Im Spannungsfeld zwischen Gesetz und Gewissen
Von Weihbischof Helmut Krätzl (Biografie)
Heutige Gesellschaften lösen sich immer mehr von einheitlichen
Wertesystemen, wodurch es zu einer Individualisierung des Ethos
kommt. Gleichzeitig aber wird der Ruf nach klareren Normen wieder
deutlicher. Der moderne Christ steht in der Spannung seiner eigenen
persönlichen Glaubensüberzeugung und der Kirchenzugehörigkeit. Er
hat in seinem Leben auch säuberlich getrennt zwischen dem Bereich
des Religiösen und jenem des Alltags, besonders auch des Berufes.
Wie christlich ist dann eigentlich noch eine Gesellschaft und wie
christlich kann, muss, darf sie sein, wenn sie längst
säkularisiert ist und gleichzeitig multireligiös?
Nach Franz-Xaver Kaufmann wird unsere zeitgenössische Kultur
durch vier Kennzeichen, die gleichzeitig dem Christ-Sein heute
entgegenstehen, charakterisiert: Säkularisierung, Pluralisierung,
Individualisierung und Modernität ( F. X. Kaufmann, Über die
Schwierigkeit des Christen in der modernen Kultur, in: Biotope der
Hoffnung. Zu Christentum und Kirche heute. Ludwig Kaufmann zu Ehren.
Hrsg: N. Klein, H. R. Schlette, Olten 1988).
Bedeutungsverlust der Religion
Das Christentum hatte früher eine nahezu alle Lebensbereiche
durchdringende und sie regulierende Deutungsmacht. In der heutigen,
weitgehend säkularisierten Welt verliert religiöse Sinngebung für
immer weitere Lebensbereiche an Bedeutung. Die Auffassungen der
Kirche und der christlichen Theologie stehen heute nicht mehr im
Zentrum oder an der bedeutungsmäßigen Spitze einer kulturellen
Hierarchie, sie sind vielmehr eine unter vielen Kulturströmungen
und stehen mit ihnen in Konkurrenz. Das zweite Merkmal unserer
Kultur ist also ihr Pluralismus. Gleichzeitig besteht zu diesem
Pluralismus der Individualismus. "Wo keine verbindliche
Wahrheit mehr kollektiv definiert werden kann, muss es dem
Individuum überlassen bleiben, seine eigenen Präferenzen zu
bilden." (F. X. Kaufmann, Schwierigkeit, Seite 120)
Wandlung des Begriffs "Modernität"
Erst in der Entflechtung der "Doppelköpfigkeit"
geistlicher und weltlicher Macht ist die Grundlage für die moderne,
freiheitliche Entwicklung gelegt worden, in der sich die Vorstellung
individueller Menschenwürde und individueller Menschenrechte
entwickelt hat, die besonders in der Aufklärung ihren Anwalt
gefunden hat. Schließlich bestimmt unsere Kultur der Begriff
"Modernität". War "modern" im 19. Jahrhundert
noch der Kampfbegriff zwischen Konservativen und Progressiven und
wollte damals besagen, das Neue, also das Moderne, sei das Gute, so
hat sich jüngst die Bedeutung gewandelt. Geschichtliches Denken,
das die Vergänglichkeit einer jeden Gegenwart so deutlich macht und
andererseits die Ungewissheit der Zukunft, wie sie uns heute
bedroht, ließ Modernität zur Kategorie der Bewegung werden. Sie
bedeutet nun die Legitimation eines fortgesetzten Wandels:
Fortschritt, Evolution, Anpassung oder Innovation. (F. X. Kaufmann,
Schwierigkeit, Seite 121)
Religionen auf gemeinsamem Raum
Gleichzeitig begegnet ein Christ in seinem eigenen Lebensraum
anderen Weltreligionen, die es nicht mehr zu bekämpfen gilt,
sondern mit denen wir zusammenleben, ja sogar uns gegenseitig
befruchten sollen. Es sind aber Religionen, wie etwa der Islam, die
in einer gewissen Ungleichzeitigkeit für uns überwunden
erschienene Kultur- und Lebensformen fordern, wie etwa die
gesetzesprägende Kraft der Religion, die Abhängigkeit des Staates
von religiösen Haltungen und Einrichtungen. In dieser so gearteten
Kultur unserer Zeit, aber gerade auch in der Auseinandersetzung mit
dem Islam sind wir genötigt, unsere eigene Haltung zu Tradition und
persönlicher Verantwortung zu überdenken.
Bedeutung des persönlichen Glaubens
Allzu lange und allzu sehr hat man bei der Beschreibung des
religiösen Glaubens die Inhalte der Glaubenslehre betont und die
Gläubigkeit eines Menschen meist danach bemessen, wie viel er von
der Summe der Glaubenswahrheiten bejaht und bekennt. Heute betont
man viel deutlicher die fides qua, den eigentlichen Glaubensakt, in
dem sich ein Mensch mit seiner ganzen Existenz Gott anvertraut.
Davon ist Glaube abhängig, ob einer auf den Anruf Gottes ein ganz
entschiedenes Ja in seinem Leben sagt. Der Glaube, wie ihn uns die
Bibel lehrt, vor allem in denen, die uns den Pilgerweg des Glaubens
vorangegangen sind, von Abraham bis Maria, war immer ein ganz
persönlicher Glaube, der in der Antwort auf Gottes Ruf bestanden
hat. Ein Glaube auf Verheißung hin, die sich noch in keiner Weise
abgezeichnet hat. Ein Glaube, der sogar immer wieder auf die Probe
gestellt wurde, so sehr, dass Abraham z. B. versuchte, der
Erfüllung der Verheißung Gottes auf menschliche Weise "zu
Hilfe" zukommen. Glaube ist ein "alles umfassender
Lebensentwurf und eine ganzheitliche Daseinshaltung."
(Katholischer Erwachsenenkatechismus [KEK]. Hrsg. von der Dt.
Bischofskonferenz, 1985, Seite 41)
Persönliche Begegnung mit Gott
Glauben bedeutet, ein Sich-Fest-Machen in Gott, ein Trauen und
Bauen auf ihn, ein Gründen der Existenz auf ihn und ein Standfinden
in ihm. Nun aber ist dieses "Standfinden" keineswegs so,
als ob der Mensch damit eine unzerstörbare Geborgenheit erlangen
würde, eine unverletzbare Sicherheit. Der Glaube ist ein Weg auf
Hoffnung hin. Er ist immer auch ein Wagnis, "ein Loslassen
alter Sicherheiten und eine Umkehr gegenüber der gewohnten Sicht-
und Handlungsweise." (KEK, Seite 41) Aus all dem wird klar,
dass Glaube etwas ganz Persönliches ist und dass somit nie jemand
anstelle eines anderen glauben kann. Glaube ist zutiefst die
persönliche Begegnung mit Gott, diese ganz persönliche Antwort auf
den Ruf Gottes, der nicht irgendwen, sondern jeden einzelnen beim
Namen ruft. Aber dies erfassen, ja diese persönliche Entscheidung
für den Lebensentwurf geben, kann nur ein erwachsener, reifer
Mensch. Daher ist es gut, wenn man heute ausdrücklich vom
"Erwachsenenglauben" spricht, der sich sehr wohl vom
Kinderglauben unterscheidet.
Hinwendung zu Gott
Glaube, so gesehen, ist noch nicht von der Tatsache der Taufe
abzulesen, schon gar nicht von einer, die einem unmündigen Kind auf
Entscheidung anderer hin erteilt wurde. Glaube ist die Voraussetzung
für die Taufe, und nach einer Kindertaufe müsste einmal im Leben
dieses persönliche Ja zu Gott in existentieller Weise
nachgesprochen werden. Glaube ergibt sich auch nicht wie
selbstverständlich durch das Aufwachsen in einer bestimmten
gläubigen Gemeinschaft. Glaube ist die persönliche,
vertrauensvolle Hinwendung zu Gott. Glaube ist letztlich
"Begegnung, Gemeinschaft und Freundschaft mit Gott." (KEK,
Seite 43) Und weil im rechten Glauben Gott und Mensch zusammenwirken
(Angebot der Gnade, Antwort mit dem Leben), vollzieht sich im
Glauben auch die Geschichte Gottes mit dem Menschen hier und jetzt.
Den Glauben weiterzugeben heißt also zuerst, dem Menschen den Weg
zur Gottesbegegnung zu ermöglichen, zu eröffnen. Heißt auch,
Leben und Geschichte von Gott her zu deuten. Glaube als Antwort auf
Gottes Ruf aber meint auch, dass das Leben in dieser Konsequenz
gelebt werden will, vor Gott, mit Gott, auf Gott hin.
Notwendigkeit einer persönlichen Entscheidung zu Gott
Glaube solcher Art setzt eine ganz persönliche Entscheidung
voraus und wird nicht "ererbt". Er verlangt vom einzelnen
eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit Gott und wird nicht
schon durch eine Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist,
vermittelt. Glaube muss vielmehr das ganze Leben durchdringen und
damit auch zur Richtschnur des Handelns, der Lebensentscheidungen
werden. Das setzt aber voraus, dass man die Menschen, die wir so
schnell "unsere Gläubigen" nennen, zu einer solchen
Entscheidung herausfordert. Dafür kann eine multikonfessionelle,
sogar multireligiöse Umgebung durchaus hilfreich sein, weil nicht
mehr die Versuchung besteht, sich von einer scheinbargeschlossenen
"gläubigen" Gesellschaft mittragen zu lassen. Die
Begegnung mit anderen Religionen kann einerseits Ernst und
Konsequenz gläubiger Haltung erleben lassen, andererseits aber auch
jene Defizite zeigen, die sich in der Praxis der einzelnen
Religionen einer freien Überantwortung an den sich offenbarenden
Gott entgegenstellen.
Gemeinschaft im Glauben
"Glaube ist die freie, verantwortliche und unübertragbare
Entscheidung des einzelnen Menschen." (KEK, Seite 43) Darum ist
es richtig und wichtig zu sagen: "Ich glaube."
Andererseits ist christlicher Glaube ohne die Gemeinschaft der
Gläubigen nicht denkbar - weder historisch, noch theologisch, noch
in den vielen Vollzügen des Glaubens. Mit Recht sagen Christen
alternierend: "Ich glaube", und "wir glauben".
"Wir glauben" heißt: "Keiner kann für sich alleine
glauben. Keiner hat sich den Glauben selbst gegeben; jeder hat ihn
von denen empfangen, die vor ihm glaubten. Keiner kann auch den
Glauben für sich allein behalten; er muss ihn anderen weitergeben.
Jeder ist also ein Glied in der großen Kette der Glaubenden. Jeder
bleibt darauf angewiesen, in seinem Glauben durch andere, die mit
ihm glauben, mitgetragen zu werden. Deshalb gilt " `Ein Christ
ist kein Christ' (Tertullian). Jeder ist auf die Gemeinschaft der
Glaubenden angewiesen." (KEK, Seite 44) Die Begegnung mit den
anderen Religionen kann einerseits Ernst und Konsequenz gläubiger
Haltung erleben lassen, andererseits aber auch jene Defizite zeigen,
die sich in der Praxis der einzelnen Religionen einer freien
Überantwortung an den sich offenbarenden Gott entgegenstellen.
Glaube hat eine soziale Dimension
Gemeinschaft ist notwendig, weil der Glaube vom Hören kommt.
Wenn der Glaube etwas ist, das das Leben in all seinen Dimensionen
bestimmt, dann glaubt der Mensch als ein von Natur aus soziales
Wesen. Gott selbst hat nicht nur einzelne berufen, sondern sich ein
Volk versammelt und "erworben" und einzelne immer gerufen,
um "die vielen" zu versammeln. Wie Sünde eine soziale
Dimension hat, so auch der Glaube und das von Gott angekündigte
Heil. Gott offenbart sich in der Geschichte nicht nur dem einzelnen,
sondern der Menschheit. Die Kirche ist das von Gott versammelte
Volk, das seine Offenbarung durch die Geschichte getragen hat. Sie
ist aber noch viel mehr: das allumfassende Sakrament des Heils (vgl.
LG 48). Ihr sind die Sakramente anvertraut, ihr die Vollmacht zur
Versöhnung mit Gott und untereinander übertragen; und die Kirche
ist es, die Eucharistie gleichsam "macht"
(vgl. dazu Henri de Lubac, Die Kirche. Eine Betrachtung,1968,
Seite 127 ff.), ihr ist der Beistand des Geistes zugesagt. Sie
bewahrt den Glauben, aber sie entfaltet ihn auch aus ihrer so
vielfachen Erfahrung mit dem Handeln Gottes in der Geschichte.
"Ich glaube" bedeutet daher einstimmen in das "Wir
Glauben". "Dieses Einstimmen in den gemeinsamen Glauben
nennt man das Bekenntnis des Glaubens. Es ist nicht möglich ohne
eine gemeinsame, alle verbindende und für alle verbindliche
Sprache". (KEK, Seite 445)
Der Schnittpunkt persönlichen und gemeinsamen Glaubens
Hier kommen wir an den Schnittpunkt des persönlichen Glaubens
und des gemeinsamen Glaubens. Ohne Kirche könnte ich nicht glauben.
Andererseits trägt jeder durch seinen persönlichen Glauben als
lebendiges Glied der Kirche zum Wachsen des Glaubens bei und auch
zum Lebendigwerden des Glaubens in seiner ganz bestimmten Zeit. Hier
wäre aber auch der Ort, nachzufragen, was der Islam unter Glauben
versteht, welche Bedeutung die Glaubensgemeinschaft für ihn hat,
auf welchen Wegen er zum Glauben führt und an welchen Kennzeichen
er den Gläubigen ausmacht. Vor allem aber wird zu beachten sein,
wen der Islam von seiner Warte aus als "ungläubig" sieht,
welche Gründe er für eine solche Art von Unglauben annimmt, und
wie er dann mit "Ungläubigen" umgeht. (Vgl. dazu A.
Khoury, Der Islam. Sein Glaube, seine Lebensordnung, sein
Anspruch,1992, besonders Seite 126 ff.)
Die persönliche Gewissensentscheidung und die Bedeutung
objektiver Normen
Seit Newman und Kierkegaard steht das Gewissen mit neuer
Eindringlichkeit im Mittelpunkt der christlichen Anthropologie.
Newman: "Ich habe immer behauptet, dass Gehorsam gegen das
Gewissen, auch gegen ein irrendes Gewissen, der beste Weg zum Licht
ist." (J. H. Newman, Apologia pro Vita Sua (New York 1950),
part VI, Seite 212, zitiert bei B. Häring, Frei in Christus, 1979,
Seite 242) Dennoch hat die Moraltheologie bis zum II. Vatikanischen
Konzil zunehmend konkrete, bindende Anweisungen für Einzelfälle
gegeben, wodurch der Eindruck entstand, sittliche Verantwortung
bestünde eher in der Erfüllung dieser Forderungen als in der
Verantwortung vor dem eigenen Gewissen. Zwei Entwicklungen der
letzten Zeit haben auch Christen (genauer: Katholiken) über die
persönliche Verantwortung nach dem Gewissen neu nachdenken lassen:
einmal die rasante Entwicklung in Wissenschaft und Technik, die das
allgemeine Urteil zu allen auftretenden Fällen immer schwerer, ja
unmöglich macht, zum anderen aber die plurale Gesellschaft.
"In einer solchen Gesellschaft wird der Mensch aber, falls er
nicht zu "einer `Innenleitung' des personalen Gewissens
gefunden hat", mehr und mehr zum beliebig manipulierbaren
"außengeleiteten Opfer". (F. Furger, Ethik der
Lebensbereiche, 1985, Seite 50)
Das Gewissen ist Schlüssel zu Liebe und Wahrheit
Auf dem II. Vatikanischen Konzil hat die Kirche das Gewissen als
oberste Norm sittlichen Handelns wieder ganz deutlich
herausgestellt, vor allem in der Pastoralkonstitution "Die
Kirche in der Welt von heute" (Gaudium et spes, Art. 16):
"Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im
Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem
Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer
Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine
Erfüllung hat. Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit
den übrigen Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit und zur
wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen Probleme, die
im Leben der einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben
entstehen". Diese Sicht des Gewissens und damit der
persönlichen Verantwortung ermöglicht erst andere, sehr
weitreichende Aussagen des Konzils, etwa die Erklärung über die
Religionsfreiheit (Dignitatis humanae), die Lehre von der
"verantworteten Elternschaft" (Gaudium et spes, Art. 50),
die Aussagen über die "richtige Autonomie der irdischen
Wirklichkeiten" (Gaudium et spes, Art.36), aber auch die so
offene Haltung zu anderen christlichen Kirchen und anderen
Religionen. Insgesamt liegt hier der Schlüssel zu neuen Ansätzen
in der Moraltheologie, von der zu einseitigen Betonung objektiver
Normen hin zu mehr persönlicher Verantwortung, von einer Aktmoral
hin zu einer Gesinnungsmoral, von einem deontologischen Ansatz der
Sittlichkeit zu einem teleologischen.
Persönliches Gewissen als Freibrief zu willkürlichem Handeln
Die Frage des Gewissens wurde bald nach dem Konzil eine der bis
heute meist diskutierten. Ja, es scheint daran sogar die
Rechtgläubigkeit selbst bemessen zu werden. Eine vielfache Angst
hat wohl zu der so heftig geführten Diskussion und zu manchen, wie
es scheint, restriktiven Äußerungen des kirchlichen Lehramtes
geführt: die Angst, die Berufung auf das eigene Gewissen könnte
mit Beliebigkeit, mit Willkür, verwechselt werden (an solch einem
Missverständnis haben die Medien gehörig schuld, die
"Berufung auf das Gewissen" nicht selten gleichsetzen mit:
"Tue, was du willst"); ferner die Befürchtung, das
kirchliche Lehramt könnte dadurch an Autorität verlieren. Es ist
schon auffallend, dass bei allen einschlägigen Konzilstexten immer
sofort der Verweis auf das Lehramt zu lesen ist, wohl aus einer
Angst, Gewissensethik könnte in Subjektivismus umschlagen.
Durch das persönliche Gewissen steigt die Verantwortung
Eine "autonome Moral" würde gleichzeitig bedeuten,
dass der Mensch sich aus vorgegebenen Normen, aber damit auch aus
der Leitung durch Gott (vertreten durch die Kirche) freimachen
wollte. Der Grundtenor der Enzyklika "Veritatis Splendor"
scheint solches zu bestätigen. Eine sehr berechtigte Sorge freilich
bleibt, dass der einzelne, auf sein Gewissen verwiesen, überfordert
sein könnte. Dies einerseits deshalb, weil bisher der absolute
Gehorsam gegenüber Normen so betont wurde und die Darlegung der
Normen die eigentliche "Gewissensbildung" darstellte, man
andererseits nach dem Konzil versäumte, die Gläubigen schrittweise
auf jene persönliche Verantwortung vorzubereiten. So wurde die
Angst "von oben" auch verstärkt, ja gewissermaßen
bestätigt, durch die Angst der Betroffenen "von unten",
die sich nämlich fürchteten, Verantwortung zu übernehmen und sehr
bald nach genaueren Normen "riefen".
Spannung zwischen persönlichem Gewissen und kirchenamtlichen
Aussagen
Zu diesen allgemeinen Ängsten kommen noch konkrete
Spannungsfelder bei der Gewissensentscheidung (vgl. dazu H. Krätzl,
Gewissenserziehung aus der Sicht der Kirche, in: Erziehung zur
Demokratie-Gewissenserziehung. Hg. M. Heitger- I. Breinbauer in der
Reihe: Grundfragen der Pädagogik der Gegenwart, Bd. VI, 1987, Seite
173-192). Die brisanteste und wohl tiefgreifendste Spannung ist
bisweilen die zwischen dem persönlichen Gewissen und einer
kirchenamtlichen Aussage. Die Lösung, das Gewissen müsste sich
eben immer an kirchenamtliche Aussagen halten, wäre zu einfach und
würde auch der Lehre der Kirche selbst nicht entsprechen, denn
kirchenamtliche Aussagen haben unterschiedlichen Sicherheitsgrad.
(In Fragen der Moral hat übrigens die Kirche, obwohl sie für sich
das Recht beansprucht, nie "unfehlbare" Aussagen im
strengen Sinn gemacht.)
Keine definierende Ethik aus der Offenbarung ableitbar
Zum Verständnis dieser Spannung nur einige Hinweise (vgl. dazu
H. Krätzl, Gewissenserziehung, Seite 187 f.): Aus der Offenbarung
lassen sich kaum konkrete ethische Normen für den Einzelfall
ableiten. Die christliche Ethik fordert eine immer wieder neue,
geschichtlich bedingte Konkretisierung der Botschaft Jesu vom Reiche
Gottes, mit dem Hauptangebot der Gottes- und Nächstenliebe.
"So ist die Findung und Formulierung konkreter sittlicher Weisungen ein geschichtlicher Prozess, bei
dem der Kirche in ihren verschiedenen Gliederungen und Ämtern eine
wichtige Rolle zufällt." (F. Böckle, Fundamentalmoral, 1977,
Seite 322) Die Kirche als Lehrerin leistet einen doppelten Dienst:
Den einen bei der Wahrheitsfindung, an der die gesamte Kirche, also
die Gläubigen insgesamt, ihren Anteil hat, einen anderen im
besonderen Einzelfall bei der Entscheidung, ob eine das Sittengesetz
betreffende Wahrheit zum unveränderbaren Glaubensgut gehört.
(Böckle, Fundamentalmoral, Seite 323)
Die Notwendigkeit der Persönlichkeitsbildung für die
Gewissensbildung
Sieht man Gewissensentscheidung so, dann werden ganz neue
Voraussetzungen für die Gewissensbildung notwendig. Für sie ist
also nicht, wie man lange meinte, zuallererst "die Kenntnis der
Normen und ihrer ganz konkreten Bestimmungen notwendig" (vgl.
dazu die diesbezüglichen Forderungen bei J. Miller,
Gewissensbildung,1960, Seite 39). Sie muss sich vielmehr auf eine
umfassende Erziehung ausrichten, in deren Rahmen dann die Normen
eine bedeutende Entscheidungshilfe bieten. Zuerst geht es um die
Persönlichkeitsformung insgesamt. Weil das Gewissen im tiefsten
Seelengrund verwurzelt ist, teilt es das Schicksal der
Gesamtpersönlichkeit, ist gesund oder krank wie jene und in seinen
Äußerungen nicht selten symptomatisch für den Gesamtzustand eines
Menschen. Eine entsprechende Persönlichkeitsbildung wird zum Ziele
haben, den Menschen zu sich selbst zu führen, zum Grund seiner
Existenz. Für uns Christen bedeutet das, den Menschen hinzuführen
zu einer Begegnung mit Gott, um eben mit ihm allein sein zu lernen
und auf ihn hören zu können. Weiter wird es eine Erziehung sein
müssen zu Freiheit, Eigenständigkeit und Verantwortung.
Die Ausbildung des Gewissens erfordert Wissen
Nicht der widerspruchslose Respekt vor einer Autorität ist
Zeichen eines gesunden Gewissens, sondern die Fähigkeit, sich auch
unter Andersdenkenden ein eigenes Urteil zu bilden und selbständig
wohl begründete und jederzeit verantwortbare Entscheidungen zu
fällen. Das hinwieder setzt voraus: ein bestimmtes Sachwissen und
dann ein Hinführen zur Unterscheidung, Erziehung zu Freiheit und zu
selbständig verantwortungsvollem Handeln. Schließlich braucht es
zu einem rechten Gewissensentscheid eine klare Grundoption im Leben,
eine ganz bestimmte Welt- und Lebensdeutung. Es geht um das Erfassen
der vielen Zusammenhänge, um das Hindurchschauen durch bloß
äußere Erscheinungsformen. Bei dieser Deutung des menschlichen
Lebens und der Welt ist die Erfahrung anderer unersetzlich und wird
der Rat glaubender Menschen ein besonderes Gewicht haben.
Andererseits aber kann das Gewissen nur dann frei ansprechen, wenn
man ein rechtes Verhältnis zum Milieu hat, sich der vielfachen
Einflüsse der Massenmedien und der öffentlichen Meinung bewusst
wird, und sie als Herausforderung direkt annimmt. Zur Bildung und
Kontrolle des Gewissens gehört für den Christen wesentlich der
ständige Dialog mit Gott, vor dem die jeweiligen Entscheidungen
gefällt und auch bewusst verantwortet werden.
Die Sicherung der Freiheit religiöser Überzeugungen
Christliche Grundsätze waren durch Jahrhunderte in Österreich
auch durch staatliche Gesetze abgesichert. Früher war es das
Kaiserhaus, das nicht nur aus religiösen Motiven die Kirche
schützte, sondern auch für die Sicherung der Ordnung des Staates
die Kirche und damit auch ihre Moralgesetze nützte. Später war es
die christlich-soziale Partei, die sich weitgehend mit den
Grundsätzen der Kirche in ihren Programmen zu decken suchte. Man
denke an die sogenannte Systemzeit und z. B. an die damaligen
Ehegesetze. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde es wiederum
klar, dass hier ein Regime bewusst gegen die Kirche agierte. Aber
gerade Widerstand dagegen hatte auch eine Geschlossenheit auf der
christlichen Seite gebracht. Erst die letzten Jahrzehnte haben eine
immer größere Kluft zwischen christlichen Grundsätzen und
staatlichen Gesetzen entstehen lassen. Auf der anderen Seite hat
sich die Kirche selbst im sogenannten Maria-Zeller Manifest des
Katholikentages 1952 eindeutig für eine "freie Kirche in einer
freien Gesellschaft" ausgesprochen. Waren anschließend allein
durch die persönliche christliche Verantwortung der
Regierungsmitglieder der ÖVP die "Rechte" der Kirche
gesichert, werden sie heute immer spürbarer in Frage gestellt.
Daraus ergibt sich eine völlig neue Frage, wie nämlich christliche
Grundsätze in einer pluralen Gesellschaft noch durchgesetzt werden
können und wie der Christ bei seiner Mitwirkung in der Politik und
auch bei der Gesetzeswerdung handeln soll. Einige Probleme dieses
Dilemmas sollen noch aufgezählt werden, vor allem auch im Hinblick
auf den Islam, der - von seiner Sicht aus - konsequent die
religiösen Gesetze als vom islamischen Staat zu gewährleistende
einfordert.
Religiöse und gesetzliche Freiheit gehen nicht konform
In einer Welt, die sich nicht mehr als selbstverständlich
christlich erfährt, erlebt der Christ, dass die Kluft zwischen der
Moral öffentlicher Gesetze und der Ethik des Evangeliums immer
breiter wird. Christen sind heute in der Situation, in der sie
längst nicht mehr alle Möglichkeiten ausschöpfen dürfen, die
ihnen als Bürger rechtlich offen stehen (Glaube zum Leben, Seite
425). Ein österreichisches Beispiel bietet dafür die sogenannte
Fristenregelung. Umgekehrt kann es staatliche Gesetze geben, die
Tätigkeiten sogar unter Strafe verbieten, zu denen sich einzelne
aus ihrem Gewissen verpflichtet fühlen. Aktuelles Beispiel dazu
wäre der Umgang mit Asylanten, die ausgewiesen werden sollen, aber
in manchen besonderen Härtefällen aus christlicher Sicht Hilfe
beanspruchen dürfen. Diese Spannungen können den einzelnen
Christen oder seine Gemeinschaft treffen. Für den einzelnen wird
gelten, dass er nie tun darf, was allgemein und absolut für
schlecht erachtet wird. Die Gemeinschaft der Christen aber wird dort
zu protestieren haben, wo allgemeine Menschenrechte auf dem Spiel
stehen. Das Ziel könnte sein, durch diesen Protest doch noch mit
legitimen Mitteln diesbezügliche Gesetze zu verändern.
Einfluss der Kirche in der freien Gesellschaft
In der freien pluralen Gesellschaft hat die Kirche keine
Privilegien aufgrund ihrer Institution oder ihrer Würde, die sie
von ihrer Stiftung durch Jesus Christus ableiten könnte. Es stehen
ihr
dafür aber viele andere Mittel zur Einflussnahme zur Verfügung:
Die Effizienz hängt von ihrer moralischen (nicht lehramtlichen)
Autorität ab und von ihrer Überzeugungskraft, mit der sie der
Gesellschaft und dem einzelnen dadurch zu mehr Leben, mehr Freiheit,
mehr Selbstverwirklichung zu verhelfen mag und dadurch zu mehr
Lebenssinn, sogar angesichts von Krankheit, Misserfolg und Tod. Es
war auch für die katholische Kirche ein weiter Weg, sich aus allen
Versuchungen der Machtausübung herauszulösen ( was ihr übrigens
auch heute noch nicht überall gelingt; die Diskussionen in den
ehemaligen Ostblockstaaten machen dies wieder deutlich). Aus ihrer
Erfahrung aber weiß sie heute, welch furchtbare Folgen es haben
kann, wenn Religion als politisches Machtmittel verwendet oder
politische Macht "im Namen Gottes" ausgeübt wird. Dies
hat aber auch notgedrungen dazu geführt, dass der einzelne und die
christliche Gemeinschaft zur Verwirklichung ihrer Grundsätze andere
Mittel in der Gesellschaft ergreifen müssen, auch lernen müssen,
mitten unter Andersdenkenden "alternativ" zu leben. Gerade
in dieser Frage unterscheiden wir uns heute, was Religion und
Politik anlangt, wesentlich von der muslimischen Auffassung, nach
der die islamische Glaubensgemeinschaft auch als politisches Gebilde
unter dem Gesetz Gottes steht und damit das Gesetz des Korans
Grundlage allgemeiner Rechtsprechung ist (vgl. Khoury, Islam, Seite
175).
Zwischen verbindlicher Tradition und persönlicher Verantwortung
Der gläubige Christ ist immer mehr zu persönlicher Entscheidung
aufgerufen, braucht aber auch soziale Stützen. Diese bietet ihm
nicht mehr die Gesellschaft an sich, nicht der Staat, sondern eine
überschaubare Gemeinde Gleichgesinnter. Kirche weiß heute, dass
dadurch ihr Einfluss nicht geschwunden ist, sondern sich gewandelt,
als Ferment der Gesellschaft erweist. Sie ist weder irgendjemandes
willfährige Dienerin noch anmaßende Herrin über andere. Vielmehr
kann und soll sie als unbestechliches Gewissen des Staates und des
öffentlichen Lebens wirken. Ein Ideal, das längst noch nicht
verwirklicht ist. An der Kirche insgesamt, an ihren Amtsträgern und
den vielen Christen, auch christlichen Politikern, wird es liegen,
wie sehr wir in Österreich diesem Ziel näherkommen. Das wäre wohl
auch ein unmissverständlicher Beitrag zum Gespräch mit anderen
Religionen, insbesondere mit dem Islam und hätte Vorbildwirkung
beim geistigen Aufbau Europas.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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