Vollkommenheit berufen.
Die Praxis des Zen bietet da einen Weg, den Laien genauso wie
Ordensleute gehen können.
Notwendigkeit neuer Visionen
Die traditionelle Formel mystischer Theologie dafür hieß: Gott
wurde Mensch, damit der Mensch Gott werde. Doch heutige Zeitgenossen
haben offenbar ein Gottesbild, das eine solche Formel fast
unverständlich werden lässt. Tatsächlich ist es nach dem Zerfall
der alten, vormodernen Ordnungen notwendig, eine neue Vision des
Lebens zu geben. Feuerbachs bzw. Nietzsches Idee des Übermenschen
ist ein Versuch in diese Richtung, zuletzt aufgegriffen von der
Postmoderne. An die Stelle der Vernunft - des zentralen Leitbegriffs
der Moderne - tritt eine Multiperspektivität der Erkenntnis, die
freilich der Gefahr der Beliebigkeit und ihren fatalen politischen
Konsequenzen nur schwer entkommt. Die Vision, die P. Lassalle mit
dem "neuen Bewusstsein" gibt, lässt sich in diesem
Kontext formulieren: allerdings ist nicht Multiperspektivität die
Rettung, sondern A-Perspektivität, d. h. ein völliger Wechsel der
Dimension des menschlichen Selbstverständnisses. Für P. Lassalle
ist das aber nicht nur eine Frage der Erkenntnistheorie. Das
"neue Bewusstsein" wird vor allem durch eine tiefe
Selbstlosigkeit verwirklicht - eine christlich wie buddhistisch
gleichermaßen verbindliche Haltung." (H. M. Enomiya-Lassalle,
Wohin geht der Mensch, Köln 1981)
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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