Fachartikel

Christliche Theologie im Dialog mit dem Hinduismus

Von Josef Neuner SJ (Biografie)

 

Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich das Verhältnis der Kirche zur Welt und im besonderen zu den anderen Religionen gewandelt. Dieses geänderte Religionsverständnis wurde von Katholiken einerseits begrüßt, weil eine "exklusive" Kirche in der heutigen Gesellschaft keinen Platz mehr hat, andererseits fühlten sie sich aber in der Intimsphäre ihres Glaubens bedroht, wenn sozusagen alle Menschen aller Religionen im Himmel Platz finden sollten. Der erstmaligen grundsätzlich positiven Wertung der Religionen durch ein Konzil ging eine enorme theologische Arbeit voraus. Dieser Beitrag befasst sich mit den ersten Schritten einer Theologie im speziell indischen Kontext.

Ein Dialog mit den anderen Religionen - in unserem Fall mit dem Hinduismus - wurde erst möglich, als der hohe spirituelle Wert ihrer Traditionen erkannt wurde. Gleichwohl ist auch heute noch das Verhältnis zu den Hindus von der ablehnenden Haltung der Kirche in der Vergangenheit ziemlich belastet. Wir müssen also unseren Blick zunächst auf diese vor-konziliare Zeit einer "exklusiven Kirche" richten, um dann etwas zum heutigen Dialog und seinen Problemen sagen zu können.

Die "exklusive" Kirche

Der Text, der das exklusive Kirchenverständnis in der Vergangenheit prägte, stammt von Fulgentius von Ruspe, einem Schüler des Kirchenlehrers Augustinus. Er wurde später im Konzil von Florenz (1442) von den Bischöfen übernommen: "Die römische Kirche glaubt fest, bekennt und verkündet, dass niemand außerhalb der katholischen Kirche, nicht nur Heiden, sondern auch Juden, Häretiker und Schismatiker, ewiges Leben finden kann. Sie werden ins ewige Feuer gehen, das für den Teufel und seine Engel bereitet ist." Dieser Passus hat weithin die pastorale und missionarische Orientierung der Kirche bestimmt. Er hat zugleich auch das Bild der Kirche in den Augen der Angehörigen von anderen Religionen, gerade auch der Hindus, geprägt und damit unübersteigbare Hürden aufgerichtet.

Gottes Heil außerhalb der Kirche gab es nicht

Der Text muss aus dem institutionellen Kirchenverständnis des ausgehenden Altertums heraus verstanden werden: Gott hat sein endgültiges Wort des Heils in Jesus Christus gesprochen; dieses Wort ist der Kirche anvertraut. Nachdem das Christentum die offizielle Religion des Römerreiches geworden war, das die damals bekannte Welt beherrschte, gab es keine Entschuldigung mehr, außerhalb der Kirche zu bleiben. Gottes Heil schien in der Kirche institutionalisiert. Andere Religionen, die ihren Anhängern Heil versprachen, wurden als falsch und irreführend qualifiziert. Sie wurden als fruchtlose menschliche Versuche angesehen, über die irdische Welt hinauszureichen. Oft sah man in ihnen sogar das Werk des Teufels, der Menschen in die Irre führt. Diese Sicht war dann auch das gängige Kirchenverständnis des Mittelalters. Zur Zeit der Entdeckung neuer Kontinente am Ende des 16. Jahrhunderts stand die Kirche vor der Aufgabe, einer Welt, die - im damaligen Verständnis - in Dunkel und Unwissenheit lebte und kein Heil kannte, die Wahrheit und Erlösung des wahren Glaubens zu bringen. Es gab keinerlei Dialog, nur Predigt mit der Einladung zum Eintritt in die Kirche.

Erstes Auftauchen des Christentums in Indien

In Indien gab es lange Zeit keine wirkliche Begegnung der Christen mit dem Hinduismus. Als später die Portugiesen Goa und einige Hafenstädte an der indischen Westküste eroberten und als Handelszentren ausbauten, brachten sie auch ihr Christentum mit, und zwar in der Form der "westlichen" Kirche - als Religion der politisch und wirtschaftlich überlegenen Eroberer. Wer Christ wurde, nahm einen portugiesischen Namen an und adoptierte westliche Lebensformen. Es gab einzelne, großartige Versuche, Christentum in den Formen der kulturellen und religiösen Tradition des Landes zu leben. Berühmt wurde der Jesuit de Nobili, der sich von westlichen Lebensformen abwandte und das streng asketische Leben eines Sanyasi führte. Aber der Versuch wurde nicht anerkannt. Christentum war in den Augen der Hindus die Religion der Ausländer. Möglichkeiten, die christliche Botschaft in Indien heimisch zu machen, wurden verabsäumt. Das bedeutendste Beispiel sei hier kurz skizziert.

Die christliche Botschaft in der indischen Renaissance

Der Beginn des 19. Jahrhunderts brachte in Bengalen eine Renaissance des Hinduismus. Sie war der Anfang einer politischen Bewegung, die schlussendlich zur Unabhängigkeit Indiens von der britischen Krone führte. Hand in Hand mit ihr ging ein Neuerwachen der alten kulturellen und spirituellen Traditionen Indiens. 1828 gründete Ram Mohan Roy den "Brahmo Samaj" als Sammelpunkt dieser Bewegung, die sich um die Erneuerung des Hinduismus bemühte. Ihr zweiter Führer war Keshab Chandra Sen (1838-1884). Nach jahrelangem Studium war er zur Überzeugung gekommen, dass sich keine andere Religion mit der Botschaft Jesu vergleichen lässt: "Es war Jesu einziges Ziel auf Erden, die Menschen empor zu führen zum himmlischen Licht." Indiens Sehnsucht nach Gott ist in ihm erfüllt. Er kam ja nicht, um religiöse Traditionen abzuschaffen, sondern sie zu erfüllen (Mt 5,17). Das gilt nach Keshab nicht nur vom Judentum, sondern ebenso gut vom Hinduismus. Es war für ihn kein Problem, gleichzeitig Hindu und Christ zu sein; Hindu als Erbe der kulturellen Fülle und der spirituellen Traditionen seines Landes, Christ im Glauben an Jesus, und in ihm tief verbunden mit Gott. Aber Keshab konnte nicht Christ werden. Keine christliche Gemeinde, ob katholisch, anglikanisch oder protestantisch, hätte ihn aufgenommen, wenn er sich nicht zuvor von seiner Hindu-Tradition losgesagt hätte. Man konnte sich eben das Christentum nur in westlichem Gewand vorstellen.

Das Zweite Vatikanische Konzil

Die Ablehnung des Hinduismus hatte aber noch tiefere Gründe: traditionelle Theologie glaubte an eine Gegenwart und ein Wirken Gottes in der Kirche allein. Ihr zufolge sind andere Religionen nicht in Gottes Heilsplan eingeschlossen, sie sind nur Menschenwerk und führen in die Irre. Erst im Zweiten Vatikanischen Konzil hat die Kirche den gemeinsamen Ursprung aller Religionen in Gott eingesehen: "Ohne Unterlass hat Gott für das Menschengeschlecht gesorgt, um allen das ewige Leben zu geben, die das Heil durch Ausdauer im guten Handeln suchen" (DV 3). Es gibt letztlich nur einen einzigen allumfassenden Heilsplan Gottes: "Alle haben Gott als ein und dasselbe letzte Ziel. Seine Vorsehung, die Bezeugung seiner Güte und seine Heilsratschlüsse erstrecken sich auf alle Menschen, bis die Erwählten vereint sein werden in der Heiligen Stadt, deren Licht die Herrlichkeit Gottes sein wird" (NA 1). Aber dessen ungeachtet lehnten auch in der nachkonziliaren Zeit viele kirchliche Kreise das gemeinsame Beten des Papstes mit Vertretern aller Religionen in Assisi ab. Noch einmal musste der Papst es in seinem Rundschreiben über die Mission gleichsam rechtfertigen: "Das inter-religiöse Treffen in Assisi hatte den Sinn - mit Ausschluss jeder Form von Indifferentismus - meine Überzeugung auszudrücken, dass jedes authentische Gebet vom Heiligen Geist inspiriert ist, der in geheimnisvoller Weise in jedem Menschenherzen weilt" (RM 29). Das Konzil hat also das Bewusstsein der erleuchtenden und heiligenden Gegenwart Gottes in Menschen aller Religionen erneut geweckt und so gegenseitiges Verstehen und Zusammenarbeit für das Wohl der Menschen vorbereitet.

Frühe Wertschätzung des spirituellen Reichtum Indiens

Eine vertiefte Wertschätzung der Spiritualität des Hinduismus durch Christen hat dennoch schon vor dem Konzil begonnen. Wir lassen einen Pionier der christlichen Begegnung mit dem Hinduismus zu Wort kommen, den gebürtigen Luxemburger Peter Johanns. Er kam nach eingehenden indologischen Studien 1921 nach Kalkutta und war Mitbegründer der interkonfessionellen Zeitschrift "Light of the East", in der er 146 Beiträge zu einer christlichen Sicht des spirituellen Hinduismus veröffentlichte, die er dann in seinem Werk "To Christ through the Vedanta" sammelte. Es war damals ein bahnbrechendes Werk, gleich einer einsamen Stimme, begr-ündet in hochgradiger Sachkenntnis, so dass es für die Weiterentwicklung des Dialogs maßgebend werden konnte. Wir folgen dem umfangreichen Artikel "Hinduismus". (Dieser wurde erstmalig von der Catholic Truth Society, London, veröffentlicht. Neuauflage R. de Smet & J. Neuner, Religious Hinduism, St. Paul's, Bombay 1996, Seiten 31-64).

Die Botschaft des Hinduismus

Johanns fasst die geschichtliche Entwicklung des Hinduismus als "die intensivste Suche nach dem Göttlichen, die die Welt kennt" zusammen: Wie die Christen, so halten auch die Hindus ihre heiligen Bücher für inspiriert. Sie wissen um ihre Auserwählung, Gottes Gnade und um die Erhabenheit der Liebe Gottes. Zu den tiefsten Einsichten des Hinduismus gehört nach Johanns "die Lehre von der Selbstsucht des Menschen als dem größten Übel in

der Welt: Nach seinem erhabenen Ursprung aus Gott wandte sich dieses Geschöpf von Gott und von seinem eigenen Wesen ab und identifizierte sich bloß mit der materiellen Welt, mit seinem Leib. Um Frieden zu finden, muss er sich von seinem weltlichen Selbst abwenden, auf Gott hin. Die Umkehr kann nur durch die Liebe Gottes stattfinden, die zu völliger Hingabe und Unterwerfung führt". - Die Bezeichnung Gottes als "Saccidananda" (sat = Sein, cit = Wissen, Ananda = Wonne) nennt er die höchste denkbare Definition Gottes. "Wenn Sein und Wissen in absoluter Identität verbunden sind, verschwindet jeder Gegensatz. Wir finden uns in der absoluten Transzendenz."

Dreifacher Weg zur Vereinigung mit Gott

Den dreifachen Weg zur Vereinigung mit Gott sieht der Hindu als "karma marga", Weg der Werke, und als "jnana marga", Weg der Erkenntnis, und als "bhakti marga", Weg der Liebe, analog zum christlichen Weg der Reinigung, der Erleuchtung und der Einigung. Der Mensch lernt, zuerst seine Werke zu tun "ohne auf zeitliche Vergeltung zu warten. Durch die Selbstlosigkeit unseres Verhaltens reinigen wir uns und bereiten wir uns auf die Erleuchtung vor ... nur Liebe kann das Einswerden mit Gott finden".

Defizite des Hinduismus

Johanns ist sich bei aller Bewunderung der tiefen Einsichten und spirituellen Erfahrungen im Hinduismus der negativen Seiten der Philosophie und der sozialen Ordnung im Hinduismus wohl bewusst. Das Bewusstsein der radikalen Absolutheit Gottes kann freilich auch zu einem pantheistischen Weltverständnis führen oder wenigstens zu einer Herabminderung irdischen Seins als bloßen Scheins, "maya", wie die Wellen eines Stromes, die sich formen und wieder zerfließen. Die großen philosophischen Systeme sind diesen Gefahren nicht immer entgangen. Aber es wäre völlig unberechtigt, Hinduismus einfach mit Pantheismus gleichzusetzen. Freilich begründet der Hinduismus auch die soziale Struktur des Volkes, das Kastenwesen, mit dem göttlichen Ursprung des Menschen, und damit wird auch die Unberührbarkeit der Kastenlosen religiös sanktioniert. Die überreiche Mythologie entfaltet zwar tiefe Einsichten in die Fülle göttlichen Lebens und Waltens, kann aber andererseits zu sehr irdischen anthropomorphen Vorstellungen und zu vielen Formen des Aberglaubens führen. Aber es wäre ungerecht, nur diese Schattenseiten zu sehen.

Die Begegnung mit Gott im Hinduismus

Auch darf man nicht einfach den indischen Polytheismus als Vielheit der Gottheiten missverstehen. In seiner tief greifenden Studie (siehe: Religious Hinduism, Seite 117-129) stellt P. Fallon, ein Schüler von Johanns, fest, dass es im Hinduismus nur ein letztes Absolutes gibt, das völlig gestaltlose Brahma. Die Götter sind nicht Personen in unserem Sinn, sondern Personifikationen, die Gegenstand der Verehrung werden. Vishnu und Siva werden in den ihnen zugehörigen Gemeinschaften und Sekten als absolute Gottheit verehrt. Sie stellen zwei Weisen dar, Gott zu begegnen: Siva, den absolut Transzendenten, der in den unzugänglichen Bergen des Himalaja wohnt und in seinem Weltentanz zugleich wonnevoller Schöpfer aller Herrlichkeit und wilder Zerstörer ist. Oder Vishnu, Gott des weiten Himmels und der Meere, Schützer und Erhalter der Welt, Gegenstand liebender Verehrung, der sich in zehn Avataras - irdischen Selbstoffenbarungen - mitteilt. Andere zahllose Gottheiten sind Teiloffenbarungen des Absoluten, durch die wir mit dem ewig unfassbaren göttlichen Geheimnis verbunden sind.

Das alles soll keineswegs als ein Versuch verstanden werden, Hinduismus in seiner ungeheuren Vielheit und Verschiedenheit ganz einfach darzustellen. Es soll nur deutlich machen, wie christliche Forscher in durchaus positiver und verstehender Weise den Reichtümern der religiösen Tradition Indiens begegnet sind.

Die Begegnung christlicher Theologie mit dem Hinduismus

Von einer solchen Begegnung kann man erst in der nach-konziliaren Epoche reden. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts studierten indische Seminaristen ihre Theologie anhand lateinischer Textbücher, die allesamt im Westen verfasst wurden. Auch nach der Unabhängigkeit Indiens (1947) wurden Versuche, den christlichen Glauben mit einem indischen Hintergrund darzustellen – wie z.B. die Menschwerdung Christi mit den indischen Avataras zu vergleichen - mit Zurückhaltung aufgenommen. Sie wurden sogar von Indern beargwöhnt, weil man doch den christlichen Glauben nicht mit anderen Religionen vergleichen könne.

Die Wurzeln christlichen Denkens

Das Konzil bedeutete einen tiefen Einschnitt. Die Verwurzelung christlichen Lebens in der Kultur der Völker und die Begegnung mit ihren religiösen Traditionen war durch Jahrhunderte verabsäumt worden. Indische Theologen wurden sich bewusst, wie sehr unser ganzes christliches Denken und Sprechen vom Westen geprägt ist: Natürlich entfaltete sich christliches Leben zunächst im Mittelmeerraum und wurde der Glaube zuerst in Denkmustern griechischer Philosophie formuliert. Im Mittelalter wurde sodann die Scholastik das Medium der christlichen Lehre.

Die Entwicklung einer christlich-indischen Spiritualität

Aber auch Indien hat das Recht und die Pflicht, die tiefe Gotteserfahrung, die in den Upanischaden zu uns kommt, im Licht der christlichen Botschaft zu lesen!

Es entwickelte sich eine christlich-indische Spiritualität: Ihr erstes Anliegen bleibt die Hinführung zur inneren Wahrnehmung des eigenen Daseins vor Gott, ohne die religiöse Begriffe und Formeln leer und steril sind. Wenn Gott, wie das Konzil neu erkannt hat, allen Menschen aller Zeiten mit seiner heilbringenden Gnade gegenwärtig ist, müssen wir dann nicht als Inder den Reichtum, der in den heiligen Büchern zu uns kommt, in unser christliches Leben hineinnehmen, sodass wir ganz Inder und ganz Christen sein können? Nur so kann sich indische Theologie entwickeln: Nicht im Gegensatz zu westlichen Traditionen, sondern als Bereicherung aller Kirchen in einem umfassenderen Verständnis des Wortes Gottes.

Der Umgang Asiens mit der westlichen Theologie

Es war zu erwarten, dass das Verlangen nach neuen Formen der Verkündigung, die der asiatischen Welt entsprechen und im Herzen ihrer Völker ein Echo finden, zum zentralen Problem der Synode Asiens würde. Die Bischöfe von Vietnam etwa erklärten im Vorfeld: "Westliche, vor allem scholastische Theologie entspricht nicht dem religiösen Bewusstsein Asiens. Sie ist zu rationalistisch. Wahrheit kann nicht bloß analysiert werden, ihr Geheimnis kann man nicht einfach erklären. Schweigen kann da oft besser sein als Worte."

Relativismus als Gefahr für den Glauben in unserer Zeit

In den letzten Jahrzehnten haben sich also Ansätze einer asiatischen Theologie entwickelt. Diese müssen natürlich aus Asien kommen. Für die Einheit und Reinerhaltung des Glaubens mag sich die Glaubenskongregation in Rom verantwortlich fühlen. Es ist begreiflich, dass es dabei zu Spannungen kommt. Die Verurteilung des Theologen Tissa Balasuriyas (Sri Lanka) und die Anschuldigungen gegen die Schriften Tony de Mellos (Indien) haben bereits öffentliches Echo gefunden. Man soll die Sorge Roms durchaus verstehen. Auch Kardinal Ratzinger hat wohl recht, wenn er in Relativismus und Indifferentismus die Hauptgefahren des Glaubens in unserer Zeit sieht. Man muss auch in neuen Anliegen und Ansätzen, die da aufbrechen und wachsen müssen, die latenten Gefahren aufspüren, die auf Abwege führen können. Aber um wirklich weiter zu kommen, sollte man sich doch zunächst über diese Probleme in persönlicher Verbundenheit und im Bewusstsein des gemeinsamen Glaubens verständigen können!

Kardinal Ratzinger formuliert die Gefahr des Relativismus

Kardinal Ratzinger sah die Gefahr des Relativismus in der Überbetonung der spirituellen Erfahrung in Indien: indische Spiritualität beruhe nicht auf Autorität, sondern letztlich auf Wahrnehmung (anubhava). Niemand aber kann - so Ratzinger - seine Erfahrung als Norm für andere aufstellen. Wenn nun jeder seiner Erfahrung folge, könne es keine Einheit im Glauben geben. So fürchtete Ratzinger, dass in Indien die vedische Weisheit mit der biblischen Botschaft als gleichberechtigt angesehen würde. Bischof Gali, Vorsitzender der "doctrinal Commission" der indischen Bischofskonferenz, gab in seiner Antwort zu, dass es unter einzelnen Theologen Abweichungen gebe. Dann aber zitierte er die Erklärung der "Indian Theological Association" von 1989: "Wir schauen auf Christus als den, der sich entäußert hat. Seine ,kenosis` bedeutet, dass er sich nicht an seinen göttlichen Status klammert. Sie ist ein Akt unbedingter Hingabe an den Vater ... Christus ist wesentlich der Weg zum Vater, er ist theozentrisch. Wer auf dem Weg ist, hat auch das Ziel. - In unserem Verhältnis zu anderen Religionen folgen wir diesem Christus, der zum Vater führt. Er ist mit den Anhängern aller Religionen auf ihrem Weg zum Absoluten." (Nr.22)

Die Stellung Jesu in der heutigen Zeit

Es geht in den Spannungen zwischen einigen indischen Theologen und römischen Behörden letztlich um das Verständnis Jesu, seine Person und Sendung, in der pluralistischen Welt von heute. In dieser Auseinandersetzung mit Rom aber ist die Offenheit für andere Religionen und Spiritualitäten doch als gemeinsame Gesprächsbasis anerkannt. Ratzinger selbst hat es deutlich formuliert: Die Zeit der Ausschließlichkeit und Isolierung des Christentums ist vorbei. Die Hinwendung zum Glauben an Jesus besteht "nicht in Zerstörung, sondern Umformung. Bekehrung zerstört nicht die Religionen und Kulturen, sondern formt sie neu ... Was in den Religionen am besten ist, das ist auferstanden". (Nr.l2)

Ein gemeinsames Bewusstsein ist gefordert

Konfrontation und Verurteilungen bleiben fruchtlos und vergiften die Atmosphäre. Wir brauchen das Bewusstsein der Gemeinsamkeit und des demütigen Suchens nach Formen und Formeln, in denen indisches Leben, Denken und Beten - die ja alle ihre letzten Quellen in Gott haben - im christlichen Lehren und Feiern Gestalt gewinnen kann.

 

Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn

 

>> Die "exklusive" Kirche

>> Gottes Heil außerhalb der Kirche gab es nicht

>> Erstes Auftauchen des Christentums in Indien

>> Die christliche Botschaft in der indischen Renaissance

>> Das Zweite Vatikanische Konzil

>> Frühe Wertschätzung des spirituellen Reichtum Indiens

>> Die Botschaft des Hinduismus

>> Dreifacher Weg zur Vereinigung mit Gott

>> Defizite des Hinduismus

>> Die Begegnung mit Gott im Hinduismus

>> Die Begegnung christlicher Theologie mit dem Hinduismus

>> Die Wurzeln christlichen Denkens

>> Die Entwicklung einer christlich-indischen Spiritualität

>> Der Umgang Asiens mit der westlichen Theologie

>> Relativismus als Gefahr für den Glauben in unserer Zeit

>> Kardinal Ratzinger formuliert die Gefahr des Relativismus

>> Die Stellung Jesu in der heutigen Zeit

>> Ein gemeinsames Bewusstsein ist gefordert