Fachartikel

Elemente monotheistischer Gotteserfahrung

Von Jörg Splett (Biografie)

 

Den Ort der Gottesfrage sieht man in der Moderne vielfach im Feld kosmologischer Theorien. Biblisch erscheint die Schöpfung im Horizont von "Bund", d.h. als Berufung in ein personales Verhältnis. Damit sind Welt und Natur nicht ausgeschlossen. Sie bilden jedoch nicht den überzeitlichen Rahmen von Menschengeschichten, sondern werden einbezogen in die Freiheits-Geschichte zwischen dem rufenden Gott und dem aus dem Nichts gerufenen "Hörer des Wortes". In diesem Beitrag werden Spezifika der christlichen Glaubenssicht artikuliert, um sie für die Begegnung mit asiatischen Konzepten fruchtbar zu machen.

Es gibt ein Verständnis des Redens von Gott, welches dies und Religion überhaupt unter den Weltanschauungen einreiht: als eine Welterklärung unter anderen. Danach ist es dem Menschen vor allem um kosmische Theorien zu tun, um Hypothesen-Systeme. Die gab es mythisch, so in den Vorstellungen von kosmogonischem Eros; es gibt sie in den großen Natur-Religionen. Westlich-neuzeitlich bietet die Wissenschaft sie, vor allem die Physik; heute wollen Biologen diesen "Paradigma"-platz besetzen. Entscheidend hierbei ist der Wille zu "objektiver" Erkenntnis: alles so zu sehen, wie es "an sich" ist; ohne jedes Hinein-Spiegeln dessen, "für den" es da ist. - Das schien in der neuzeitlichen Wissenschaft gelungen: bei ihren Messungen war es gleich(gültig), wer sie vornahm. - Bis der mikrophysikalische Schock offenbarte, dass das Subjekt im Spiel bleibt. Objektivität = Gegenständlichkeit gibt es unweigerlich nur für das/den, dem dies entgegensteht (oder [,obicio`] -geworfen ist).

Konstruktivismus: Alles ist subjektiv konstruiert

Die Reaktion auf diesen Schock ist der Konstruktivismus, wonach "alles nur subjektiv", von uns konstruiert sei. Der Mensch und jeder einzelne in sich gefangen, ohne Ausweg. Jede "Erkenntnis", bei ihm selbst begonnen bis zu Weltentwürfen und Gottesvorstellungen, zeige einzig die ihm eigene Perspektive. Allgemeingültige Wahrheit(s-Erkenntnis) gebe es nicht. In diese Heillosigkeit trifft nun die Verheißung der großen östlichen Religionen, das verlorene Ich erlösend in das große Eine aufzulösen. Wo dies geschehe, sei dann alle Unwahrheit verschwunden - in "die Fülle des Nichts".

Der Wert der eigenen Erfahrung

Gänzlich anders stellt sich alles dar, wenn wir nicht fraglos dies theoretische Verständnis zum Ausgangspunkt nehmen, sondern die Erfahrung, persönlich angesprochen und beansprucht zu sein. Dies ist der Einsatz der Bibel und ihrer drei Religionen. Als Nicht-Theologe beginne ich nicht bei ihr selbst. Man kann das bedauern; doch hat es den Vorteil, dass niemand sich auf den Boden der Schrift stellen muss, um weiter mitzudenken. Nicht einmal religiöser Erfahrung bedarf es; nur dessen, was wir beieinander stets vorauszusetzen haben: nämlich Gewissenhaftigkeit, moralisches Bewusstsein. Dies nun philosophisch; d.h. es geht um Gewissenserfahrung "als solche". Das meint zweierlei: das ganze "Objekt" soll in Betracht genommen werden, nicht bloß bestimmte Seiten daran; und die Betrachtung ihrerseits soll dieser Ganzheit entsprechen. Unser Bedenken des Gewissens (als Gewissen) muss selbst (reflektiert) gewissenhaft sein. Niemand also wird "als (Natur-) wissenschaftler" angesprochen, jeder als Mensch, als Person: als er selbst. (Nur so nämlich hat er, auch in Beruf und Wissenschaft, Gewissen.) Klar sein dürfte, dass es nicht um Gefühle, um Emotion geht. Die dürfen nicht fehlen; aber sie bilden nicht die Mitte des Personalen. Sie heißt in der Bibel - und auch später, über Augustinus noch bis B. Pascal - das Herz. Es ist ebenso wenig gefühlig zu nehmen. Es meint mich und dich "als solche", inseits aller Rollen und Positionen, einen jeden als ihn selbst.

Besinnung auf eigene Gewissenserfahrung

Jede(r) ist gebeten, sich auf eine persönliche Gewissens-Erfahrung zu besinnen. Da heißt nicht auf eine Situation des Urteils über jemand anderen, ob politisch oder im privaten Umkreis, sondern auf das schmerzliche Betroffensein durch eigene Schuld. Und keine eindrucksvoll große - hier haben Entschuldigungen zumeist recht-, sondern eine (im Doppelsinn) gewöhnliche "Gemeinheit": nur allzumenschlich, aber im Kern auch uns selbst nicht verständlich. Weshalb der Reuige nach "Was hab ich getan!" - sich fragt: "Wer bin ich, dass ich solches tun konnte!" Dieser konkrete Einstieg erübrigt Dispute über phylo- wie ontogenetischen Nonnenerwerb, "Überich", "Gen-Egoismus", Kultur-Differenzen, "gesundes Eigeninteresse" und so fort. Denn unbestreitbar zeigt er die Gutheit und das Sein-sollen des Guten, die Verwerflichkeit und das schlechthinnige Nicht-Sein-Sollen von Lieblosigkeit. Bestimmen wir diese Erfahrung genauer.

Es geht darum, was gewollt werden soll

Es geht a) um Einsicht, um Vernunft-Erfahrung. Dies gegen alle Spielarten des Dezisionismus, heute so verbreitet, weil man Vernunft "wissenschaftlich" auf konstatierende Rationalität reduziert und diese dann für das Ästhetische, Ethische und Religiöse nur "emotional" zu ergänzen vermag. Diese Einsicht ist b) dennoch nichtrein objektiv theoretisch; vielmehr lässt man sich - in praktischer Vernunft ergreifen: nicht durch ein Gefühl, sondern von einem Anspruch. Dies gegen den Intuitionismus und alle Formen des Rationalismus, für welche Sittlichkeit zuletzt aus der Erkenntnis der Zuträglichkeit (oder auch Unabdingbarkeit) des Guten entspringt. - Beide Momente: Einsichtigkeit des Gesollten und Unbedingtheit des Gesollt-seins, ohne dass eins auf das andere zurückzuführen wäre, bilden die einzigartige Gegebenheit der sittlichen Erfahrung. Statt bloß um das, was man will (sei es auch "eigentlich" oder "im Grunde"), geht es darum, was gewollt werden soll. Philosophen wie geistliche Lehrer von Platon bis F'ichte, von den biblischen Autoren bis H. U. v. Balthasar, haben zum Bildwort des Lichtes gegriffen, um die einleuchtende Selbstverständlichkeit des Gesollten und zugleich das Selbstgerechtfertigtsein, die Hoheitlichkeit des Du-sollst auszudrücken. Wer wirklich gut = sittlich handelt, verhält sich eben nicht bloß klug (gar klüglich). Er "gibt der Wahrheit die Ehre" und sucht der "Herrlichkeit" des Guten zu entsprechen.

Die Rolle der Innenansicht

Bewusst habe ich mich auf eine solche Erfahrung bezogen. Leichter fiele uns die Erinnerung daran, dass uns Unrecht geschah. Dies macht übrigens die Eigen-Qualität des Sittlichen selbst Leugnern klar. Ärger, Wut, weil jemand stärker, glücklicher, erfolgreicher war als man selbst, unterscheiden sich deutlich von unserem Zorn und Protest, wenn hierbei Ungerechtigkeit oder Betrug im Spiel war. Doch fehlt hierbei die "Innenansicht" sowohl der Schuld (wir schauen dem anderen nicht ins Herz) als auch von Recht und "Herrlichkeit" des Guten, dem der Reuige die Ehre gibt. Die Schmerzlichkeit dieser Erfahrung erklärt unsere Vorbehalte gegenüber der Moral. In der Tat: wo jemand soll, da darf er anders werden, als er ist; er ist demnach nicht so, wie er sein soll.

Ist ein gutes Gewissen berechtigt?

Es war niemals bloß ein Bonmot, dass ein gutes Gewissen eigentlich ein schlechtes sein müsse. Nach beiden Seiten gelesen: Wie das "sanfte Ruhekissen" vielleicht nur ein "dickes Fell" ist, so bewegt anderseits ein waches Gewissen mehr als getanes Böses das unterlassene Gute. Und auch in dem günstigen Fall, wo angesichts einer Beschuldigung mich mein Gewissen freispricht, nennt es mich nicht gut. Anders gesagt, eine Ist-Soll Bilanz zeigt den Menschen nicht bloß am gleichsam wertfreien Null-Punkt, sondern "im Minus". Wie also, hätten wir nach einer schweren Verfehlung das Gewissen verloren? Zunächst mag uns hier so etwas wie Erleichterung anwehen: Natur Unschuld - oder derber: "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's völlig ungeniert." Bis uns aufgeht, man lebte dann als ein Tier auf zwei Beinen dahin. Und das macht bewusst: Gut sein zu sollen ist dennoch etwas, das wir dürfen. Wir werden dessen "gewürdigt". - Woher: von wem?

Wie die Erfahrung erklären?

Man muss die Erfahrung nicht verstehen wollen (wenn man ihr nur entspricht!). Will man dies aber, dann darf die Erklärung sie nicht "wegerklären", vor allem nicht ihre "doxische" Lichthaftigkeit. Darum geht es jetzt. Erstens richtet ein kategorischer Anspruch sich bloß an Personen, statt an Unterpersonales. Im Blick auf die schmerzliche Erinnerung wird man nicht bereit sein, Vergleiche mit dem "schlechten Gewissen" von Tieren zuzulassen - nicht weil man diese abwerten wollte, sondern aufgrund der Weigerung, sich selber zu "ent-schuldigen". Zweitens kann ein so unbedingtes Gemeintsein auch seiner Herkunft nach nicht weniger als personal sein. Das heißt, er kann nicht erst vom Hörer als Anspruch vermeint und aufgefasst werden, er muss ursprünglich als solcher gemeint sein. Aus Fakten, Strukturen, auch Werten allein ergeht nie ein kategorisch fragloses Du-sollst. Der Zeitgenosse fürchtet hier gleich "Fremdbestimmung". Aber zu Unrecht, ist das Gebotene doch in sich gut; Dennoch begründen nicht Warum und Wozu die fraglose Unbedingtheit des Sollens; denn Begründungen sind niemals fraglos. Eben die Einheit von Einsichtigkeit und Unbedingtheitsanspruch, die den besonderen Eigengeschmack des Sittlichen ausmacht, "nimmt den Charakter des... nicht weiter Begreifbaren an, sobald man unterstellt: non est Deus" (B. Schüller). Entweder muss man dann - rationalistisch - den Anspruchs-Charakter bestreiten oder man leugnet die innere Einsichtigkeit, womit das gebieterische Moment im Gewissen zum autoritären Über-Ich wird anstatt wahrer Autorität.

"Du sollst" wird von klassischer Philosophie nicht behandelt

Dies Du-sollst hat auch die klassische Philosophie nicht "realisiert". (Sokrates spricht zwar vom Daimonion, das ihn von Falschem abhält; doch in Fragen der Sittlichkeit kommt er mit seiner Vernunft aus. Und zwar darum, weil sich den Griechen der personale Schöpfer-Gott nicht offenbart hat. Für sie besteht die Welt schon seit je aus sich selbst; durchwaltet vom über-göttlichen Schicksal. Da lässt sich grundsätzlich weder etwas machen noch tun. Die edelste Haltung ist die des Zuschauers beim Lebensdrama (Pythagoras). Darum ist die klassische Ethik nicht eine des Imperativs, sondern des wohlverstandenen Selbst-Interesses. Gefragt wird - statt, was man soll - , was man "eigentlich und im Grunde" (stets schon) wolle; im Unterschied zu vordergründigen Wünschen, Sehnsüchten und Wollungen, bei denen wir - getäuscht - uns täuschen können. (So spielen die meisten Konflikte zwischen Sinnlichkeit und Vernunft.) Auch bei den christlichen Theologen wirkt dies Denken fort, das den Menschen fundamental vom Eros her bestimmt, dem Fülle-Streben eines Mängel-Wesens. Darin treffen sich Osten und Westen, nur mit unterschiedlichen Konsequenzen. Nach dem Platonischen Mythos sind die Eltern des Eros Armut und (nicht: Reichtum = ploutos, sondern poros = ) Wegfinder [Furt, Pore], Findigkeit.

Konsequenzen aus dem Wort-Charakter der Schöpfung

Den Hauptgrund dafür, dass der Schöpfungs-Glaube nicht umprägend wirkt, sehe ich darin, dass diese sachhaft gedacht wird: als "Machen". Erst R. Guardini hat aus dem "Wort-Charakter" der Schöpfung die nötige Konsequenz für das menschliche Selbstverständnis gezogen: "Das Unpersönliche, Lebloses wie Lebendiges, schafft Gott einfachhin, als unmittelbares Objekt seines Wollens. Die Person kann und will er nicht so schaffen, weil es sinnlos wäre. Er schafft sie durch einen Akt, der ihre Würde vorwegnimmt und eben damit begründet, nämlich durch Anruf. Die Dinge entstehen aus Gottes Befehl; die Person aus seinem Anruf."

Wahrer Ort des Wortes ist das Ohr, nicht der Mund

So aber steht nicht als erstes die Sinn-Frage, Ziel- und Wegsuche an, sondern Antwort. Wobei die Grundantwort - vor aller weiteren "Rückäußerung" - das Hören selbst ist. Denn statt "rein theoretisch", "neutral", geschieht Erkennen hier als Anerkennen. Wirksamer Anruf erwirkt Hören als (vor allem Handeln) urspringenden Seins-Gehorsam; ist der wahre Ort des Wortes doch nicht der Mund, sondern das Ohr. Person entsteht aus Anruf. Es gibt sie nicht vorher, so dass sie frei zwischen Ja und Nein zum Rufwählen könnte. Darin liegt die Wahrheit der Rede vom "Machen": der Ruf ist unwiderstehlich. Doch was ihm entspringt, ist eben Freiheit: der freie "Hörer des Wortes" (K. Rahner). - Zwar stimmt es: er fängt nicht sich an, erwird angefangen. Aber begründet wird Freiheit: eine Wirklichkeit, die - angefangen - (selber) anfängt. Weniger kompliziert lässt sich wohl nicht sagen, dass hier statt eines Dings, eines "Topfes" (Röm 9, 21 ), jemand geschaffen wird: nicht ein was, sondern ein wer.

Das "Sich-ergreifen-lassen"

Darum hat dieser sich gleich zu seiner Erst-Antwort zu verhalten: bestätigend oder im Widerruf Wobei dieser uns in Widerspruch zu uns selbst bringt: zum eigenen Ur-Ja. - Dies sahen die Klassiker als "eigentliches" oder Grundgewilltsein des Menschen. Jetzt zeigt es selbst sich - statt als Streben, Verlangen - als Hören und Antwort auf einen Anruf. Unser Urschwung heißt nicht eros/appetitus. Unser Grundvollzug ist weder ein aktiv-strebender Ausgriff noch ein passives Gedrängt-getrieben-werden; noch werden wir anders passiv, nämlich "ungerührt" rein-theoretisch beeindruckt wie eine "unbeschriebene Tafel" (Aristoteles), und ebenso wenig "fühlen" oder erfühlen wir "Werte" (M. Scheler). Der Grundvollzug gerufener Freiheit ist vielmehr ein Sich-ergreifen-lassen. Da hier nicht ausdrücklich das Thema "Gottesbeweise" ansteht, verzichte ich auf Entfaltung und Einwände-Diskussion." Auch so ist wohl deutlich geworden, inwiefern, mit I. Kant gesprochen, Moral "unumgänglich zur Religion [führt]". F. W. J. Schelling nennt so das Gewissen den "einzigen offnen Punkt, durch den der Himmel hereinscheint". Dies aber, wie gesagt, als "Gewürdigtsein". ,Gott‘ meint hier nicht irgendeine Macht und Mächtigkeit, auch keinen "Hochbetagten" (Dan 7, 9), wie er uns unweigerlich dank Michelangelo in den Sinn kommt. Was uns hier in den Sinn kommen soll, ist das souveräne "Woher" - ich formuliere bewusst so ungemäß formal(istisch) – "unseres bedingungslosen Gut-sein-sollens". Nicht bloß das gesollte Gute ist gut; dem zuvor schon das Gut-sein-sollen. Wie aber dann erst dessen Woher: das Gute = die Güte selbst: "in Person". Dafür kenne ich kein schöneres Zeugnis als einen Satz von E. Levinas - aus seinem Buch De Dieu qui vient à l'idée: "Er überhäuft mich nicht mit Gütern, sondern drängt mich zur Güte, die besser ist als alle Güter, die wir erhalten können." So aber kehrt, wie gesagt, die Richtung der Lebensbewegung sich um.

Wissen als Macht

An die Stelle des Suchens tritt der Versuch, recht zu empfangen, einem Angebot an uns gehörig zu entsprechen. Nicht Weisheit und Macht sind die obersten Maßgaben rechten Lebens, sondern Gehorsam, Rechtheit und Treue. Wissen als Macht entdeckt ja nicht erst die europäische Neuzeit; seit je haben Menschen deswegen um Namenkenntnis gerungen, bei ihresgleichen wie Dämonen und Geistern, zuhöchst bei den Göttern. Oder man denke an die Machtanhäufung indischer Asketen, die göttliche Abwehr-Maßnahmen auslöst (ihrerseits aber m.E. vor dem Welt-Durchbruch der "Erleuchtung" verblasst). Hier will man wissen und die "Spielregeln" kennen, um die Natur durch Nachgiebigkeit zu besiegen (Bacon I Seite 157). Gut oder Böse spielen dabei eine kleine oder keine Rolle. ,Nützlich - schädlich, krankmachend - heilsam' heißen die Kategorien. Es geht um Kenntnis und Können (sinnvoll darum, zu hoffen, der Bildungsprozess setze sich durch mehrere Leben hin fort).

Sich ansprechen, es sich "gesagt sein" lassen

Anders vor dem Zuspruch der Liebe, der vor die Entscheidung zwischen Ja und Nein stellt. Lernen und Üben, Reifung gibt es auch hier; doch bleibt dies nachrangig gegenüber der grundsätzlichen Entscheidung. Und die meint nicht zuerst das Gebotene: Nächstenliebe und Sorglichkeit für die Umwelt, sondern zuerst den Gebietenden selbst. - Was man formal-philosophisch den ethischen Grundentschluss nennen könnte (Entschluss dazu, "der Wahrheit die Ehre zu geben", das Gute zu wollen, das Böse zu meiden; bzw. "sachlich" und nicht "unsachlich" zu sein), zeigt sich hier vorgängig als dialogisches Geschehen: Sich ansprechen, es sich "gesagt sein" lassen. Unverblümt im Sch`ma Israel: "Du wirst Ihn lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele (mit all deinem Verstehen, fügt Jesus [nach der LXX] hinzu) und all deiner Kraft" (Dtn 6, 5; Mk 12, 30). ,Ganz` sagt in der Sicht von Klugheit, Weisheit, Bildung: unverkürzt, nicht fragmentarisch, vollumfassend "rund" ; hier aber: ungeteilt und rückhaltlos im Gegenüber-zu.  Gewusst wird auch hier, doch nicht um das Spiel (und den anderen) zu beherrschen; man will die Regeln beherrschen, um ihnen zu folgen - und darin Ihm.

Übergang zur Religion als Gottesbezug

Das markiert den Übergang von Ethik/ Moral - und auch Religiosität - zur Religion als Gottes-Bezug. Darum ist dem Frommen das Gesetz eine Freude - im Gegenüber zu Gott. Und diese alttestamentliche Formulierung wird im Christentum - für Ethiker noch ärgerlicher - überboten. Außer dem Theorie-Missverständnis von Religion, von dem wir ausgegangen sind, herrscht ja noch ein zweites: das moralische bzw. moralistische. Danach bildet die Bergpredigt den Haupt- und Mittelpunkt der christlichen Botschaft. In Wahrheit ist dies jedoch Jesus als Christus. Und den Christen macht das Bekenntnis zu ihm als dem Herrn (Röm 10, 9; Phil 2, 11; was niemand natürlich vermag, nur "im Geist": 1 Kor 12, 3). Das lässt sich kurz und schlagend gerade an einem Text demonstrieren, der den "Ethikern" besonders lieb ist - weil "unreligiös": der Gerichtsrede Mt 25. Dort wird den Gerechten nicht deshalb das Reich aufgetan, weil sie zu Notleidenden menschlich waren, sondern weil sie darin Ihm geholfen haben. Dies der ungeheure Anspruch des Nazareners - heute oft von Gegnern eher festgehalten als von human-pastoral entgegenkommenden Christen.

Mensch findet sich im Schoß einer "Gesamtperson"

Der Mensch erwacht nicht schlicht in einer zeitlos webenden Natur, wie auch immer zu deuten. Schon zu Anfang, als der einzelne sich noch nicht der "letzten Einsamkeit" seines Personseins bewusst ist, findet er sich doch - im Schoß einer "Gesamtperson" - einer heiligen Macht gegenüber, die sich konkret eben dieser "Person": diesem Volk verbunden hat und zuspricht. All das sagt gewiss zuerst und vor allem etwas über uns. Es meint zunächst "nichts anderes, als dass der Sprechende sich dem, was er Du nennt, vollkommen als Ich übergibt. Du-Sagen drückt hier nicht nur den Verzicht aus auf alles Gebrauchen und Verfügen und das Vorstellen nach Begriffen apriori, das Du-Sagen setzt jetzt vielmehr zugleich die Einsicht voraus, dass alles, was der Mensch in diesem Verhältnis tut, ursprünglich als Antwort geschieht... In diesem Du-Sagen geht es nicht darum, das Absolute als Person zu bezeichnen, sondern sich selbst aus dem Sein in der Beziehung auf das Absolute als Person zu verstehen." Und doch sagt dies zumindest mit, das Absolute/Unbedingte sei derart, "dass wir erst in der Offenheit zu ihm Personen sind und dass wir uns als Personen zu ihm verhalten müssen "- dass wir zu ihm Du sagen müssen. In diesem Sinn hat B. Welte es das Du-hafte genannt. Das meint, es kann nicht als "nur etwa ,geltende‘ Idee interpretiert werden", noch bloß als Grenzbegriff unseres Ich und Wir; vielmehr weiß der Glaubende sich von ihm her und auf es hin: dass es uns um es selbst gehen soll (so wie unserem Denken und Reden um Wahrheit).

Nicht jede Offenbarung ist im vorhinein gleich gültig

Nun ist nach religiös weit geltender Überzeugung alles "Wissen um Gott... ein Wissen auch durch Gott". Wenn dies zutrifft, dann hat man kein Recht, von vornherein jede mögliche Offenbarung für gleich gültig und gleich revidierbar, das heißt am Ende, für gleichgültig zu erklären. Denn könnte nicht der Offenbarer selber Unterschiede darin machen, in welchem Maß, welcher Vorläufigkeit oder Tiefe, aus welcher Intimität er sich mitteilt? - Wie wären zudem etwa der Wiedergeburtenweg einer lebens- und endlichkeitsgequälten Seele in ein Nirwana, das sie von sich und allem Mit erlöst, und die leibhaftige Auferstehung des vom personalen Gott bei seinem Namen Gerufenen zusammenzudenken? Die einen sehen subjektive Ansichten darin. Dazu jetzt nur die Gegenfrage, ob dies Urteil weniger dogmatisch und "intolerant" sei als die Wahrheitsansprüche der konkurrierenden Religionen, die es abweisen und überbieten möchte. - Agnostizismus und Relativismus sind ja mitnichten neutral-objektiv. Sie bilden ihrerseits eine Konfession und müssen sich genau so fragen lassen, wie sie sich begründen. Andere suchen die unterschiedlichen religiösen Lehren auf "Ansichten" im objektiven Wortsinn zurückzuführen: also auf Aspekte eines es-haften Weltbestands oder -grundes. Doch auch hier ist es in keiner Weise sachgeboten, sondern Sache persönlicher Wertung, wenn Autoren die Person-Kategorien der Einzigkeit, freier Treuezusage und entschiedener Selbst-Festlegung Gottes als anthropomorph herabsetzen gegenüber apersonalen Naturbildern wie Lebensfluss, Energieballung, Weltmusik oder dem in verschiedenen Wassern je anders sich spiegelnden Mond.

Das Verhältnis von Glaube und Wissen

Entspringt aber die Glaubens-Rede nicht jener Denk-Form, die auf Hypothesenbildung abzielt, dann stellt sich sowohl das Verhältnis von "Glauben und Wissen" wie das von Glaube und Zweifel anders dar, als allermeist verstanden. Glaube meint hier ein Gesamtverständnis von Fakten und Daten in einem Interpersonalverhältnis. Daran ist zweierlei wichtig. Erstens ergibt es sich obzwar in Berufung auf Gründe - auf grund von Entscheidung. Das gilt von jeder Fakten-Interpretation; nur bleibt es oftmals unbeachtet, weil man "vorentscheidend" schon den Rahmen abgesteckt hat, etwa wenn Äpfel wie Birnen als Stücke Obst gezählt werden sollen - oder auch nur sechs Äpfel; gleicht doch keiner dem anderen; oder wenn ein Puzzlestück eingepasst wird. Stärker bewusst ist es schon bei der qualitativen Abschätzung von Obst (wenn es nicht bloß gezählt, sondern geteilt werden soll) - oder bei Deutung und Wertung des Puzzle-Bildes als ganzen.

Die Entscheidung erfolgt bindend

Zweitens - und das unterscheidet die Deutung von anderen - erfolgt diese Entscheidung nicht versuchs- und probeweise (das gab's unterwegs zu ihr), sondern "entschieden" und bindend. Je lebenbestimmender die Entscheidung ist, desto ernster muss sie verantwortet werden können. Doch natürlich wird die Rechenschaft nicht rechnerisch gegeben; ihr Organ ist ja das Gewissen. Leichtgläubigkeit verfehlt sich dagegen, doch ebenso ungehöriger Argwohn - ohne dass dies hier und jetzt vertieft werden könnte. Der große Name zu dieser Thematik: J. H. Newman. Warum aber wäre dem positiven Ergebnis solcher Entscheidung der Name "Wissen" vorzuenthalten? , Wissen` ist nicht leicht zu definieren; ich schlage vor: sagen können, dass man sagen könne, was (der Fall) ist. Sollte man dies nur können, wo man etwas mit eigenen Augen erblickt hat? (Immerhin hätte man ihnen zu trauen.) Bei reinen Sach-Fragen ist der Weg vom Faktum zum eigenen Auge tatsächlich kürzer - und weniger "störanfällig" - als der über Auge und Mund eines andern zum eigenen Ohr. Wie aber, wo es um die Deutung (des Gemeintseins) von Fakten geht - die der andere in Beziehung auf mich setzt? "Bundesschluss" besagt den Übergang aus einem hypothetischen Abwägen zur entschiedenen Anerkennung des andern und seiner Aufrichtigkeit. Wer sich entschied, vermutet nicht mehr; er vertraut.

Und der Zweifel?

Tatsächlich gehört der Zweifel zum Glauben. Doch am rechten Platz. Dem schon genannten Zeugnis (Anm. 23) "Ich weiß, wem ich glaube" gesellt sich das Wort (Mk 9, 24): "Ich glaube, hilf meinem Unglauben." Der Zweifel meint also nicht, was - vor allem nicht den, dem der Glaubende glaubt; er gilt dem eigenen Glauben. Liebe nämlich kann allein von Liebe erkannt und anerkannt werden. Nach der Schrift selbst scheint darin das Kernproblem des Gottesglaubens zu liegen. Es heißt dort Kleinglaube - oligopistia. Da der Mensch im innersten durchaus weiß, wie wenig liebenswürdig er ist, kann er kaum glauben, als der, der er ist, und so, wie er ist, von Gott gewollt und reuelos bejaht zu sein. Die Kurzformel aller Glaubenskritik (und in wem meldet sich nicht Einverständnis damit): "Zu schön, um wahr zu sein."

Fragen des Übels

Sieht die Welt denn so aus, wie sie aussehen sollte, wenn Gott sie und uns liebt? Hier meldet sich, was auch nicht selten Zweifel heißt, aber korrekt als "Anfechtung" bezeichnet werden muss: die Versuchung zum Zweifel. Auch sie gehört also zum Glauben; doch nicht wünschenswerterweise, sondern als sein "Schatten". Unmöglich, jetzt auch die Fragen um Gott und das Übel zu diskutieren. So viel aber sei angedeutet: Dass Gott heilig-gut ist - statt gut-böse wie das Sakrale - zeigt sich unzweifelhaft darin, dass Er "zur Güte drängt". Und immer wieder gibt Er die Kraft, diesem Drängen zu folgen (darum ist, wem es glückte, gut zu sein, nicht bloß froh, sondern dankbar). Dass wir den Weltlauf im großen wie kleinen mit dieser Einsicht oft nicht vereinbaren können, führt zu Protest und Anklage: "Warum?" "Wie lange noch?" Sie durchziehen die Schrift bis zum Schlussbuch, der Apokalypse. (Hier haben Christen, die sich das als Anmaßung verboten, Nachholbedarf).

Klagen an Gott

Aber Protest und Anklage enthalten ein doppeltes: a) Gott ist verantwortlich und "zuständig". Die Rede von Seiner Ohnmacht läuft auf die Leugnung Seiner hinaus. Man hätte Ihn dann weder anzuklagen noch etwas von ihm zu erwarten. b) Gott ist ansprechbar und gut. Der Klagende beschwert sich nicht bloß über ihn, sondern ausdrücklich bei ihm. Er ist ihm ein Gott der Hoffnung, freilich vollen Ernstes "wider alle Hoffnung" (Röm 4, 18). Ein Kernereignis darum ist im Alten Bund die "Bindung Isaaks" - zum Erweis nicht des Gehorsams als vielmehr der Hoffnung Abrahams (denn Kinderopfer waren damals üblich; doch in eben diesem Sohn hatte ihm Gott die Zukunft verheißen - Und das neubundliche Gegenstück dazu ist Jesus am Ölberg. Man könnte fast meinen, die Kreuzigung hätte es nicht gegeben, wenn man im Hebräerbrief liest (5, 7): "Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden." Derart aber - Gehorsam gelernt (5, 8) - ist er der "Urheber und Vollender des Glaubens" (Hebr 12, 2), eines Glaubens, der jetzt noch als Hoffnung lebt (Hebr 11, 1), in wechselvoller und oftmals dunkler Geschichte, doch in der Zuversicht, dass deren Wahrheit offenbar wird (1 Joh 3, 2).

 

Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn

 

>> Konstruktivismus: Alles ist subjektiv konstruiert

>> Der Wert der eigenen Erfahrung

>> Besinnung auf eigene Gewissenserfahrung

>> Es geht darum, was gewollt werden soll

>> Die Rolle der Innenansicht

>> Ist ein gutes Gewissen berechtigt?

>> Wie die Erfahrung erklären?

>> "Du sollst" wird von klassischer Philosophie nicht behandelt

>> Konsequenzen aus dem Wort-Charakter der Schöpfung

>> Wahrer Ort des Wortes ist das Ohr, nicht der Mund

>> Das "Sich-ergreifen-lassen"

>> Wissen als Macht

>> Sich ansprechen, es sich "gesagt sein" lassen

>> Übergang zur Religion als Gottesbezug

>> Mensch findet sich im Schoß einer "Gesamtperson"

>> Nicht jede Offenbarung ist im vorhinein gleich gültig

>> Das Verhältnis von Glaube und Wissen

>> Die Entscheidung erfolgt bindend

>> Und der Zweifel?

>> Fragen des Übels

>> Klagen an Gott

 
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