Fachartikel

Die christliche Hoffnung als Kriterium endzeitlicher Erwartungen

Von Richard Schaeffler (Biografie)

 

Die Erwartung des Weltendes hat nicht nur für Christen und Juden, sondern auch für die Anhänger anderer Religionen zentrale Bedeutung. Diese legt die Frage nahe ob man ihm mit bloßer Angst entgegentritt oder es als Schritt in die kommende Erlösung betrachtet. Die endzeitliche Hoffnung richtet sich darauf, dass "diese" Welt "einem neuen Himmel und "einem Reich der Gerechtigkeit und Liebe" Platz machen wird. Wie ist es nun möglich, schon in dieser Welt als Bürger und Platzhalter der kommenden zu leben und der Heraufkunft dieser zu dienen? Worin kann christliche Hoffnung als das Kriterium endzeitlicher Erwartungen bestehen?

 

Die beiden Begriffe "Erwartung" und "Hoffnung" sollte man zwar in ihrem Zusammenhang sehen, sie aber nicht gleichsetzen. Erwartung ist eine Voraussetzung menschlichen Lebens, jeglicher menschlichen Handlung. Handeln kann nur, wer im Wirklichen, das ihm begegnet, den Reichtum von Möglichkeiten entdeckt. Erwarten, aber auch Loslassen können, Enttäuschungen hinnehmen können sind für uns Menschen die Voraussetzungen dafür, dass wir uns mit unerwarteten, nicht planbaren Ergebnissen beschenken lassen. Erwartung, die unser Handeln leitet, schlägt angesichts solcher Erfahrungen um in Hoffnung. Sie ersetzt freilich nicht die Anstrengung selbst, ist aber bereit, sich dem anzuvertrauen, was wir durch unsere Leistung nicht erzwingen können. Gewiss bleibt das, was aus unserem Tun objektiv hervorgeht, oft schmerzlich zurück gegenüber dem, was wir subjektiv an Mühe auf gewendet haben. Zuweilen aber geschieht es, dass uns das objektiv "Gelungene", ja "Geglückte" weit über alles Erzwingbare und Planbare hinaus beschenkt und beglückt. Und das ist es, worauf wir nicht mehr eine Erwartung, sondern eine Hoffnung richten. Eine bloße Erfolgs-Erwartung, gar ein bloßes Erfolgs-Kalkül, betrügt sich ums eigene Ziel. Wer nicht hoffen kann, dass er mit all seiner Anstrengung etwas auf den Weg bringt, was dann selber weiterläuft, weiterwirkt und vor allem in sich steht und dem Wirkenden aus solchem Eigenstand heraus gegenübertreten und ihn überraschen kann, der betrügt sich um seine Erwartungen.

Die Hoffnung als Inhalt der religiösen Verkündigung

Bisher war vom profanen Erwarten und Hoffen die Rede, nun ist Hoffnung aber auch ein Inhalt der religiösen Verkündigung. Dass die religiöse Erfahrung hoffnungsträchtig ist, ja dass ihr Hoffnungsgehalt sie erst zur religiösen Erfahrung werden lässt, ist kein "specificum christianum", sondern gehört zum "generale religiosum". Erfahrungen in den unterschiedlichsten religiösen Kontexten führen uns immer wieder an Grenzen, wo alle Leistungs-Erwartung endet, oder wo Gelingendes nicht mehr als Resultat unserer Anstrengung gilt, sondern als Gabe. Dass es überhaupt etwas gibt, das "für mich" ist, dass es Luft gibt, die ich atmen kann, dass es Nahrungsmittel gibt, die "draußen" wachsen, aber "in mir" zur Quelle des Lebens werden, ist Gabe, die ich nicht erzwingen kann. 

Beigeisterung für das Schöne

Ebenso erstaunlich ist, dass es Schönes gibt, das mich begeistert. Diese Begeisterung ist etwas, das alleine ich vollziehen kann und das in mir dennoch nur durch das Schöne, das mir "draußen" begegnet, hervorgerufen wird. Genauso erstaunlich ist, dass es so etwas wie "geistige Nahrung" gibt, also Wahrheiten, an denen mein Geist wächst: Er kann nur wachsen, indem ich selber denke. Aber ich kann nur selber denken, indem mir etwas begegnet, das mir "zu denken gibt". Das ist unerzwingbare Gabe. Ich muss sie ergreifen und mir aneignen, aber ich kann sie nicht von mir aus produzieren.

Wirklichkeit übersteigt den rein persönlichen Zugriffsrahmen

Die andere Seite ist, dass das Wirkliche immer zugleich mehr ist, als es "für mich" ist. Die Art, wie etwas "für mich" wird, zum Objekt meiner Erkenntnis, zum Objekt meiner Praxis, zum Objekt meiner ästhetischen Erfahrung, schließt immer das Moment ein, das wir - umgangssprachlich, aber treffend - so ausdrücken: "Da steckt mehr drin, als ich mir aneignen kann; es ist unerschöpflich". Die Dinge sind "für mich" so gegeben, dass ich gleichzeitig bemerke, dass sie mehr sind, als sie "für mich" sind; sie widerstehen meinem Zugriff, und zwar nicht wie ein ungelöstes Rätsel, das mich zu neuer Anstrengung auf fordert und dann zuletzt die Vergeblichkeit dieser Anstrengung offenkundig macht, sondern wie ein Geheimnis, das mich gerade wegen seiner Unerschöpflichkeit beglückt.

Die Eigenart des Heiligen in allen Inhalten unserer Erfahrung

Dieses Moment der Unverfügbarkeit, kraft derer das Wirkliche mir gegeben werden muss, um zur Quelle meines eigenen Lebens zu werden, und das sich zugleich meinem Zugriff entzieht, steckt in allem, was ist. In alledem scheint eine Freiheit am Werke zu sein, eine Freiheit der Zuwendung und zugleich des Entzugs, deren Zustimmung zu mir ich nicht erzwingen, sondern nur erhoffen kann. Daher kommt es, dass für die Eigenart des Heiligen, das sich in allen Inhalten unserer Erfahrung zeigt und zugleich verbirgt, im Lateinischen und dann in einem geläufig gewordenen Fremdwort im Deutschen der Ausdruck "Numen" und "numinos" verwendet wurde und wird. 

"Numen" und "numinos"

Dieser Ausdruck bedeutet zunächst ein "Nicken", "nuere", und meint sodann die mühelose und zugleich unerzwingbare Zustimmung, also die Äußerung einer Willensmacht, von der mein Heil abhängt und der ich mich anvertraue, ohne über sie zu verfügen. Dass dieser Ausdruck gewöhnlich im grammatischen "Genus Neutrum" gebraucht wird, "das Numen" als die Erfahrungsgestalt für "das Heilige", liegt daran, dass alles, was überhaupt ist, als Manifestation dieser mir zustimmenden aber von mir nicht herbeizuzwingenden Willensmacht erfahren werden kann. "Das Heilige" ist nicht so sehr ein Inhalt neben allen anderen Inhalten, sondern vielmehr eine Qualität, eine Weise, wie alles, was ist und geschieht, mir begegnen kann.

Spuren einer freien Entscheidung "im Anfang"

Religiöses Wirklichkeitsverständnis auf dieser Ebene, die nahezu allgemein ist und in den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen angetroffen werden kann, veranlasst häufig folgende Deutung: Alles Wirkliche trägt in sich die Spur und das Erinnerungszeichen einer freien Entscheidung, die "im Anfang" geschah und der Welt von diesem Anfang an sozusagen eingestiftet ist. Die offene Alternative des Anfangs, als alles noch ganz anders hätte ausfallen können, bleibt ein Grundzug des Wirklichen: die offene Alternative von Zuwendung und Entzug. Ebenso aber bleibt allem Wirklichen eingestiftet jener Akt der göttlichen Freiheit, der diese Alternative zu einem "Ja" und nicht einem "Nein" entschieden hat. Aber auch dieses Ja anstelle eines möglichen Nein ist nicht nur im Anfang Ausdruck einer göttlichen Freiheit gewesen, sondern bleibt es in jedem Zeitpunkt des Weltlaufs. Dass sich immer neu lebensstiftende Zuwendung des Heiligen ereignen wird, und dass alles, was mir begegnet, zum Ausdruck dieser lebensstiftenden Zuwendung wird, geschieht ungenötigt, als Ausdruck einer Freiheit, deren Entscheidung ich nicht herbeizwingen, der ich mich nur hoffend anvertrauen kann.

Das göttliche "Ja" zur Schöpfung

Nun kann man von Kultur zu Kultur, von Religion zu Religion fragen: Welche Entscheidung ist es, der ich mich da hoffend, d.h. empfangsbereit, aber die Unverfügbarkeit des Erhoff ten wahrend, anvertraue? Diese Frage kann den Blick öffnen für ein biblisches Proprium, das, soweit ich sehe, oft verkannt wird. Die biblische Urgeschichte - also die Kette von Erzählungen über das, was "im Anfang geschah", von Genesis 1 bis Genesis 11, stellt sich als eine Geschichte von Sündenfällen und Formen des göttlichen Gerichts dar. Diese Gesamterzählung findet einen Abschluss, den man gewöhnlich nicht mitzitiert, wenn man heute so gerne vom "Regenbogen" spricht. In der Bibel ist der Regenbogen das Zeichen für die Zusage, dass Gott weiß, dass "des Menschen Sinnen böse ist von Jugend auf `, dass er Anlass hätte, "zu bereuen, den Menschen geschaffen zu haben", und dass dennoch "nicht mehr aufhören wird Sommer und Winter, Kälte und Hitze, Aussaat und Ernte, Tag und Nacht". Die Alternative, die der Welt von Anfang an eingestiftet ist, ist die Alternative von Gericht und Gnade, die Alternative von wohlverdientem Gericht und ganz ungeschuldeter, lebenserhaltender Gnade. Jede Generation wird neu in dieser Geschichte die von ihr erlebte Alternative wiedererkennen und sich dann sagen lassen: Auch du darfst und kannst hoffen; denn diese Alternative ist durch Gottes "Nutum", sein zustimmendes Nicken, von Anfang an zugunsten des göttlichen "Ja" zur Schöpfung entschieden. Hier öffnet sich, so scheint mir, der Blick auf die spezifisch biblische Form der allgemein religiösen Erfahrung.

Das Missverstehen göttlichen Wirkens als menschlicher Verdienst

Der Versuch, die göttliche Freiheit in menschliche Verfügungsgewalt zu bringen, der Versuch also, Hoffnung doch wieder in Erfolgserwartung zu verwandeln (die Meinung also: Ich werde auf die göttliche Macht so einwirken, dass sie in einer von mir wünschbaren Weise entscheidet), ist der Ursprung aller Magie. Das freie Handeln der Gottheit wird dann als Erfolg dieses Versuchs menschlichen Einwirkens missverstanden. Das aber ist eine Perversion der religiösen Hoffnung. In christlicher Sicht heißt das: Alle Werke, zu denen der Mensch berufen ist, - und er ist zu vielerlei Werken berufen - bezeichnen und bezeugen das Heil, das Gott allein wirken kann; aber sie verfehlen ihren Auftrag, wenn sie in der Meinung ausgeführt werden, sie selbst bewirkten das Heil. 

Schreckliche Konsequenzen 

Für diese Perversion gibt es in der Geschichte Europas erschreckende Erfahrungen. Sie werden kaum je in der politischen Geschichte das Wort "Tugend", "vertue", so oft und so pathetisch im Munde politischer Redner finden wie in der Französischen Revolution; und es diente, so verwendet, zur Rechtfertigung des Terrors. Und im quantitativ vergrößerten Maßstab ereignete sich dieser Umschlag vom moralischen Pathos der Befreiung in die "Diktatur mit gutem Gewissen" im Marxismus. Er wollte mit revolutionärer Gewalt alle Herrschaft von Menschen über Menschen abschaffen und richtete zu diesem Zweck die, vermeintlich vorübergehende, Diktatur einer bestimmten Klasse, des Proletariats, auf. Sie endete schließlich mit der Diktatur einer Funktionärsklasse, die den Anspruch erhob, allein die wahren Interessen der Unterdrückten zu vertreten, und die daraus das Recht ableitete, jeden Widerstand durch neue Unterdrückung zu brechen.

Die Hoffnung auf eine kommende Welt

Nicht alle Religionen verweisen auf eine Eschatologie, nämlich die Erwartung oder Hoffnung auf eine "letzte Zeit". Das setzt bestimmte Krisenerfahrungen voraus, wie sie vor allem im östlichen Mittelmeerraum den Beginn der klassischen Antike bedeuteten. Dazu gehört z.B. die Erfahrung, die jener unbekannte Verfasser machte, dessen sogenannter "Papyrus des Lebensmüden im Gespräch mit seiner Seele" immer wieder die Aufmerksamkeit gefunden hat. Er ist am Ende des "Ersten Reichs" um 2000 v. Chr. in Ägypten entstanden, in einer Zeit großer Umwälzungen. Da sagt jemand zu seiner "Seele" oder seinem göttlichen Schutzgeist: Was hilft es, dass das Leben sich fortzeugt von Generation zu Generation, dass die Götter die Luft zum Atmen, den Acker zur Ernährung, den Nil zur Befruchtung dieses Ackers geben? 

Forderung nach dem Mut zum Leben 

Denn mit dem, was wir "Leben" und "Erneuerung des Lebens" nennen, zeugen sich Unrecht und Gewalt, Lüge, trügerischer Schein, Irreführung, Unfreiheit, Sklaverei von Generation zu Generation fort. Es wäre doch besser, das Ganze hörte auf. Die Seele bzw. der Schutzgeist ermahnt jedoch den, der so spricht, weiterhin das Leben zu wagen. Mit dieser Ermahnung wird ihm eine Hoffnung zugesprochen, die nicht mehr durch die Erfahrung der Welt, wie sie ist, gedeckt ist. Sie richtet sich auf das Leben in einer anderen Welt, in die der Mensch erst nach seinem Tode eintreten wird. Vergleichbares ist nicht nur in Ägypten bezeugt, sondern, in jeweils anderer Weise, auch im antiken Persien, in Griechenland und im Judentum. Aus diesen Erfahrungen wurde gefolgert: Nicht nur in der Welt geschieht Schlimmes, sondern die Welt selber liegt im Argen. Darum ist der Untergang "dieser Welt" zu erwarten, ja vielmehr zu erhoffen, damit sie einer "kommenden Welt" Platz machen kann.

Was tun, um an der "kommenden Welt" Anteil zu haben ?

Aus all dem aber stellt sich die Frage: Was muss ich tun, um an der kommenden Welt Anteil zu haben? Damit gekoppelt ist eine zweite Frage, nämlich: "Auf welche Weise beeinflusst diese Hoffnung mein Leben in dieser Welt?". Denn ich kann ja nicht vermeiden, dass ich mit all meiner Hoffnung dennoch ein Teil dieser Welt bin, unter Einschluss all des Argen, das zu dieser Welt gehört. Auf diese Fragen wurden unterschiedliche Antworten gegeben.

Die sittliche Lebensführung als Weg in die kommende Welt – die Ägypter

Die ägyptische Antwort lautete: Die sittliche Lebensführung in dieser Welt ist der Weg, um im Totengericht zu bestehen und so Anteil an einer kommenden Welt zu gewinnen. Der Gedanke an ein Totengericht entsteht in Ägypten in der Zeit um das Ende des "Ersten Reichs". Dies hat zur Folge, dass erstmals Gewissensspiegel abgefasst werden, Listen von Fragen, die der Mensch im Totengericht wird beantworten müssen, darunter auch standesspezifische Fragen: Wonach wird ein Soldat, ein Beamter, ein Lehrer im kommenden Gericht gefragt? Da dem Menschen aber diese Fragen schon in diesem Leben bekannt gemacht werden, wird ihm die Möglichkeit geboten, sich durch sittliche Lebensführung auf das Totengericht und die kommende Gemeinschaft mit Osiris vorzubereiten, der als erster das Totengericht bestanden hat und dann zum obersten der Totenrichter eingesetzt wurde.

Erkenntnis als Wegbereiter zur anderen Welt – die Griechen

In Griechenland, spezieller in den Mysterien von Eleusis, wird eine andere Antwort gegeben: Der Erkenntnisaufstieg ist der Weg zur Teilhabe an einer anderen Welt. Man muss diese vergängliche, verführerische Welt durchschauen und zur Schau (epopsis) der ewigen Wahrheiten aufsteigen; dann gewinnt man an der Ewigkeit dieser Anteil und wird auf diese Weise in die Unsterblichkeit eingeweiht - weshalb sich dann einige Philosophen der platonischen Schule als die legitimen Erben dieser Mysterien fühlen konnten.

Weg durch gestalterisches Schaffen – die Perser

Die Perser aber, die diesbezüglich lange Zeit für das ganze östliche Mittelmeer Vorbild waren, sahen den Weg in die kommende Welt in Aktivitäten, die wir heute "kulturschaffende Tätigkeiten" nennen würden: "Wer einen Sumpf entwässert, eine Steppe berieselt, einen Fruchtgarten pflanzt, eine Straße in unwegsamem Gelände baut, wird im kommenden Gericht nicht nach seinen Sünden befragt", sagt Zarathustra. Inmitten der bestehenden, vergänglichen, dem Gericht verfallenen Welt als Bürger der kommenden zu Welt leben, heißt die bestehende Welt radikal, aber nach rationalen Gesichtspunkten umzugestalten. Die Perser haben ihre Hoffnung auf die kommende Welt durch die rationelle Umgestaltung der Wirtschaft, der Verwaltung, des Siedlungs- und des Verkehrswesens bezeugt und so für das Wirken in der bestehenden Welt fruchtbar gemacht.

Durch "anders sein" zum Ziel – die Juden

Das Volk aber, das zu jener Zeit die Völker durch seine andersgeartete Lebensführung aufschreckte, die Juden nach dem Babylonischen Exil, war der Meinung, dass es sein Auf trag sei, als Fremdling unter den Völkern zu leben und so Zeugnis zu geben für einen Gott, der von allen Göttern dieser Welt verschieden ist und deshalb allein eine neue Welt schaffen kann. Darum gelte es, nicht so zu sein wie die anderen Völker (was bekanntlich der Ursprung allen Antisemitismus ist). Die ungeteilte Gottesliebe "mit der Ganzheit des Herzens, der Person und der Kräfte" ist "das große Gebot im Gesetz". Aber an ihm "hängt" die Vielfalt konkreter Handlungsanweisungen, von denen "kein Jota und Häkchen aufgehoben" werden darf.

Gefahr der Weltflucht und Gewaltsamkeit

Die Hoffnung auf eine kommende Welt bewährt sich dann in der Freude daran, der Gottesliebe konkret-alltägliche Gestalt zu geben, oder kurz: in der Freude am Gesetz. Diese Hoffnung ist einer zweifachen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr der Weltflucht, weil diese Welt böse ist, und der Gefahr der Gewaltsamkeit, die das göttliche Gericht über diese Welt, das man erwartet, jetzt schon vollziehen möchte. Das war die Art der Perserkönige; das war, Jahrhunderte später, die Art der Sozial-Revolutionäre, die "diese Welt" für un-reformierbar hielten und daher zerschlagen wollten, damit sie der "kommenden Welt" Platz mache. Juden wie Christen beten und wirken in dieser Welt "für der Stadt Bestes", obgleich sie wissen, dass sie hier "keine bleibende Stätte haben", und dass der "Exitus aus Ägypten", den sie feiern, den "Transitus in das kommende Jerusalem" vorbereiten soll. In allen genannten Fällen sind es Erfahrungen radikaler Krisen gewesen, aus denen die religiöse Hoffnung verwandelt hervorging. Sie richtete sich nun nicht mehr auf die Erneuerung des Lebens im Wechsel der Generationen innerhalb der bestehenden Welt, sondern darauf, am Leben einer anderen, kommenden Welt Anteil zu gewinnen und in "dieser Welt" als Bürger der kommenden zu leben ("Wir haben hier keine bleibende Bürgergemeinschaft, sondern sind auf der Suche nach der kommenden", Hebr 13,14; vgl. 2 Petr.3,10-13).

Ziel im Buddhismus: Die Befreiung vom "Rad der Wiedergeburten"

Einen Sonderfall stellt in diesem Zusammenhang der Buddhismus dar. Die Erfahrung, dass Leben Leiden bedeutet und dass der Wille zum Leben immer neues Leiden erzeugt, lässt zunächst die Wiedergeburt zu höheren Stufen des Lebens in dieser Welt nicht mehr als wünschbar erscheinen, sondern nur die Befreiung aus dem "Rad der Wiedergeburten". Sodann aber gilt als der einzige Weg, dem Kreislauf von Leben und Leiden zu entgehen, nicht die tätig bezeugte Hoffnung auf ein neues Leben in einer neuen Welt, sondern allein das Leerwerden von allem Willen zur individuellen Fortexistenz, sei es in dieser, sei es in einer kommenden Welt. Dieses Leerwerden geschieht in der Kraft einer Erleuchtung, die den Menschen befähigt, alles vermeintlich Wirkliche in dieser Welt als Schein zu durchschauen. Die Erfahrung dieser Erleuchtung und die darauf vorbereitende Einübung in die Lösung von allem Lebenswillen gilt nun als die einzige Weise, wie inmitten des Lebens die Befreiung vom Leben und damit vom Leiden antizipiert werden kann.

Loslösung von weltlicher Existenz

Der Ausdruck dieser Antizipation ist deshalb nicht die weltgestaltende Tat, mag diese als kulturschaffende Tätigkeit oder als tätige Bezeugung einer verheißenen Zukunft verstanden werden, folglich auch nicht die Gemeinschaft derer, die solche Taten vollbringen, sondern die Versenkung. In ihr versinkt dem Menschen das eigene Selbst und der ganze Schein welthafter Realität. Und wenn unter dieser Voraussetzung noch ein Dienst am Mitmenschen als sinnvoll erscheint (was nicht in allen Formen des Buddhismus gelehrt wird), dann nicht die Hilfe zur Verbesserung seiner Lebensverhältnisse, sondern die Anleitung zum Loslassen aller Lebensbezüge, damit auch der andere fähig wird, die Erleuchtung zu erfahren. Dem Buddhismus ist also der Gedanke an eine "kommende Welt" fremd, weil auch sie immer noch "Welt" und damit Schein wäre. Man kann deshalb zweifeln, ob der Buddhismus zu denjenigen Religionen gehört, die im Sinne des mir gestellten Themas eine "endzeitliche Erwartung" lehren.

Reaktion der Religion auf die Vergänglichkeit weltlicher Existenz 

Für die Religionen aber ist aus dem Gesagten noch einmal eine kriteriologische Folgerung zu ziehen: Wenn die Erwartung einer kommenden Welt umschlägt in die Flucht vor der Verantwortung für die bestehende Welt und in ihr, oder aber in das Pathos derer, die sich als die Richter über diese böse Welt verstehen und wie solche verhalten, dann wird Hoffnung zur Verführung und betrügt sich selbst um ihre Erfüllung. In diesem Kontext, im Kontext der Abwehr dieser doppelten Verführung zu endzeitlich motivierter Weltflucht oder zu einer gewaltsamen Vorwegnahme des Weltgerichts, entsteht die Frage: Wie muss eine religiöse Verkündigung aussehen, wenn endzeitliche Hoffnung nicht in die eine oder die andere dieser ihrer Verführungsmöglichkeiten abstürzen soll? In diesem Zusammenhang gewinnt nun die christliche Kreuzesbotschaft den Rang eines "Kriteriums endzeitlicher Erwartungen", wie das mir gestellte Thema dies ausgedrückt hat.

Die Hoffnung in der christlichen Kreuzesbotschaft

Das Kreuz Jesu wird von den Anhängern Jesu nicht als die Folge zufälliger Torheit und Bosheit einzelner auf gefasst, sondern als das Offenbarwerden der Krisis dieser Welt. Denn diejenigen, die Jesus ans Kreuz geschlagen haben, waren der Überzeugung, das Gute zu tun. Das ist ja das Schlimme, ja Skandalöse an der Kreuzigung Jesu: dass man nicht die Bosheit der Handelnden für diese Tat verantwortlich machen kann. Sie glaubten, Gott einen Dienst zu tun. Und einer von denen, die das auch meinten, Saulus, der spätere Paulus, sagte: "Ich bewirke nicht, was ich will, sondern setze ins Werk, was ich hasse" (Röm 7, l5f). Das Schlimme ist also nicht, dass in der Welt so viel Böses geschieht; das Schlimme ist, dass so viel Böses in guter Absicht geschieht. Wenn immer nur aus bösem Willen Böses geschähe, wenn also, mit einer biblischen Metapher gesprochen, immer nur der böse Baum böse Früchte brächte, wäre die Welt sozusagen moralisch in Ordnung. Das Schlimme ist, dass auf guten Bäumen so viele böse Früchte wachsen. Und das sieht man, so meinen die Christen, besonders deutlich dort, wo die Autoritäten des jüdischen Volkes sich für verpflichtet hielten, diesen "Gotteslästerer" ans Kreuz zu schlagen. Damit bewirkten auch sie, nicht nur Saulus, nicht was sie wollten, sondern was sie hassten. Denn was sie hassten, war das Handeln gegen Gottes Willen. Der individuell gute Wille genügt nicht, um das Böse zu verhindern, sondern wird zu seinem Werkzeug. Aber in der Reflexion über den Kreuzestod Jesu sagen die Christen: Gerade darin ist unser Heil gewirkt worden. 

Beispiel für Hoffnung im Brief an die Philipper

Hoffnung heißt jetzt zuallererst: davon überzeugt sein, dass das Heil da am Werke ist, wo man es am wenigsten sieht, nämlich am Kreuz. Und dann heißt Hoffnung: sich dazu berufen zu wissen, in eine doppelte Gestaltgemeinschaft mit Christus ("symmorphia") einzutreten. Ich lese als Beispiel für die Bezeugung der so verstandenen Hoffnung ein Stück aus dem dritten Kapitel des Briefes an die Philipper vor; es handelt sich um die zweite Strophe jenes Hymnus, dessen erste Strophe im zweiten Kapitel des gleichen Briefes zitiert wird und davon handelt, wie der, "der da war in Gottes Gestalt", um des Menschen willen "sich leer machte und Knechtsgestalt annahm", bis ihm von Gott "ein Name gegeben wurde, der über alle Namen ist". Die zweite Strophe aber lautet: "Erkennen wollen wir ihn und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinem Leiden, gleichgestaltet zu werden seinem Tode, entgegenzueilen der Auferstehung von den Toten. Denn er wird umgestalten den Leib unserer Niedrigkeit, ihn gleich gestalten dem Leib seiner Herrlichkeit, gemäß seinem Wirken, das Kraft hat, sich zu unterwerfen das All" (Phil 3, 10f und 21 ).

Hoffen auf das Heil im Unheil

Entscheidend in unserem Zusammenhang ist: Der Inhalt der christlichen Hoffnung besteht nun nicht mehr darin, vor dem Unheil bewahrt zu bleiben, sondern mitten im Unheil dieser Welt Gemeinschaft mit dem zu gewinnen, an dem das Unheil dieser Welt sozusagen in geballter Form sich ausgewirkt hat: "gleichgestaltet zu werden seinem Tode". Nur darin liegt der Grund der Hoffnung, auch seiner Herrlichkeit gleichgestaltet zu werden und der Auferstehung entgegenzueilen. Hoffen heißt, auf die Gegenwart des Heils im Unheil, auf die Gegenwart der göttlichen Gnade im Gericht zu vertrauen. So wird der Vertrauende zu dem fähig, was Paulus die "Torheit des Kreuzes" nennt, die die "Weisheit Gottes" ist: Er wird fähig zum Narrendienst der Liebe, der in dieser Welt dem Anscheine nach gar nichts bewirkt, der sich mit Christus schwach macht für die anderen, der die Erfolglosigkeit auf sich nimmt, die Christus durchlitten hat um der Liebe willen. Dieser Narrendienst der Liebe, diese Niedrigkeit des Kreuzes wird nun zur Antizipationsgestalt des Lebens in der kommenden Welt.

Überprüfung der christlichen Hoffnung

Die endzeitliche Erwartung der Christen selbst wird im Sinne der christlichen Hoffnung daran gemessen werden müssen, ob sie der Versuchung widersteht, Hoffnung in Erfolgskalkül zu verwandeln, paulinisch gesprochen, also der Versuchung, das Heil von den Werken zu erwarten. Aber auch der Versuchung, diese Welt ihrer Hoffnungslosigkeit zu überlassen, wiederum paulinisch gesprochen, der Versuchung, zu vergessen, dass der Glaube ohne die Werke tot ist - ohne diejenigen Werke nämlich, die inmitten dieser Welt und im Nachvollzug der göttlichen Liebe zu dieser Welt getan sein wollen. Das Heil kommt nicht aus den Werken, aber die Werke bezeugen im Sinne des wirksamen Zeichens Gottes alleiniges Gnadenwirken. Und so wird die nur scheinbar abstrakt-theologische Frage nach dem Verhältnis des Glaubens zu den Werken zum Kriterium, an dem die Hoffnung der Christen sich selbst überprüfen muss.

Hoffnung wird zum Maßstab für Endzeiterwartungen

Die so verstandene christliche Hoffnung wird sekundär auch zum Maßstab der Kritik an allerlei anderen religiösen oder auch säkularisierten Endzeiterwartungen. Säkularisierte Endzeiterwartungen sind in besonderem Maße bedroht vom Umschlag in den Terror: Jetzt, so meint man, kommt das Weltgericht; jetzt kommt die neue Zeit. Und die "Gerechten" sind der Arm dieses Gerichts über "diese Welt" und die Werkzeuge der Aufrichtung der "kommenden Welt". Dann erzeugt der Wille zur Befreiung neue Versklavung, der Wille zur Gerechtigkeit neues Unrecht. Der Versuch, endzeitliche Hoffnung in ein politisches Handlungsprogramm zu übersetzen, erzeugt immer wieder derartige Terrorismen. Die Enttäuschung an einer so verstandenen endzeitlichen Hoffnung aber erzeugt immer wieder die unterschiedlichsten Formen der Weltflucht, in der man die Welt ihrem Unheil überlässt und sich in seiner eigenen Innerlichkeit ein Territorium schafft, das vermeintlich von allem Unheil dieser Welt und von allem Gericht über dieses Unheil unbetroffen bleibt.

Säkulare wie religiöse Endzeiterwartungen werden sich also an folgendem Kriterium messen lassen müssen: Sie werden sich fragen lassen müssen, ob sie die Deformations-Gefahren endzeitlicher Erwartung gleich deutlich erkannt haben wie die Verfasser neutestamentlicher Schriften, und ob sie zur Überwindung dieser Gefahren gleich eindeutige Weg-Weisungen gegeben haben wie jene Weisung, die uns auf die Gestaltgemeinschaft mit dem leidenden und sterbenden Christus verwiesen hat, weil wir nur so Anteil an der kommenden Welt gewinnen können.

 

Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn

 

>> Die Hoffnung als Inhalt der religiösen Verkündigung

>> Beigeisterung für das Schöne

>> Wirklichkeit übersteigt den rein persönlichen Zugriffsrahmen

>> Die Eigenart des Heiligen in allen Inhalten unserer Erfahrung

>> "Numen" und "numinos"

>> Spuren einer freien Entscheidung "im Anfang"

>> Das göttliche "Ja" zur Schöpfung

>> Das Missverstehen göttlichen Wirkens als menschlicher Verdienst

>> Schreckliche Konsequenzen

>> Die Hoffnung auf eine kommende Welt

>> Forderung nach dem Mut zum Leben 

>> Was tun, um an der "kommenden Welt" Anteil zu haben 

>> Die sittliche Lebensführung als Weg in die kommende Welt – die Ägypter

>> Erkenntnis als Wegbereiter zur anderen Welt – die Griechen

>> Weg durch gestalterisches Schaffen – die Perser

>> Durch "anders sein" zum Ziel – die Juden

>> Gefahr der Weltflucht und Gewaltsamkeit

>> Ziel im Buddhismus: Die Befreiung vom "Rad der Wiedergeburten"

>> Loslösung von weltlicher Existenz

>> Reaktion der Religion auf die Vergänglichkeit weltlicher Existenz 

>> Die Hoffnung in der christlichen Kreuzesbotschaft

>> Beispiel für Hoffnung im Brief an die Philipper

>> Hoffen auf das Heil im Unheil

>> Überprüfung der christlichen Hoffnung

>> Hoffnung wird zum Maßstab für Endzeiterwartungen