Die christliche Hoffnung als Kriterium endzeitlicher Erwartungen
Von Richard Schaeffler (Biografie)
Die Erwartung des Weltendes hat nicht nur für Christen und Juden,
sondern auch für die Anhänger anderer Religionen zentrale Bedeutung. Diese
legt die Frage nahe ob man ihm mit bloßer Angst entgegentritt oder es als
Schritt in die kommende Erlösung betrachtet. Die endzeitliche Hoffnung
richtet sich darauf, dass "diese" Welt "einem neuen Himmel
und "einem Reich der Gerechtigkeit und Liebe" Platz machen wird.
Wie ist es nun möglich, schon in dieser Welt als Bürger und Platzhalter
der kommenden zu leben und der Heraufkunft dieser zu dienen? Worin kann
christliche Hoffnung als das Kriterium endzeitlicher Erwartungen bestehen?
Die beiden Begriffe "Erwartung" und "Hoffnung" sollte
man zwar in ihrem Zusammenhang sehen, sie aber nicht gleichsetzen. Erwartung
ist eine Voraussetzung menschlichen Lebens, jeglicher menschlichen Handlung.
Handeln kann nur, wer im Wirklichen, das ihm begegnet, den Reichtum von
Möglichkeiten entdeckt. Erwarten, aber auch Loslassen können,
Enttäuschungen hinnehmen können sind für uns Menschen die Voraussetzungen
dafür, dass wir uns mit unerwarteten, nicht planbaren Ergebnissen
beschenken lassen. Erwartung, die unser Handeln leitet, schlägt angesichts
solcher Erfahrungen um in Hoffnung. Sie ersetzt freilich nicht die
Anstrengung selbst, ist aber bereit, sich dem anzuvertrauen, was wir durch
unsere Leistung nicht erzwingen können. Gewiss bleibt das, was aus unserem
Tun objektiv hervorgeht, oft schmerzlich zurück gegenüber dem, was wir
subjektiv an Mühe auf gewendet haben. Zuweilen aber geschieht es, dass uns
das objektiv "Gelungene", ja "Geglückte" weit über
alles Erzwingbare und Planbare hinaus beschenkt und beglückt. Und das ist
es, worauf wir nicht mehr eine Erwartung, sondern eine Hoffnung richten.
Eine bloße Erfolgs-Erwartung, gar ein bloßes Erfolgs-Kalkül, betrügt
sich ums eigene Ziel. Wer nicht hoffen kann, dass er mit all seiner
Anstrengung etwas auf den Weg bringt, was dann selber weiterläuft,
weiterwirkt und vor allem in sich steht und dem Wirkenden aus solchem
Eigenstand heraus gegenübertreten und ihn überraschen kann, der betrügt
sich um seine Erwartungen.
Die Hoffnung als Inhalt der religiösen Verkündigung
Bisher war vom profanen Erwarten und Hoffen die Rede, nun ist Hoffnung
aber auch ein Inhalt der religiösen Verkündigung. Dass die religiöse
Erfahrung hoffnungsträchtig ist, ja dass ihr Hoffnungsgehalt sie erst zur
religiösen Erfahrung werden lässt, ist kein "specificum christianum",
sondern gehört zum "generale religiosum". Erfahrungen in den
unterschiedlichsten religiösen Kontexten führen uns immer wieder an
Grenzen, wo alle Leistungs-Erwartung endet, oder wo Gelingendes nicht mehr
als Resultat unserer Anstrengung gilt, sondern als Gabe. Dass es überhaupt
etwas gibt, das "für mich" ist, dass es Luft gibt, die ich atmen
kann, dass es Nahrungsmittel gibt, die "draußen" wachsen, aber
"in mir" zur Quelle des Lebens werden, ist Gabe, die ich nicht
erzwingen kann.
Beigeisterung für das Schöne
Ebenso erstaunlich ist, dass es Schönes gibt, das mich begeistert. Diese
Begeisterung ist etwas, das alleine ich vollziehen kann und das in mir
dennoch nur durch das Schöne, das mir "draußen" begegnet,
hervorgerufen wird. Genauso erstaunlich ist, dass es so etwas wie
"geistige Nahrung" gibt, also Wahrheiten, an denen mein Geist
wächst: Er kann nur wachsen, indem ich selber denke. Aber ich kann nur
selber denken, indem mir etwas begegnet, das mir "zu denken gibt".
Das ist unerzwingbare Gabe. Ich muss sie ergreifen und mir aneignen, aber
ich kann sie nicht von mir aus produzieren.
Wirklichkeit übersteigt den rein persönlichen Zugriffsrahmen
Die andere Seite ist, dass das Wirkliche immer zugleich mehr ist, als es
"für mich" ist. Die Art, wie etwas "für mich" wird,
zum Objekt meiner Erkenntnis, zum Objekt meiner Praxis, zum Objekt meiner
ästhetischen Erfahrung, schließt immer das Moment ein, das wir -
umgangssprachlich, aber treffend - so ausdrücken: "Da steckt mehr
drin, als ich mir aneignen kann; es ist unerschöpflich". Die Dinge
sind "für mich" so gegeben, dass ich gleichzeitig bemerke, dass
sie mehr sind, als sie "für mich" sind; sie widerstehen meinem
Zugriff, und zwar nicht wie ein ungelöstes Rätsel, das mich zu neuer
Anstrengung auf fordert und dann zuletzt die Vergeblichkeit dieser
Anstrengung offenkundig macht, sondern wie ein Geheimnis, das mich gerade
wegen seiner Unerschöpflichkeit beglückt.
Die Eigenart des Heiligen in allen Inhalten unserer Erfahrung
Dieses Moment der Unverfügbarkeit, kraft derer das Wirkliche mir gegeben
werden muss, um zur Quelle meines eigenen Lebens zu werden, und das sich
zugleich meinem Zugriff entzieht, steckt in allem, was ist. In alledem
scheint eine Freiheit am Werke zu sein, eine Freiheit der Zuwendung und
zugleich des Entzugs, deren Zustimmung zu mir ich nicht erzwingen, sondern
nur erhoffen kann. Daher kommt es, dass für die Eigenart des Heiligen, das
sich in allen Inhalten unserer Erfahrung zeigt und zugleich verbirgt, im
Lateinischen und dann in einem geläufig gewordenen Fremdwort im Deutschen
der Ausdruck "Numen" und "numinos" verwendet wurde und
wird.
"Numen" und "numinos"
Dieser Ausdruck bedeutet zunächst ein "Nicken", "nuere",
und meint sodann die mühelose und zugleich unerzwingbare Zustimmung, also
die Äußerung einer Willensmacht, von der mein Heil abhängt und der ich
mich anvertraue, ohne über sie zu verfügen. Dass dieser Ausdruck
gewöhnlich im grammatischen "Genus Neutrum" gebraucht wird,
"das Numen" als die Erfahrungsgestalt für "das
Heilige", liegt daran, dass alles, was überhaupt ist, als
Manifestation dieser mir zustimmenden aber von mir nicht herbeizuzwingenden
Willensmacht erfahren werden kann. "Das Heilige" ist nicht so sehr
ein Inhalt neben allen anderen Inhalten, sondern vielmehr eine Qualität,
eine Weise, wie alles, was ist und geschieht, mir begegnen kann.
Spuren einer freien Entscheidung "im Anfang"
Religiöses Wirklichkeitsverständnis auf dieser Ebene, die nahezu
allgemein ist und in den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen
angetroffen werden kann, veranlasst häufig folgende Deutung: Alles
Wirkliche trägt in sich die Spur und das Erinnerungszeichen einer freien
Entscheidung, die "im Anfang" geschah und der Welt von diesem
Anfang an sozusagen eingestiftet ist. Die offene Alternative des Anfangs,
als alles noch ganz anders hätte ausfallen können, bleibt ein Grundzug des
Wirklichen: die offene Alternative von Zuwendung und Entzug. Ebenso aber
bleibt allem Wirklichen eingestiftet jener Akt der göttlichen Freiheit, der
diese Alternative zu einem "Ja" und nicht einem "Nein"
entschieden hat. Aber auch dieses Ja anstelle eines möglichen Nein ist
nicht nur im Anfang Ausdruck einer göttlichen Freiheit gewesen, sondern
bleibt es in jedem Zeitpunkt des Weltlaufs. Dass sich immer neu
lebensstiftende Zuwendung des Heiligen ereignen wird, und dass alles, was
mir begegnet, zum Ausdruck dieser lebensstiftenden Zuwendung wird, geschieht
ungenötigt, als Ausdruck einer Freiheit, deren Entscheidung ich nicht
herbeizwingen, der ich mich nur hoffend anvertrauen kann.
Das göttliche "Ja" zur Schöpfung
Nun kann man von Kultur zu Kultur, von Religion zu Religion fragen:
Welche Entscheidung ist es, der ich mich da hoffend, d.h. empfangsbereit,
aber die Unverfügbarkeit des Erhoff ten wahrend, anvertraue? Diese Frage
kann den Blick öffnen für ein biblisches Proprium, das, soweit ich sehe,
oft verkannt wird. Die biblische Urgeschichte - also die Kette von
Erzählungen über das, was "im Anfang geschah", von Genesis 1 bis
Genesis 11, stellt sich als eine Geschichte von Sündenfällen und Formen
des göttlichen Gerichts dar. Diese Gesamterzählung findet einen Abschluss,
den man gewöhnlich nicht mitzitiert, wenn man heute so gerne vom
"Regenbogen" spricht. In der Bibel ist der Regenbogen das Zeichen
für die Zusage, dass Gott weiß, dass "des Menschen Sinnen böse ist
von Jugend auf `, dass er Anlass hätte, "zu bereuen, den Menschen
geschaffen zu haben", und dass dennoch "nicht mehr aufhören wird
Sommer und Winter, Kälte und Hitze, Aussaat und Ernte, Tag und Nacht".
Die Alternative, die der Welt von Anfang an eingestiftet ist, ist die
Alternative von Gericht und Gnade, die Alternative von wohlverdientem
Gericht und ganz ungeschuldeter, lebenserhaltender Gnade. Jede Generation
wird neu in dieser Geschichte die von ihr erlebte Alternative wiedererkennen
und sich dann sagen lassen: Auch du darfst und kannst hoffen; denn diese
Alternative ist durch Gottes "Nutum", sein zustimmendes Nicken,
von Anfang an zugunsten des göttlichen "Ja" zur Schöpfung
entschieden. Hier öffnet sich, so scheint mir, der Blick auf die spezifisch
biblische Form der allgemein religiösen Erfahrung.
Das Missverstehen göttlichen Wirkens als menschlicher Verdienst
Der Versuch, die göttliche Freiheit in menschliche Verfügungsgewalt zu
bringen, der Versuch also, Hoffnung doch wieder in Erfolgserwartung zu
verwandeln (die Meinung also: Ich werde auf die göttliche Macht so
einwirken, dass sie in einer von mir wünschbaren Weise entscheidet), ist
der Ursprung aller Magie. Das freie Handeln der Gottheit wird dann als
Erfolg dieses Versuchs menschlichen Einwirkens missverstanden. Das aber ist
eine Perversion der religiösen Hoffnung. In christlicher Sicht heißt das:
Alle Werke, zu denen der Mensch berufen ist, - und er ist zu vielerlei
Werken berufen - bezeichnen und bezeugen das Heil, das Gott allein wirken
kann; aber sie verfehlen ihren Auftrag, wenn sie in der Meinung ausgeführt
werden, sie selbst bewirkten das Heil.
Schreckliche Konsequenzen
Für diese Perversion gibt es in der Geschichte Europas erschreckende
Erfahrungen. Sie werden kaum je in der politischen Geschichte das Wort
"Tugend", "vertue", so oft und so pathetisch im Munde
politischer Redner finden wie in der Französischen Revolution; und es
diente, so verwendet, zur Rechtfertigung des Terrors. Und im quantitativ
vergrößerten Maßstab ereignete sich dieser Umschlag vom moralischen
Pathos der Befreiung in die "Diktatur mit gutem Gewissen" im
Marxismus. Er wollte mit revolutionärer Gewalt alle Herrschaft von Menschen
über Menschen abschaffen und richtete zu diesem Zweck die, vermeintlich
vorübergehende, Diktatur einer bestimmten Klasse, des Proletariats, auf.
Sie endete schließlich mit der Diktatur einer Funktionärsklasse, die den
Anspruch erhob, allein die wahren Interessen der Unterdrückten zu
vertreten, und die daraus das Recht ableitete, jeden Widerstand durch neue
Unterdrückung zu brechen.
Die Hoffnung auf eine kommende Welt
Nicht alle Religionen verweisen auf eine Eschatologie, nämlich die
Erwartung oder Hoffnung auf eine "letzte Zeit". Das setzt
bestimmte Krisenerfahrungen voraus, wie sie vor allem im östlichen
Mittelmeerraum den Beginn der klassischen Antike bedeuteten. Dazu gehört
z.B. die Erfahrung, die jener unbekannte Verfasser machte, dessen
sogenannter "Papyrus des Lebensmüden im Gespräch mit seiner
Seele" immer wieder die Aufmerksamkeit gefunden hat. Er ist am Ende des
"Ersten Reichs" um 2000 v. Chr. in Ägypten entstanden, in einer
Zeit großer Umwälzungen. Da sagt jemand zu seiner "Seele" oder
seinem göttlichen Schutzgeist: Was hilft es, dass das Leben sich fortzeugt
von Generation zu Generation, dass die Götter die Luft zum Atmen, den Acker
zur Ernährung, den Nil zur Befruchtung dieses Ackers geben?
Forderung nach dem Mut zum Leben
Denn mit dem, was wir "Leben" und "Erneuerung des
Lebens" nennen, zeugen sich Unrecht und Gewalt, Lüge, trügerischer
Schein, Irreführung, Unfreiheit, Sklaverei von Generation zu Generation
fort. Es wäre doch besser, das Ganze hörte auf. Die Seele bzw. der
Schutzgeist ermahnt jedoch den, der so spricht, weiterhin das Leben zu
wagen. Mit dieser Ermahnung wird ihm eine Hoffnung zugesprochen, die nicht
mehr durch die Erfahrung der Welt, wie sie ist, gedeckt ist. Sie richtet
sich auf das Leben in einer anderen Welt, in die der Mensch erst nach seinem
Tode eintreten wird. Vergleichbares ist nicht nur in Ägypten bezeugt,
sondern, in jeweils anderer Weise, auch im antiken Persien, in Griechenland
und im Judentum. Aus diesen Erfahrungen wurde gefolgert: Nicht nur in der
Welt geschieht Schlimmes, sondern die Welt selber liegt im Argen. Darum ist
der Untergang "dieser Welt" zu erwarten, ja vielmehr zu erhoffen,
damit sie einer "kommenden Welt" Platz machen kann.
Was tun, um an der "kommenden Welt" Anteil zu haben ?
Aus all dem aber stellt sich die Frage: Was muss ich tun, um an der
kommenden Welt Anteil zu haben? Damit gekoppelt ist eine zweite Frage,
nämlich: "Auf welche Weise beeinflusst diese Hoffnung mein Leben in
dieser Welt?". Denn ich kann ja nicht vermeiden, dass ich mit all
meiner Hoffnung dennoch ein Teil dieser Welt bin, unter Einschluss all des
Argen, das zu dieser Welt gehört. Auf diese Fragen wurden unterschiedliche
Antworten gegeben.
Die sittliche Lebensführung als Weg in die kommende Welt – die
Ägypter
Die ägyptische Antwort lautete: Die sittliche Lebensführung in dieser
Welt ist der Weg, um im Totengericht zu bestehen und so Anteil an einer
kommenden Welt zu gewinnen. Der Gedanke an ein Totengericht entsteht in
Ägypten in der Zeit um das Ende des "Ersten Reichs". Dies hat zur
Folge, dass erstmals Gewissensspiegel abgefasst werden, Listen von Fragen,
die der Mensch im Totengericht wird beantworten müssen, darunter auch
standesspezifische Fragen: Wonach wird ein Soldat, ein Beamter, ein Lehrer
im kommenden Gericht gefragt? Da dem Menschen aber diese Fragen schon in
diesem Leben bekannt gemacht werden, wird ihm die Möglichkeit geboten, sich
durch sittliche Lebensführung auf das Totengericht und die kommende
Gemeinschaft mit Osiris vorzubereiten, der als erster das Totengericht
bestanden hat und dann zum obersten der Totenrichter eingesetzt wurde.
Erkenntnis als Wegbereiter zur anderen Welt – die Griechen
In Griechenland, spezieller in den Mysterien von Eleusis, wird eine
andere Antwort gegeben: Der Erkenntnisaufstieg ist der Weg zur Teilhabe an
einer anderen Welt. Man muss diese vergängliche, verführerische Welt
durchschauen und zur Schau (epopsis) der ewigen Wahrheiten aufsteigen; dann
gewinnt man an der Ewigkeit dieser Anteil und wird auf diese Weise in die
Unsterblichkeit eingeweiht - weshalb sich dann einige Philosophen der
platonischen Schule als die legitimen Erben dieser Mysterien fühlen
konnten.
Weg durch gestalterisches Schaffen – die Perser
Die Perser aber, die diesbezüglich lange Zeit für das ganze östliche
Mittelmeer Vorbild waren, sahen den Weg in die kommende Welt in
Aktivitäten, die wir heute "kulturschaffende Tätigkeiten" nennen
würden: "Wer einen Sumpf entwässert, eine Steppe berieselt, einen
Fruchtgarten pflanzt, eine Straße in unwegsamem Gelände baut, wird im
kommenden Gericht nicht nach seinen Sünden befragt", sagt Zarathustra.
Inmitten der bestehenden, vergänglichen, dem Gericht verfallenen Welt als
Bürger der kommenden zu Welt leben, heißt die bestehende Welt radikal,
aber nach rationalen Gesichtspunkten umzugestalten. Die Perser haben ihre
Hoffnung auf die kommende Welt durch die rationelle Umgestaltung der
Wirtschaft, der Verwaltung, des Siedlungs- und des Verkehrswesens bezeugt
und so für das Wirken in der bestehenden Welt fruchtbar gemacht.
Durch "anders sein" zum Ziel – die Juden
Das Volk aber, das zu jener Zeit die Völker durch seine andersgeartete
Lebensführung aufschreckte, die Juden nach dem Babylonischen Exil, war der
Meinung, dass es sein Auf trag sei, als Fremdling unter den Völkern zu
leben und so Zeugnis zu geben für einen Gott, der von allen Göttern dieser
Welt verschieden ist und deshalb allein eine neue Welt schaffen kann. Darum
gelte es, nicht so zu sein wie die anderen Völker (was bekanntlich der
Ursprung allen Antisemitismus ist). Die ungeteilte Gottesliebe "mit der
Ganzheit des Herzens, der Person und der Kräfte" ist "das große
Gebot im Gesetz". Aber an ihm "hängt" die Vielfalt konkreter
Handlungsanweisungen, von denen "kein Jota und Häkchen
aufgehoben" werden darf.
Gefahr der Weltflucht und Gewaltsamkeit
Die Hoffnung auf eine kommende Welt bewährt sich dann in der Freude
daran, der Gottesliebe konkret-alltägliche Gestalt zu geben, oder kurz: in
der Freude am Gesetz. Diese Hoffnung ist einer zweifachen Gefahr ausgesetzt:
der Gefahr der Weltflucht, weil diese Welt böse ist, und der Gefahr der
Gewaltsamkeit, die das göttliche Gericht über diese Welt, das man
erwartet, jetzt schon vollziehen möchte. Das war die Art der Perserkönige;
das war, Jahrhunderte später, die Art der Sozial-Revolutionäre, die
"diese Welt" für un-reformierbar hielten und daher zerschlagen
wollten, damit sie der "kommenden Welt" Platz mache. Juden wie
Christen beten und wirken in dieser Welt "für der Stadt Bestes",
obgleich sie wissen, dass sie hier "keine bleibende Stätte
haben", und dass der "Exitus aus Ägypten", den sie feiern,
den "Transitus in das kommende Jerusalem" vorbereiten soll. In
allen genannten Fällen sind es Erfahrungen radikaler Krisen gewesen, aus
denen die religiöse Hoffnung verwandelt hervorging. Sie richtete sich nun
nicht mehr auf die Erneuerung des Lebens im Wechsel der Generationen
innerhalb der bestehenden Welt, sondern darauf, am Leben einer anderen,
kommenden Welt Anteil zu gewinnen und in "dieser Welt" als Bürger
der kommenden zu leben ("Wir haben hier keine bleibende
Bürgergemeinschaft, sondern sind auf der Suche nach der kommenden",
Hebr 13,14; vgl. 2 Petr.3,10-13).
Ziel im Buddhismus: Die Befreiung vom "Rad der Wiedergeburten"
Einen Sonderfall stellt in diesem Zusammenhang der Buddhismus dar. Die
Erfahrung, dass Leben Leiden bedeutet und dass der Wille zum Leben immer
neues Leiden erzeugt, lässt zunächst die Wiedergeburt zu höheren Stufen
des Lebens in dieser Welt nicht mehr als wünschbar erscheinen, sondern nur
die Befreiung aus dem "Rad der Wiedergeburten". Sodann aber gilt
als der einzige Weg, dem Kreislauf von Leben und Leiden zu entgehen, nicht
die tätig bezeugte Hoffnung auf ein neues Leben in einer neuen Welt,
sondern allein das Leerwerden von allem Willen zur individuellen
Fortexistenz, sei es in dieser, sei es in einer kommenden Welt. Dieses
Leerwerden geschieht in der Kraft einer Erleuchtung, die den Menschen
befähigt, alles vermeintlich Wirkliche in dieser Welt als Schein zu
durchschauen. Die Erfahrung dieser Erleuchtung und die darauf vorbereitende
Einübung in die Lösung von allem Lebenswillen gilt nun als die einzige
Weise, wie inmitten des Lebens die Befreiung vom Leben und damit vom Leiden
antizipiert werden kann.
Loslösung von weltlicher Existenz
Der Ausdruck dieser Antizipation ist deshalb nicht die weltgestaltende
Tat, mag diese als kulturschaffende Tätigkeit oder als tätige Bezeugung
einer verheißenen Zukunft verstanden werden, folglich auch nicht die
Gemeinschaft derer, die solche Taten vollbringen, sondern die Versenkung. In
ihr versinkt dem Menschen das eigene Selbst und der ganze Schein welthafter
Realität. Und wenn unter dieser Voraussetzung noch ein Dienst am
Mitmenschen als sinnvoll erscheint (was nicht in allen Formen des Buddhismus
gelehrt wird), dann nicht die Hilfe zur Verbesserung seiner
Lebensverhältnisse, sondern die Anleitung zum Loslassen aller
Lebensbezüge, damit auch der andere fähig wird, die Erleuchtung zu
erfahren. Dem Buddhismus ist also der Gedanke an eine "kommende
Welt" fremd, weil auch sie immer noch "Welt" und damit Schein
wäre. Man kann deshalb zweifeln, ob der Buddhismus zu denjenigen Religionen
gehört, die im Sinne des mir gestellten Themas eine "endzeitliche
Erwartung" lehren.
Reaktion der Religion auf die Vergänglichkeit weltlicher Existenz
Für die Religionen aber ist aus dem Gesagten noch einmal eine
kriteriologische Folgerung zu ziehen: Wenn die Erwartung einer kommenden
Welt umschlägt in die Flucht vor der Verantwortung für die bestehende Welt
und in ihr, oder aber in das Pathos derer, die sich als die Richter über
diese böse Welt verstehen und wie solche verhalten, dann wird Hoffnung zur
Verführung und betrügt sich selbst um ihre Erfüllung. In diesem Kontext,
im Kontext der Abwehr dieser doppelten Verführung zu endzeitlich
motivierter Weltflucht oder zu einer gewaltsamen Vorwegnahme des
Weltgerichts, entsteht die Frage: Wie muss eine religiöse Verkündigung
aussehen, wenn endzeitliche Hoffnung nicht in die eine oder die andere
dieser ihrer Verführungsmöglichkeiten abstürzen soll? In diesem
Zusammenhang gewinnt nun die christliche Kreuzesbotschaft den Rang eines
"Kriteriums endzeitlicher Erwartungen", wie das mir gestellte
Thema dies ausgedrückt hat.
Die Hoffnung in der christlichen Kreuzesbotschaft
Das Kreuz Jesu wird von den Anhängern Jesu nicht als die Folge
zufälliger Torheit und Bosheit einzelner auf gefasst, sondern als das
Offenbarwerden der Krisis dieser Welt. Denn diejenigen, die Jesus ans Kreuz
geschlagen haben, waren der Überzeugung, das Gute zu tun. Das ist ja das
Schlimme, ja Skandalöse an der Kreuzigung Jesu: dass man nicht die Bosheit
der Handelnden für diese Tat verantwortlich machen kann. Sie glaubten, Gott
einen Dienst zu tun. Und einer von denen, die das auch meinten, Saulus, der
spätere Paulus, sagte: "Ich bewirke nicht, was ich will, sondern setze
ins Werk, was ich hasse" (Röm 7, l5f). Das Schlimme ist also nicht,
dass in der Welt so viel Böses geschieht; das Schlimme ist, dass so viel
Böses in guter Absicht geschieht. Wenn immer nur aus bösem Willen Böses
geschähe, wenn also, mit einer biblischen Metapher gesprochen, immer nur
der böse Baum böse Früchte brächte, wäre die Welt sozusagen moralisch
in Ordnung. Das Schlimme ist, dass auf guten Bäumen so viele böse Früchte
wachsen. Und das sieht man, so meinen die Christen, besonders deutlich dort,
wo die Autoritäten des jüdischen Volkes sich für verpflichtet hielten,
diesen "Gotteslästerer" ans Kreuz zu schlagen. Damit bewirkten
auch sie, nicht nur Saulus, nicht was sie wollten, sondern was sie hassten.
Denn was sie hassten, war das Handeln gegen Gottes Willen. Der individuell
gute Wille genügt nicht, um das Böse zu verhindern, sondern wird zu seinem
Werkzeug. Aber in der Reflexion über den Kreuzestod Jesu sagen die
Christen: Gerade darin ist unser Heil gewirkt worden.
Beispiel für Hoffnung im Brief an die Philipper
Hoffnung heißt jetzt zuallererst: davon überzeugt sein, dass das Heil
da am Werke ist, wo man es am wenigsten sieht, nämlich am Kreuz. Und dann
heißt Hoffnung: sich dazu berufen zu wissen, in eine doppelte
Gestaltgemeinschaft mit Christus ("symmorphia") einzutreten. Ich
lese als Beispiel für die Bezeugung der so verstandenen Hoffnung ein Stück
aus dem dritten Kapitel des Briefes an die Philipper vor; es handelt sich um
die zweite Strophe jenes Hymnus, dessen erste Strophe im zweiten Kapitel des
gleichen Briefes zitiert wird und davon handelt, wie der, "der da war
in Gottes Gestalt", um des Menschen willen "sich leer machte und
Knechtsgestalt annahm", bis ihm von Gott "ein Name gegeben wurde,
der über alle Namen ist". Die zweite Strophe aber lautet:
"Erkennen wollen wir ihn und die Kraft seiner Auferstehung und die
Gemeinschaft mit seinem Leiden, gleichgestaltet zu werden seinem Tode,
entgegenzueilen der Auferstehung von den Toten. Denn er wird umgestalten den
Leib unserer Niedrigkeit, ihn gleich gestalten dem Leib seiner Herrlichkeit,
gemäß seinem Wirken, das Kraft hat, sich zu unterwerfen das All"
(Phil 3, 10f und 21 ).
Hoffen auf das Heil im Unheil
Entscheidend in unserem Zusammenhang ist: Der Inhalt der christlichen
Hoffnung besteht nun nicht mehr darin, vor dem Unheil bewahrt zu bleiben,
sondern mitten im Unheil dieser Welt Gemeinschaft mit dem zu gewinnen, an
dem das Unheil dieser Welt sozusagen in geballter Form sich ausgewirkt hat:
"gleichgestaltet zu werden seinem Tode". Nur darin liegt der Grund
der Hoffnung, auch seiner Herrlichkeit gleichgestaltet zu werden und der
Auferstehung entgegenzueilen. Hoffen heißt, auf die Gegenwart des Heils im
Unheil, auf die Gegenwart der göttlichen Gnade im Gericht zu vertrauen. So
wird der Vertrauende zu dem fähig, was Paulus die "Torheit des
Kreuzes" nennt, die die "Weisheit Gottes" ist: Er wird fähig
zum Narrendienst der Liebe, der in dieser Welt dem Anscheine nach gar nichts
bewirkt, der sich mit Christus schwach macht für die anderen, der die
Erfolglosigkeit auf sich nimmt, die Christus durchlitten hat um der Liebe
willen. Dieser Narrendienst der Liebe, diese Niedrigkeit des Kreuzes wird
nun zur Antizipationsgestalt des Lebens in der kommenden Welt.
Überprüfung der christlichen Hoffnung
Die endzeitliche Erwartung der Christen selbst wird im Sinne der
christlichen Hoffnung daran gemessen werden müssen, ob sie der Versuchung
widersteht, Hoffnung in Erfolgskalkül zu verwandeln, paulinisch gesprochen,
also der Versuchung, das Heil von den Werken zu erwarten. Aber auch der
Versuchung, diese Welt ihrer Hoffnungslosigkeit zu überlassen, wiederum
paulinisch gesprochen, der Versuchung, zu vergessen, dass der Glaube ohne
die Werke tot ist - ohne diejenigen Werke nämlich, die inmitten dieser Welt
und im Nachvollzug der göttlichen Liebe zu dieser Welt getan sein wollen.
Das Heil kommt nicht aus den Werken, aber die Werke bezeugen im Sinne des
wirksamen Zeichens Gottes alleiniges Gnadenwirken. Und so wird die nur
scheinbar abstrakt-theologische Frage nach dem Verhältnis des Glaubens zu
den Werken zum Kriterium, an dem die Hoffnung der Christen sich selbst
überprüfen muss.
Hoffnung wird zum Maßstab für Endzeiterwartungen
Die so verstandene christliche Hoffnung wird sekundär auch zum Maßstab
der Kritik an allerlei anderen religiösen oder auch säkularisierten
Endzeiterwartungen. Säkularisierte Endzeiterwartungen sind in besonderem
Maße bedroht vom Umschlag in den Terror: Jetzt, so meint man, kommt das
Weltgericht; jetzt kommt die neue Zeit. Und die "Gerechten" sind
der Arm dieses Gerichts über "diese Welt" und die Werkzeuge der
Aufrichtung der "kommenden Welt". Dann erzeugt der Wille zur
Befreiung neue Versklavung, der Wille zur Gerechtigkeit neues Unrecht. Der
Versuch, endzeitliche Hoffnung in ein politisches Handlungsprogramm zu
übersetzen, erzeugt immer wieder derartige Terrorismen. Die Enttäuschung
an einer so verstandenen endzeitlichen Hoffnung aber erzeugt immer wieder
die unterschiedlichsten Formen der Weltflucht, in der man die Welt ihrem
Unheil überlässt und sich in seiner eigenen Innerlichkeit ein Territorium
schafft, das vermeintlich von allem Unheil dieser Welt und von allem Gericht
über dieses Unheil unbetroffen bleibt.
Säkulare wie religiöse Endzeiterwartungen werden sich also an folgendem
Kriterium messen lassen müssen: Sie werden sich fragen lassen müssen, ob
sie die Deformations-Gefahren endzeitlicher Erwartung gleich deutlich
erkannt haben wie die Verfasser neutestamentlicher Schriften, und ob sie zur
Überwindung dieser Gefahren gleich eindeutige Weg-Weisungen gegeben haben
wie jene Weisung, die uns auf die Gestaltgemeinschaft mit dem leidenden und
sterbenden Christus verwiesen hat, weil wir nur so Anteil an der kommenden
Welt gewinnen können.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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